Ein Plädoyer für die Forschung zu DDR-Haftarbeit.
Bedeutung und Schwierigkeiten der Lieferkettenrekonstruktion am Beispiel des Elektromotoren-Komplexes[1]
Von Markus Mirschel[2]
Erinnerungsliteratur, Biografien und Erlebnisberichte von Geschädigten durch Haft- und Zwangsarbeit in der DDR sind Legion. Über das Ausmaß des Einbezugs politischer Häftlinge hingegen, über die Verflechtung zwischen den produzierenden Betrieben der DDR-Planwirtschaft bei der Beschäftigung von Häftlingen, über die sogenannten Zwischenhändler oder die Einbindung in den Markt der Bundesrepublik Deutschland lassen sich nur wenige valide Aussagen treffen. Noch haben Historiker die Chance, Zeitzeugen zu befragen und im Quellenstudium die Aufarbeitung historischen Unrechts voranzutreiben. Aktuell liegen Untersuchungen zu den Bedingungen der Haft- und Zwangsarbeit in den Strafvollzugsanstalten (StVA) bzw. später den Strafvollzugseinrichtungen (StVE) in der DDR, zu den davon profitierenden Volkseigenen Betrieben (VEB) und auch zu den Strukturen des mit ihnen verbundenen DDR-Außenhandels vor. Doch mehr ist möglich und vor allem nötig.
Die Gründe für eine fehlende Aufarbeitung sind multikausal. Sie sind weniger dem fehlenden Willen seitens der Wissenschaft geschuldet – vom Wunsch der Geschädigten nach Aufarbeitung ganz zu schweigen – als vielmehr fehlendem Quellenmaterial, der Fülle an zu untersuchenden Institutionen und dem damit verbundenen hohen (monetären) Aufwand für vertiefende Studien. Zudem scheuen einige Rechtsnachfolger ehemaliger Volkseigener Betriebe die Aufarbeitung, um nach der oft schwierigen Transformation und dem zum Teil erfolgreichen Übergang in die Marktwirtschaft der eigenen Geschichte keinen negativen Stempel aufzudrücken. Etwaiges Material wird in den Archiven selten nachgefragt und ist daher zum Teil nicht archivarisch erschlossen oder erst gar nicht an die staatlichen Archive übergeben worden. Weiterhin ist der Zugang zu jenem Quellenmaterial nicht immer ohne weiteres möglich, welches sich nach wie vor in den Archiven des heutigen Strafvollzugssystems befindet – so sind Quellenbestände in der Brandenburgischen Justizvollzugsanstalt (JVA) Luckau-Duben durch wissenschaftliche Untersuchungen erst kürzlich eruiert worden. Dank positiver Signale dieser JVA könnte es in Zukunft möglich sein, in den dort überlieferten Beständen zur Haft- und Zwangsarbeit der StVA/Jugendhaus Luckau zu recherchieren.[3] Weit schwieriger entwickelt sich der Zugang zum Quellenmaterial mit Blick auf die bundesrepublikanischen Endabnehmer von im Strafvollzug der DDR gefertigten oder teilweise gefertigten Produkten. Das Eingeständnis des IKEA-Konzerns, von der Produktion in DDR-Gefängnissen profitiert zu haben, ist aktuell die Ausnahme. Eine umfassende Aufarbeitung setzt den Willen der damaligen Endabnehmer von DDR-Erzeugnissen in der Bundesrepublik zur Mitarbeit voraus, ebenso wie eine konstruktive Position der Rechtsnachfolger ehemaliger DDR-Betriebe zur eigenen Geschichte.
Um so wichtiger bleibt es, gezielt Lieferketten in den Blick von Untersuchungen zu nehmen, um so den Nachweis wirtschaftlicher Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zu erbringen und daraus Belege für den aus Haftarbeit erwirtschafteten Profit zu erbringen. Gleichzeitig beleuchten nachgewiesene Lieferketten marktwirtschaftliche Strukturen in der DDR-Planwirtschaft. In sich geschlossene wirtschaftliche Wechselbeziehungen – zwischen Erzeuger und Endverkäufer – untermauern den Nachweis von Zwangsarbeit im Strafvollzug der DDR für Exportgüter in die Bundesrepublik oder das sogenannte Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet (NSW). Schlussendlich dienen Lieferketten dem Nachweis, welche Produkte und/oder sogenannte Beilieferungen in welchen Umfang, unter welchen Bedingungen und für welchen Endabnehmer produziert wurden.
