Eingesperrt: Haftanstalten und Haftbedingungen in der DDR
Editorial zum H-und-G Schwerpunkt 4/24
Das Thema war umstritten, bevor die Redaktion richtig loslegte. Anlass war der Coverentwurf.
Ursprünglich war er „Haft-grau“. Ohne den farbigen Hintergrund vom Alexanderplatz. Kann man die DDR heutzutage noch so darstellen, angesichts der Debatten um die Vernachlässigung des doch vielschichtigen Alltags der DDR?
Ja, man kann. Keiner behauptet, die DDR sei in all ihren Facetten überall wie ihre Gefängnisse gestaltet gewesen. Aber einzusperren, im doppelten Sinne, war die Existenzbedingung des politischen System der DDR. Erstens galt das für die äußere Grenze. Als sie vor 35 Jahren durchlöchert wurde, sah die Zukunft der DDR eher schwarz als grau aus. Ihr Ende kam damit schneller, als je vorhergesehen. Bei aller Freude über das plötzliche und doch friedliche Ende des betongrauen Unikums der Geschichte darf die zweite Dimension des Wegsperrens nicht vergessen werden: Die Haft in der DDR bis in das Jahr 1990 hinein. Diese Grenze nach innen produzierte allein mit Hilfe des MfS von 1958-1988 jährlich zwischen 1079 und 2933 Verurteilte, die meisten wurden mit Hafturteilen bedacht. Dazu kam eine nicht unbedeutende Zahl von Personen, die aus politischen Gründen durch die Volkspolizei, die NVA und die Breitschafts- und Bahnpolizei zugeführt wurden. All dieser Repressionsaufwand hat die friedliche Revolution und das Öffnen der grauen Mauer letztlich nicht verhindern können. Man darf und soll über allerlei Facetten im bunten Alltag in der DDR reden und forschen können, so wie das auch unser Cover im Hintergrund andeutet. Indes versuchen wir in den Mittelpunkt dieser Ausgabe zu stellen, was einen der wichtigsten Herrschaftspfeiler des realen Sozialismus ausmachte.
Es ist auch deswegen durchaus angemessen und wichtig Haft bzw. haftähnlichen Einrichtungen zum Thema zu wählen, weil nicht Wenige heute die Schicksale und die Perfidie der Unterdrückungspraxis verharmlosen, verleugnen oder gar positiv wenden. Auch wenn das Thema immer noch nicht die Aufmerksamkeit genießt, die das Schicksal der Häftlinge verdient, ist es aber nicht vergessen. An die Folgen von Menschenrechtsverletzungen zu erinnern, tragen die Haftanstalten und Grenzkontrolleinrichtungen bei, die zum Teil der heutigen Gedenkstättenlandschaft geworden sind. Dieser Schwerpunkt soll das Seinige dazu beisteuern, einen Überblick, neue Forschungsstände und Anregungen für die Weiterarbeit zusammenzutragen. Regional stehen diesmal Berlin und Mecklenburg-Vorpommern im Mittelpunkt. Wir haben versucht, hier möglichst viele Orte zu berücksichtigen, an denen Menschen weggesperrt wurden, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Die meisten der hier vorgestellten Anstalten sind heute etablierte Gedenkstätten und Dokumentationsstätten, die sich eines wachsenden Besucherinteresses erfreuen. Sie stehen vor der Herausforderung sich zeitgemäß weiterzuentwickeln. Andere müssen um die Anerkennung als Gedenkort streiten und aufwändig diskutieren, wie der Fall am Neubrandenburger Lindenberg zeigt. Wieder andere ringen um die versprochene bestandserhaltende Förderung, wie die ehrenamtlich zustande gekommene Gedenkstätte in Neustrelitz (Töpferstraße). Wieder andere sind verschwunden, drohen in Vergessenheit zu geraten oder sind bislang "unentdeckt". Die Beiträge von Bersch und Dirksen schließen hier wichtige Lücken. Aber es bleiben viele Fragen offen und manche Orte unterbelichtet. Sie müssen der weiteren Forschung vorbehalten sein.
