GEFÄNGNIS-GEDICHTE
Von Utz Rachowski
traum
nachts
ich wär’ eine wolke
aus traurigkeit
mit wasser und salz
würd’ mich
verweinen
über deutschland
September 1979
Erstes Verhör
Worte waren
ihre
einzige Waffe.
Sie
wehrte sich:
sie schwieg.
28.9.79
Im Untersuchungs-Gefängnis Karl-Marx-Stadt der „Staatsicherheit“ (Stasi) durfte man in der Zelle nicht schreiben. Unter Aufsicht des Vernehmers, direkt im Verhörzimmer in seinem Beisein, konnte man pro Monat einen Brief nach Hause schreiben. Der Brief wurde nochmals von einem Staatsanwalt kontrolliert. An andere Adressen durfte man nicht schreiben.
Ich verbrachte dort sieben Monate in Untersuchungshaft. Gedichte komponierte ich im Kopf und behielt sie dort bis zu meiner Freilassung
Im Gefängnis Cottbus (Strafvollzug) durfte man lediglich auch nur Briefe an die Familie schreiben, es war strengstens verboten, Aufzeichnungen anderer Art zu machen.
Während die Häftlinge in der Fabrik auf dem Gefängnisgelände arbeiteten, wurden regelmäßig die Zellen gründlich durchsucht, vor allem auch nach Notizen, Zeichnungen usw. Hier im Strafvollzug jedoch schrieb ich meine Texte kurzfristig und vorübergeghend auf, lernte sie auswendig und vernichtete die Zettel möglichst bald wieder. Ich versteckte sie über eine Zeit in der Kleidung am Körper.
In Westberlin, nach meiner Abschiebung aus dem Gefängnis am 20. November 1980, nahmen mich Lilo und Jürgen Fuchs sofort in ihre Wohnung auf, ich schloss mich ein die ersten Tage in mein Zimmer und schrieb, als sei ich noch immer gejagt, hastig die Texte auf aus meinem Kopf. Darunter auch den Plan für ein Hörspiel. Damit die Texte und auch die Täter nicht meinem Vergessen anheim fielen.
Das damals so entstandene Hörspiel heißt „Die Blicke der Nachbarn“ und wurde 1983 vom Saarländischen Rundfunk produziert und ausgestrahlt, später vom Sender Freies Berlin, und nach 1990 auch vom Mitteldeutschen Rundfunk gesendet.
Die Gedichte aber blieben größtenteils unveröffentlicht.
Selbststeller
Bekleidet
mit meinem Steckbrief
übergebe ich
dem Staatsanwalt
die entsicherte
Kopie
eines Einfalls
und sage
ich bin auch dafür
1979
Initialen
einer Stehzelle
Jacky, ich liebe Dich!
Deine Bianca
Jena VIII
rote Grütze!
Ich - ?
Dichter der Liebe
Warte nicht auf bessre Zeiten!
DDR BR (beides durchgestrichen: DDR mit: // und BR mit Querstrich) D (blieb stehen)
Mach’s gut Made!
Egon
Anfang 1980
(Gelesen an einer ölfarben-gelben Zellenwand; eingeritzt mit Fingernagel bzw. mit einer Plastikmarke, die man bekam, wenn man zum Verhör geführt wurde.
Die Zelle war nur 1m x 1,120m groß.)
Kassiber für M.
Als
du ins Gefängnis
gingst
vergrub ich mein Herz
und nur du weißt
die Stelle
September 1979
Golgatha
Sonne!
Junge Orange am Strauch
meiner Sehnsucht.
Sonne!
Dort der Weg über Staub
den Hügeln des Horizonts
folgt
Veronika.
Sie trägt das Kreuz.
Sonne!
Dort der Weg unter Stahl
zur Freistunde
geht
M.
Sie trägt die grünen Streifen.
Sonne!
Geflüster des Staubs
in meinen Augen.
Sonne!
Zwischen einem Zug Sehnsucht
und dem anderen
stirbt sie mittags
im Staub.
(1979)
Immer klimmen die weißen Mauern der Stadt.
Unter Dornenbogen
O mein Bruder klimmen wir blinde
Zeiger gen Mitternacht.
(Georg Trakl)
Bruder wenn
deine Liebste
noch schläft
hinter Glasziegeln
ich hab‘ es gehört
um Vier in der Früh
in Karl-Marx-Stadt
lassen sie
die Motoren an.
Steh auf Bruder! vor der Dämmerung
und beschütze den Traum
deiner Liebsten, flieh.
Meine Mutter
ließ einen Apfel
fallen
gab Geld ein Stück
Brot biss ich an
und ließ es Pompeji.
Herren standen
im Zimmer und
wühlten in Büchern
die sich die Augen
zuhielten und
schrieen als
man ihnen die Zungen
ausriss die
zwischen
den verbotenen
Seiten lagen.
Bruder entferne
den Kuss
vom Hals der Geliebten
vom Fenster
den Blick
die Lippen
vom Mund
wenn deine Liebste noch schläft
Bruder! um Vier in der Früh
lassen sie die Motoren an.
(endgültig aufgeschrieben erst im Frühjahr 1981)
MEIN LIEBLINGSTIER
Jetzt
haben sie die Katze aus dem Sack gelassen
schrie der Richter
Jetzt
fällt sie auf die Pfoten
denke ich
sieht in der Dunkelheit
durch
hat sieben Leben
Jetzt
nenne ich sie
Wahrheit
(Dezember 1980)
DER HASE
Haken schlug ich
an die Kreuze
dieses Gitters
Karl-Marx-Stadt
Erdgeschoss
Verwahrraum sechs
nah war ich
den Wurzeln
die mich fraßen
(Januar 1981)
An die Sonne
erinnere ich mich
genau
an einen Abend
als sieben Tauben
das Brot der Wahrheit
fraßen
das ich
ihnen brach
An die Sonne
am Abend erinnere
ich mich und
wie die Augen brannten
danach
Nur
die Schatten
des Gitters
in meinem Gesicht
sind
ohne Erinnerung
(Ende November 1980)
Cottbus-Elegie
Steh’ ich an meiner Maschine
und ich träume ich wär’ ein Baum
der dich einatmet
wie einen Regen
Steh ich an meiner Maschine
und denke daran
dass nichts blüht
wenn es nicht sterben kann
Steh ich an meiner Maschine
und ich träume es gäb’ einen Tag
der nach der Nacht einen Morgen
mit deiner Wärme hat
(an der Drehmaschine in meinem Kopf entstanden, aufgeschrieben
im Frühjahr 1981; wir mussten zwangsweise im Schicht-System arbeiten, wahrscheinlich auch für IKEA-Möbel)
Nänie
Wenn mein Herz ein Stück Eisen
und die Lippen ein kalter Draht
wirst du nicht fragen wie der geheißen
der sein Glück wie ein Zündholz austrat
Aber ich sah dich noch liegen
auf Wiesen am Himmel entlang
und wollte die Nächte nicht wiegen
als wir uns sagten wir seien nicht bang
Das waren am Anfang die Jahre der Sonne
Das waren am Ende die Jahre vor Gittern
(1980, aufgeschrieben 1981)