Zwangsarbeit in der DDR und ihre rechtliche Bewertung
Seit den 1950er Jahren regulieren internationale Übereinkommen im Bereich der Menschenrechte auch die Gefangenenarbeit. Die Zwangs- und Pflichtarbeit unterlag hier einem stetigen normativen Wandel. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) als Sonderzusammenschluss innerhalb der Vereinten Nationen (UN) band die Menschenrechte an die ausgeführte Arbeit. Nach der ILO Konvention 29 sollte Zwangsarbeit völlig abgeschafft werden. Auf dem Weg zum Maximalziel wurden bestimmte Gruppen an Gefangenen, die Arbeit unter Zwang zu verrichten hatten, besonders adressiert. Zwangsarbeit durfte nicht als Repressionsmaßnahme gegen politische Gegner oder Religionsangehörige oder zu deren Bestrafung eingesetzt werden. In Artikel 1 der ILO 105 von 1957 ist vereinbart, dass Arbeit nicht »als Mittel politischen Zwanges oder politischer Erziehung oder als Strafe gegenüber Personen, die gewisse politische Ansichten haben oder äußern oder die ihre ideologische Gegnerschaft gegen die bestehende politische, soziale oder wirtschaftliche Ordnung bekunden«[4], eingesetzt werden dürfe. Ferner ist es untersagt, eine Zwangs- und Arbeitspflicht primär zu volkswirtschaftlichen Zwecken einzusetzen.
Die DDR unterzeichnete zunächst keine der internationalen Regeln, was auch die »Mindestgrundsätze zur Behandlung von Gefangenen« ausschloss. Bis zum Jahr 1968 wurde die Zwangsarbeit im Strafvollzug der DDR ohne eine rechtliche Grundlage durchgesetzt, was sich mit dem Strafvollzugsgesetz der DDR vom 12. Januar 1968 änderte. Arbeitsfähige Strafgefangene wurden ab diesem Zeitpunkt auch formal zu Arbeitsleistungen verpflichtet. Auch wenn zur damaligen Zeit eine verpflichtende Arbeitsleistung nach internationalem Recht durchaus zulässig war, durfte diese jedoch nicht planmäßig für die Volkswirtschaft und/oder gegen politische Häftlinge angewandt werden. Im Kontext des KSZE-Prozesses sah sich die DDR gezwungen, ein Geschäft der Eingeständnisse zu tätigen und unterzeichnete schließlich 1977 die sogenannten Mindestgrundsätze um den »Korb 3 - ›Menschenrechte‹«. In der Praxis kam die DDR ihrer Berichtspflicht zur Einhaltung der Bestimmungen nur eingeschränkt nach. Wer also mit der DDR Handel trieb und Produkte aus der DDR importierte musste damit rechnen, dass diese mittels geächteter Zwangsarbeit im Strafvollzug hergestellt worden waren.
Ab den 1950er Jahren wurden bis zum Ende der DDR jedes Jahr zwischen 15.000 und 30.000 Häftlinge zur Arbeit gezwungen. Vorrangig kamen sie dort zum Einsatz, wo zivile Arbeitskräfte aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen nicht arbeiten wollten. Ein Charakteristikum der Haftarbeit war, dass Arbeitsbereiche im Strafvollzug zwar bedingt technisch aufgewertet wurden, doch wo in den zivilen Bereichen auch moderne Produktionsmittel eingesetzt wurden, blieben die Arbeitsprozesse in den Gefängnissen von Handarbeit geprägt.