Unser Kooperationspartner, der Verein Gedenkort Neubrandenburger Lindenberg - Stasi - Untersuchungshaftanstalt e.V., hat sich diesmal um die Artikel in Mecklenburg Vorpommern gekümmert. Dank an Prof. Julia Weber und Prof. Kai Brauer. Da ihr Verein personell mit der Hochschule Neubrandenburg verknüpft ist und dort auch Seminare und Lehrforschungsprojekte zum Thema umgesetzt werden, verdanken wir der Zusammenarbeit ein Experiment. Wir dokumentieren Studentenarbeiten, die im Weiteren zu Themen mit Haftbezug im Rahmen des Studiums entstanden sind. Es zeigt sich, dass es durchaus möglich ist, in Studiengängen der Sozialen Arbeit DDR-Aufarbeitungsinhalte zu integrieren. Dies ist auch deswegen sinnvoll, um das Bewusstsein über Unterschiede zwischen heutigen Methoden der sozialen Arbeit gegenüber denen in einer Diktatur zu schärfen. Es zeigt sich aber auch, dass es für die Studentinnen offenbar nicht einfach ist, zu dieser Welt einen adäquaten Zugang zu erhalten. Zum einen werden in der schulischen Sekundarstufe offenbar zu wenig Grundlagen vermittelt und zum anderen fehlt ein ausreichender Fundus an ansprechender Lehr- und Sekundärliteratur zum Thema. Da Multiplikator*innen wie Fachkräfte der Sozialen Arbeit, der Erziehung und Pädagogik in einer Demokratie Grundwissen zur jüngsten Geschichte kennen und ggf. vermitteln können müssen, stellt sich hier ein Ausbildungsbedarf dar, der auf jene Darstellung der Unterdrückungspraxis durch freiheitsentziehende Maßnahmen wie in der DDR nicht verzichten darf. Das gilt für Mecklenburg-Vorpommern wie sicher auch für alle Bundesländer und natürlich auch die Bundeshauptstadt Berlin.
Die Regionalen Schwerpunkte Berlin und Mecklenburg-Vorpommern wurden auch durch der Förderung durch die beiden Landesbeauftragten, für die wir uns an dieser Stelle bedanken, möglich.
Ergänzend zu den regionalen Institutionen haben wir Themen gewählt, die sich genauer mit Haftbedingungen und Haftfolgen beschäftigen. Erstmals werden Frauen mit einem Gedenkort in Hoheneck speziell an einem Haftort gewürdigt (Zupke), erstmals beschäftigt sich auch die Forschung genauer mit Frauen in Haftanstalten. (Heidenreich; Klewin)
Gesundheitlichen Auswirkungen der Haft sind ein aktuelles Thema. Die derzeitigen Entschädigungsdiskussionen im Bundestag (s. Schwerpunkt 3/24) werden auch auf Basis von neuen Studien diskutiert (Maslahati), angestrebt wird eine Beweisumkehr, die Häftlingen die Anerkennung von Häftlingsfolgeschäden erleichtert. Haftbedingungen kommen unter neuen Aspekten in den Blick, Suizide sind erst anfänglich erforscht (Erler). Zur Zwangsarbeit wird auch im Zusammenhang mit der Frage der Entschädigung durch private Unternehmer aus dem „Westen“ nach Belegen für deren heimliche Kooperation mit dem DDR-Zwangssystem geforscht. (Keup, Mischel)
Das Schicksal von Jugendlichen in den verschiedenen Zwangs-Unterbringungseinrichtungen gerät immer mehr in den Fokus. (Grashoff) Auch das Thema Asozialität und die Frage seiner Einordnung in die klassische politische Repression ist keineswegs abgeschlossen (Gerhardt). Ob man von Zwangsadoption sprechen kann oder besser vom politische motivierten Kindesmissbrauch, wird kontrovers gesehen, aber zunehmend unter dem zweiten Aspekt eingeordnet. (Wiethoff) Das Thema ist oft mit Haft verbunden, wenn Eltern eingesperrt oder die Kinder in haftähnliche Einrichtungen verbracht wurden.
Architektur von Repressionsorganen sagt vieles über deren Funktion und Selbstverständnis aus. (Albrecht, Chmelnitzky)
Ein Artikel erinnert an die politische Haft zu kommunistischen Zeiten im ehemaligen Nachbarland CSSR.(Pinerova) . Die Schriftstellerin Grit Poppe steuerte freundlicher Weise einen Auszug aus ihrem neuesten Buch über Haftschickale Jugendlicher im Nachkriegssystem Ostdeutschlands bei. In der späten DDR schien sich das Haftregime durch den Freikauf aufzuweichen, das Notaufnahemlager Giessen (Laak) war wie Marienfelde in Westberlin (Effner) Hoffnungspunkt und Start in eine neue Zukunft für viele Politische. Doch wie empfand man das Exil? (Auerbach)
Anders als nach den Revolutionen im kommunistischen Herrschaftsbereich vor 35 Jahren zu erwarten, ist die politische Haft in autoritären postkommunistischen System in Europa auf dem Vormarsch. Marianne Birthler erinnerte im Rahmen ihrer Rede vom 9. Oktober stellvertretend an das Schicksal der belarusischen Opposition. Da die Art der Haft auch ein Symbol der jeweiligen Herrschaft ist, ist es plausibel, dass es inzwischen auch ein Netzwerk zur Erforschung der Haft in Europa gibt. (Bonhomme)
Kontroverse Rezensionen beschäftigen sich mit dem Buch Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute von Ilko-Sascha Kowalczuk.
Für die Herausgeber und Redaktion
Martin Böttger, Christian Booß, Prof. Kai Brauer, Prof. Julia Weber und Uta Gerlant, Michael Kubacki
Gefördert von den Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur in Mecklenburg Vorpommern und Berlin

