Der Zellentrakt in der Keibelstraße. Zu Geschichte und Potential eines bedeutenden Haftorts

von Carlos Römer1

Der Zellentrakt in der Keibelstraße. Zu Geschichte und Potential eines bedeutenden Haftorts

Politisch begründete Haft war eine der wesentlichsten und gefürchtetsten Stützen des SED-Regimes. So wurden vor allem die Repressionsorte des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) eingehend erforscht und vielerorts zu weithin bekannten Gedenkstätten umgestaltet. An prominentester Stelle sei auf das zentrale Untersuchungsgefängnis in Berlin Hohenschönhausen verwiesen. Andere Haftstätten erfuhren jedoch verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit. Zu lange hatten sich zeithistorische Auseinandersetzung und Erinnerungskultur exklusiv auf das Wirken der Geheimpolizei konzentriert.2

Ein heute weitgehend unbekannter Ort findet sich im Herzen der Hauptstadt. Unweit des Alexanderplatzes existierte seit 1951 die Untersuchungshaftanstalt (UHA) II.3 Sie bestand aus sieben Etagen. Diese umfassten 140 Zellen.4 Laut offiziellen Angaben, konnten bis zu 209 Inhaftierte aufgenommen werden.5 Die maximale Kapazität wurde jedoch immer wieder überschritten. Allein für Herbst 1988 ist die Zahl von 288 Gefangenen überliefert.6

An das Präsidium der Volkspolizei (PDVP) angeschlossen, war das zentrale Berliner Gefängnis für weite Teile des Stadtgebiets zuständig. Zum großen Einzugsbereich zählten unter anderem die Bezirke Prenzlauer Berg, Mitte und Pankow.7

Bisher lassen sich keine genauen zahlenmäßigen Angaben zu politischen Inhaftierungen in der Keibelstraße machen. Gleichwohl ist die Quellenlage zu den 1970er und 1980er Jahren gut.8 Aus zahlreichen Dokumenten des Stasiunterlagenarchivs, Tätigkeitsbüchern und Zeitzeugeninterviews lässt sich ein aussagekräftiges Bild gewinnen.

Die Einlieferungsgründe waren vielfältig. Sie repräsentieren die Bandbreite politischer Verfolgung in der DDR. Häufig anzutreffen war § 213 STGB-DDR („ungesetzlicher Grenzübertritt“).9 Darüber hinaus erfolgten zahlreiche Festnahmen nach § 215 („Rowdytum“) und § 248 („Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch asoziales Verhalten.“)11. Aufgrund ihrer Verantwortlichkeit für die NVA saßen zudem viele Wehrdienstverweigerer in der UHA II ein.12

Als reguläres Untersuchungsgefängnis fiel die UHA II. in den Zuständigkeitsbereich des Ministeriums des Innern (MdI).13 Darüber hinaus war auch das MfS involviert. Im PDVP hatte die Linie IX. der Berliner Bezirksverwaltung für Staatssicherheit ( BV) eine Repräsentanz.14 Große Bedeutung kam dem „Zentralen Zuführungspunkt“ bspw. 1977 zu. Allein im Nachgang der Jugendproteste anlässlich des 28. Republikgeburtstages wurden insgesamt 62 Personen inhaftiert.15

Der Haftalltag war streng reglementiert. In der Regel verbrachten die Gefangenen 23 ½ Stunden auf ihren, zumeist mit zwei Insassen belegten, Zellen.16 Grundsätzlich konnten sie einmal in der Woche Bücher ausleihen.17 Abgesehen hiervon, bot lediglich der 30-minütige Freigang auf dem Gefängnisdach eine zeitweilige Unterbrechung. 18 Dieser durfte nicht zu Gesprächen genutzt werden.19 Auch gegen Kontaktaufnahmen zwischen den Zellen schritten die Wachmannschaften rigoros ein.20 Verstöße gegen die Haftordnung wurden mit ernsten Konsequenzen sanktioniert. Im äußersten Fall mussten die Häftlinge Arrest befürchten.21 Somit liefen die Haftbedingungen in der UHA II. auf weitgehende Isolation hinaus.

Diesbezüglich ergeben sich weitere Fragen. Wie groß war der Einfluss des MfS auf den Vollzug? Wurden etwa strenge Einzelhaft und Medienentzug auch in der Keibelstraße als Druckmittel eingesetzt? Gab es ein ausgeprägtes Zelleninformatorensystem?

Aus diesem Grund bietet sich ein Zeitzeugeninterview mit einem Angehörigen der Linie IX an. Mögliche Ansatzpunkte für eine Recherche wären Kontakte zu ehemaligem Leitungspersonal der juristischen Hochschule des MfS in Potsdam. Ein solches Gespräch könnte die aus MfS-Sicht notwendigen Mittel psychischer Gewaltanwendung aufzeigen.