Der »ELMO-Komplex«
Neben den im öffentlichen Bewusstsein der »Nachwendezeit« stärker verankerten Industriebereichen wie der Textilindustrie (»Esda-Komplex«), in der Damenstrumpfhosen verschiedener Marken für den Export in die Bundesrepublik produziert wurden[5] oder der Möbelindustrie, welche durch die öffentlichen Eingeständnisse des IKEA-Konzerns breite mediale Aufarbeitung fand, sind die Produkte des Kombinats VEB Elektromaschinenbau Dresden wenig bis gar nicht untersucht worden. Der sogenannte ELMO (Elektromotoren)-Komplex bündelte Erzeugnisse, die einen wichtigen Bestandteil der DDR-Exportwirtschaft bildeten. Die Ausfuhr an »Standard- und Kleinstmotoren« entwickelte sich bis zum Ende der 1980er Jahre zu einem wichtigen Devisengeschäft. Das Kombinat in Dresden koordinierte inklusive des Stammbetriebs VEB Sachsenwerk Niedersedlitz (SWN) dreizehn VEB. Wichtig waren hierbei jene Betriebe der Motorenproduktion, die nachweislich einen hohen NSW-Exportanteil hatten. Aus der Produktion von Motoren mit einer Leistung zwischen 1 bis 160 kW wurden zehntausende Motoren durch Werke etwa in Grünhain, Thurm und Wernigerode an Endabnehmer in der Bundesrepublik Deutschland exportiert.
Um den DDR-Export sowie die inländische Versorgung mit Standard- und Kleinstmotoren entsprechend der planwirtschaftlichen Verträge absichern zu können, arbeitete das Kombinat in Dresden mit diversen Haftanstalten zusammen. So baute der VEB ELMO Grünhain Fertigungsmöglichkeiten in den StVE Torgau und Hoheneck auf.[6] Der VEB ELMO Wernigerode ließ etwa in den Haftanstalten Brandenburg, Magdeburg oder Torgau produzieren. Der VEB aus Grünhain soll im Folgenden als Beispiel für den Nachweis einer vollständigen Lieferkette vom Produzenten in der DDR bis zum Endabnehmer in der Bundesrepublik dienen; am Wernigeroder VEB sollen erstmalig Aspekte dargestellt werden, die Kommunikation und Absprachen zwischen der Haftanstalt in Brandenburg und dem VEB aus dem Harz beleuchten.
Zwischen dem VEB ELMO Grünhain und der StVE Hoheneck sind erste Vereinbarungen aus dem Jahr 1967 überliefert – diese regelten die Überlassung von Arbeitsräumen in der Haftanstalt im sächsischen Stollberg.[7] Eine Aktualisierung der Verträge etwa zu vereinbarten Einsatzzahlen von Strafgefangenen erfolgte 1972 (220 Personen) und erneut im Jahr 1976 (100 Personen) und war jeweils ab dem Folgejahr gültig. Die Vereinbarungen belegen einerseits die Bedeutung von Strafgefangenen für die Volkswirtschaft und verdeutlichen andererseits den im Strafvollzug der DDR verankerten Erziehungsanspruch im Sinne einer sozialistischen Gesellschaft. In Paragraph 1 Abs. 1 der Vereinbarung heißt es, dass »[Z]ur Erfüllung der dem Strafvollzug und dem Betrieb gestellten Aufgaben, Strafgefangene insbesondere durch kollektive, gesellschaftlich nützliche Arbeit zu erziehen, künftig die sozialistische Gesetzlichkeit gewissenhaft zu achten und ihr Leben gesellschaftlich verantwortungsbewußt zu gestalten sowie zur Lösung volkswirtschaftlicher Aufgaben des Betriebs werden 100 Strafgefangene zur Arbeit eingesetzt.«[8] Pflichtarbeit, die nach ILO 105 nicht zu volkswirtschaftlichen Zwecken eingesetzt werden durfte, ist an dieser Stelle nachweislich bewusst missbraucht worden. Vorrangige Aufgabenbereiche der in Hoheneck für den ELMO-Komplex eingesetzten Arbeiterinnen waren das Spulen und Wickeln von Bauteilen als sogenannte Beilieferungen für die Elektromotoren des VEB.
In den untersuchten Fällen der ELMO-Produktion fungierte die Firma Wittenbecher & Co. in Essen als Zwischenhändler bzw. Vertreterfirma. Das Zwischenschalten von Vertreterfirmen sollte den direkten Kontakt zwischen den bundesrepublikanischen Firmen und den DDR-Produktionsbetrieben auf ein Minimum reduzieren. So wurde der Austausch an negativ wirkenden Informationen zur Zwangsarbeit begrenzt. Wo in der Textilindustrie und in Absprache mit den Außenhandelsbetrieben (AHB) mehrere Firmen als Scharniere zwischen den Märkten agierten, hatte sich Wittenbecher & Co. zur Generalvertretung entwickelt und wurde ab den späten 1970er Jahren als eine »Gemischte Gesellschaft« geführt. Diese war nachweislich dem Bereich »Kommerzielle Koordinierung« (KoKo) zugeordnet.[9] Als Zwischenhändler eruierte die Firma den bundesrepublikanischen Bedarf, verhandelte mit dem jeweiligen ELMO-Betrieb über die Machbarkeit der Produktion und forcierte die Aufnahme der Kontingente in den Produktionsplan. Gleichzeitig steuerte Wittenbecher & Co. die Preisgestaltung, regulierte auftretende Garantiefälle und lieferte nicht in der DDR produzierbare Bauteile direkt an den ELMO-Betrieb.[10] Im Falle des VEB ELMO Grünhain koordinierte Wittenbecher & Co. die Absprachen zwischen dem VEB und dem Endkunden Josef Scheppach Maschinenfabrik GmbH & Co. (Scheppach) im bayerischen Ichenhausen. Hierbei wurden Kapazitäten und technische Details spezieller Motoren für den Einbau in westlichen Häckslern und Kreissägen abgestimmt. Der zukünftige Endabnehmer Scheppach lieferte hierbei über die Vertreterfirma technische Anforderungen und fehlende Bauteile. Technische Zeichnungen aus dem VEB zu einem »Einphasen-Standardmotor mit Betriebskondensator, mit Bremse, Temperaturwächter und Sonderwellenende« lies sich Scheppach direkt vorlegen.[11]
Die Einbindung in die Produktion geht unter anderem aus einer handschriftlichen Notiz vom 21. Juni 1988 hervor, die verdeutlicht, dass der Herstellerbetrieb unter erheblichem Druck stand, da der abgestimmte Liefertermin immer näher rückte.[12] Allein für die Monate September und November des Jahres 1988 lieferte Grünhain insgesamt 3.400 Motoren an Scheppach – 1.200 EBM 80 K2-SW 56, 1.000 EBM 80G2-SX 56 und 1.200 DOMA 80 K2-SQ 56.[13] Für die Monate August und Oktober des Jahres 1985 ist die Aufnahme von zusammen 4.000 Elektromotoren des Typs EBMW 71 K4-SE 52 für die Firma ATIKA in die Produktion überliefert.[14]
Die angeführten Beispiele zeigen nur einen Bruchteil an Lieferketten und Erzeugnissen. Allein zum VEB ELMO Wernigerode kann die Forschung für den ELMO-Komplex stark ausgebaut werden. Der verfügbare Archivbestand ist zurzeit noch nahezu unerschlossen und sehr lückenhaft. Zudem kann die Recherche – den Willen der Protagonisten vorausgesetzt – auf Firmenarchive ausgeweitet werden. Auch die Einbeziehung weiterer ELMO-Betriebe des Kombinats wäre zielführend. Die Werke an den damaligen Standorten Dessau und Hartha sind nach ersten Erkenntnissen in Betracht zu ziehen. Zum Standort Hartha sind Beilieferungen zu bundesrepublikanischen Erzeugnissen der Heimelektronik nachweisbar – Hartha produzierte Kleinstmotoren mit einer Leistung von unter einem Kilowatt.