Zu fragen wäre auch nach physischen Übergriffen. Vereinzelt ist von Schlägen und anderen Attacken durch Vernehmer und Wachmannschaften die Rede.22

Besonders deutlich tritt die Rolle der UHA II als Gefängnis einer Diktatur in den regelmäßig stattfindenden Vernehmungen zutage. In ihrem Recht auf Verteidigung drastisch eingeschränkt,23 standen die Verhafteten den Ermittlern von MfS und Kriminalpolizei hilflos gegenüber. Deren Druckausübung24 zielte auf Geständnisse ab.25 In diesem Zusammenhang berichten u.a. zwei ehemalige Insassen von langen nächtlichen Verhören.26

Mit dem Untergang der DDR geriet auch das Ost-Berliner Polizeigefängnis schnell in Vergessenheit. In der Nachwendezeit fungierten Teile des Hafttrakts noch als Abschiebehaft.27 Es folgten einige Filmproduktionen. Ein bekanntes Beispiel unter ihnen ist der Actionfilm „Half Past Dead“ (2002).28 Einer breiteren Öffentlichkeit war der Ort jedoch nicht mehr bekannt.

Erste Ansätze eines Ausbaus zur Gedenkstätte gibt es seit einigen Jahren. 2010 legte Tom Sello eine Machbarkeitsstudie vor.29 In Form von Zeitzeugenlisten, Archivrecherchen und kompakten Zusammenfassungen liefert diese eine erste wertvolle Bestandsaufnahme. Eine vertiefte Analyse steht gleichwohl noch aus.

Es folgte die Eröffnung des, von der Agentur für Bildung e.V. betriebenen, Lernorts Keibelstraße.30 Unter anderen mittels Zeitzeugenbegegnungen und Lernangeboten wird hier die autoritäre Herrschaftsordnung der DDR veranschaulicht.31

Bereits mit Beginn der Planungen wurde die langfristige Verantwortung der Stiftung Gedenkstätte Berlin Hohenschönhausen anvertraut.32 Diesbezüglich stellen sich Fragen nach einer möglichst optimalen Nutzung. Wie kann das Potential des ehemals bedeutenden Repressionsorts voll ausgeschöpft werden?

Eine Möglichkeit bestünde in einer Intensivierung der Zeitzeugenarbeit. Da sich die Recherchen nach wie vor im Anfangsstadium befinden, sind bisher relativ wenige gesprächsbereite Häftlinge verfügbar. Daher wäre bspw. ein Wiederaufleben der Zusammenarbeit mit der, aus ehemaligen Insassen bestehenden, Initiativgemeinschaft ehemaliges Polizeigefängnis Keibelstraße empfehlenswert. Darüber hinaus sollte auch eine Einbindung der Opferverbände erfolgen. Im Hinblick auf eine umfassende Aufarbeitung bieten solche Kooperationen viele Chancen. Es böten sich bspw. Kontaktaufnahmen zu noch lebenden Zeitzeugen der 1950er Jahre an. Eine erinnerungskulturelle Auseinandersetzung mit der Rolle des Gefängnisses im Zuge des 17. Juni 1953 wäre so möglich.

Wie bereits Hubertus Knabe zurecht betonte, bietet die zentral gelegene Keibelstraße viele Chancen.33 Im verhältnismäßig gut erhaltenen Zellentrakt könnten Zeitzeugen ihre Sicht der Dinge vermitteln. Ob in eigenen Führungen oder, wie bisher, im Rahmen von fachlich-pädagogisch eingebetteten Formaten34 wird zu entscheiden sein.


1 Masterstudent der Geschichte und Europäischen Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Hebrew University of Jerusalem, sowie studentischer Mitarbeiter der Robert-Havemann Gesellschaft/Infopoint Haus 22 – Campus für Demokratie.

2 Reible. Cecilia (Mod.), BAB-Cast, Folge 9, Pläne für die Keibelstraße. Was wird aus der früheren U-Haftanstalt am Alex, https://www.youtube.com/watch?v=aGpqTzLf5i0, (zuletzt aufgerufen am 21.07.2024)

3 Vgl. Haverkamp, Jan, Die Untersuchungshaftanstalt Keibelstraße, in: LaG Magazin, Vol. 19, 2019, Polizei in der DDR, S. 16-23., S. 16.

4 Vgl. Sello, Tom, Präsidium der Volkspolizei und Untersuchungshaftanstalt II. Berlin, Berlin, 2012, S. 27.

5 Ebd., S. 29.

6 LAB C. Rep. 326, Nr, 61., zit. nach Sello, Untersuchungshaftanstalt II., S. 29.

7 LAB C. Rep. 326, Nr. 126, Auskunftsbericht., Bl. 2.

8 Vgl. Haverkamp, Jan, Die Untersuchungshaftanstalt Keibelstraße in LAG Magazin, Bd. 10., 2019., Polizei in der DDR, S. 16-23., S. 16.

9 Vgl. Wunschik, Tobias, Honeckers Zuchthaus, Brandenburg-Görden und der politische Strafvollzug der DDR, 1949-1989, Berlin, 2018, S. 14, 17

11 Vgl. Römer, Carlos, Das Ost-Berliner Untersuchungsgefängnis in der Keibelstraße, Grundlegende Überlegungen zu einem bisher unerforschten Haftort, Unveröffentlichte Hausarbeit, Berlin, 2023, S. 7., Lang Fuentes, Ruth, Ehemaliger Knast als Lernort, Wo Die Rowdys landeten, https://taz.de/Ehemaliger-Knast-als-Lernort/!5863125 (zuletzt aufgerufen am 16.08.2024. )

12 Vgl. Haverkamp, Untersuchungshaftanstalt Keibelstraße, S. 17.

13 LAB C. Rep 326 Nr. 126, Auskunftsbericht., Bl. 2.

14 Vgl. Haverkamp, Untersuchungshaftanstalt Keibelstraße, S. 16.

15 BStU, MfS, Abt. XIV Nr 45, Bl. 35., zit. nach: Meier Nadine, Die MfS-Untersuchungshaftanstalt Berlin Pankow, Gefängnisalltag in der DDR der Achtziger Jahre, S. 34.

16 Vgl. Bericht über schwere Vorkommnisse – Ausschreitungen, Rowdytum im schweren Fall – anlässlich des Volksfestes zum Nationalfeiertag der DDR in der Hauptstadt der DDR Berlin, in: BArch, MfS, HA IX./Mf./Dok., Nr. 12810., Bl. 4.

17 Vgl. Haverkamp, Untersuchungshaftanstalt Keibelstraße, S. 17ff.

18 Ebd., S. 18.

19 Ebd.

20 Vgl. Lernort Keibelstraße, Transkript Rainer Buchwald, Interview vom 4.02.2020, S. 55.

21 Vgl. Haverkamp, Untersuchungshaftanstalt Keibelstraße, S. 19.

22 Ebd.

24  Ebd.; Kammergericht Berlin, Beschluss, https://unrecht.blog/wp-content/uploads/2016/08/kammergericht_beschluss_vom_06-08-2015_rehabilitierung_ddr-unrecht.pdf (zuletzt aufgerufen am 16.08.2024. )

24 Vgl. Haverkamp, Untersuchungshaftanstalt Keibelstraße, S. 19.

25 Vgl. Römer, Keibelstraße, S. 18.

26 Vgl. Lernort Keibelstraße, Transkript Horst Galle, interview vom 16.12.2021, S. 17.

27 Vgl. Interview vom 8.05.2024, S. 18., Mrazek, Falk, Erwachsenwerden hinter Gittern, Als Teenager im DDR Knast, Leipzig, 2020., S. 69 ff., Interview vom 26.03.2024, S. 5.

28 Vgl. Haverkamp, Untersuchungshaftanstalt Keibelstraße, S. 19.

29 Ebd.

30 Sello, Tom, Historischer Lernort, Präsidium der Volkspolizei Untersuchungshaftanstalt II. Berlin, Berlin, 2012.

31  Lernort Keibelstraße, Home, https://www.keibelstrasse.de/ ( zuletzt aufgerufen am 19.11.2024)

32 Lernort Keibelstraße, Sekundarstufen, https://www.keibelstrasse.de/sekundarstufen/ (zuletzt aufgerufen am 25.06.2024. )., Lang Fuentes Ruth, Ehemaliger Knast als Lernort, Wo die Rowdys landeten, https://taz.de/Ehemaliger-Knast-als-Lernort/!5863125/ (zuletzt aufgerufen am 19.11.2024)

33 Stiftung Gedenkstätte, Berlin-Hohenschönhausen, Erinnerungsort Keibelstraße, https://www.stiftung-hsh.de/themen/erinnerungsort-keibelstrasse (zuletzt aufgerufen am 19.11.2024)

34 https://www.deutschlandfunkkultur.de/guenter-doering-zeitzeuge-der-ddr-polizeiwillkuer-100.html ( zuletzt aufgerufen am 16.12.2024)., https://www.zeitzeugen-portal.de/personen/zeitzeuge/joachim_fritsch/videos/ahxoBZ7lkMM ( zuletzt aufgerufen am 16.01.2024).,

35 Schütz, Jutta, Berüchtigtes DDR-Gefängnis, Was wird aus dem Knast in der Keibelstraße?. https://www.berliner-kurier.de/archiv/beruechtigtes-ddr-polizeigefaengnis-was-wird-aus-dem-knast-in-der-keibelstrasse-li.2142105 (zuletzt aufgerufen am 19.11.2024) )

36 Lernort Keibelstraße, Sekundarstufen https://www.keibelstrasse.de/sekundarstufen/ ( zuletzt aufgerufen am 19.11.2024)

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