Interne Abstimmungen durch Konsultation
Einen Blick in die Routinen der Kommunikation zwischen den für die Produktion verantwortlichen VEB und dem ausführenden Strafvollzug gewähren Akten der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Potsdam (BDVP Potsdam) für die 1980er Jahre aus dem Brandenburgischen Landeshauptarchiv. Der hier aufzuzeigende kurze Einblick in die Auswertung der Akten soll verdeutlichen, was am eruierten Material möglich ist und einen Impuls für eine weiterführende Forschung zur Einbindung von Haftarbeit in die DDR-Volkswirtschaft geben. Die Bandbreite der systematischen Zwangsarbeit in den Gefängnissen und/oder Arbeitskommandos der DDR sowie die das gesamte DDR-Wirtschaftssystem durchziehenden Ausmaße lassen sich nur dann annähernd erfassen, wenn die inneren Mechanismen offengelegt und die Lieferketten und Arbeitsbedingungen herausgearbeitet werden können. Allein für die StVE Brandenburg sind folgende Betriebe in den Akten nachweisbar: IFA Getriebewerke Brandenburg, ELMO Wernigerode, Holzverarbeitungswerk Burg, Burger Bekleidungswerk, RAW (Reichsbahnausbesserungswerk) Potsdam, Kontaktbauelemente Luckenwalde und das Stahl- und Walzwerk Brandenburg.
Die Akten zur StVE Brandenburg protokollieren unter anderem die turnusmäßigen Treffen zwischen den Produktionsbetrieben und der Haftanstalt in Brandenburg an der Havel. Sie sollen exemplarisch herangezogen werden, um erstens den hohen Stellenwert der Haftarbeit, zweitens deren Einbindung in die Planwirtschaft und drittens die Selbstverständlichkeit ihrer Inanspruchnahme durch die VEB zu verdeutlichen. Die Treffen der Direktoren bzw. deren Vertreter aus den »Arbeitseinsatzbetrieben« (AEB) mit dem Leiter der StVE fanden stets unter Einbeziehung von Vertretern der BDVP Potsdam statt. Die jeweiligen Zusammenkünfte wurden von Impulsreferaten zur allgemeinen Situation der Pflichtarbeit der Strafgefangenen in der StVE eingeleitet. Kennziffern, Effektivität der Pflichtarbeit und auftretende Schwierigkeiten kamen offen zur Sprache. Nacheinander meldeten sich die jeweiligen Vertreter zu den spezifischen Themen des AEB zu Wort.
Wie entscheidend die Produktion in der StVE Brandenburg für den NSW-Export von Elektromotoren war, unterstrich der Produktionsleiter des VEB ELMO Wernigerode »Genosse Zacek« im Januar-Gespräch von 1982. »Die größten Probleme zeigen sich in Brandenburg bei der Sicherung der Qualität der Erzeugnisse. […] Hinzu kommt, dass ab 1982 eine noch nie dagewesene Erhöhung des Verkaufs in NSW-Länder zu sichern ist. Daraus ergibt sich weiterhin, dass die Sicherung dieser Außenhandelsaufgabe die qualitätsgerechte Produktion als das A und O darstellt.«[15] In einer späteren Zusammenkunft vom 6. März 1985 äußerte der neue Betriebsdirektor des VEB ELMO Wernigerode Dr. Wolfgang Beck, dass 60 Prozent der Wicklungen aus der StVE stammen, was für den VEB eine große Menge darstellen würde. Beck quittierte diesen Umstand mit der Zusage einer vordringlichen Belieferung der StVE mit Material – allen Lieferengpässen zum Trotz. Abschließend unterstrich er wie wichtig es sei, auch im Strafvollzug mit neuen Maschinen zu arbeiten. Diese könnten geliefert werden, wenn die nötige Fläche in den Fertigungsbereichen der StVE zur Verfügung gestellt werden würde. Weiterhin brachte Beck einen Umstand zu Protokoll, welcher in weiterführenden Untersuchungen verstärkt in den Blick genommen werden sollte – das Aufbegehren der Strafgefangenen bzw. ein gezielter Eingriff in die Produktionsabläufe. »Ich muß aber doch nochmals darauf aufmerksam machen, dass wir im verstärktem Maße mit mutwilligen Eingriffen in die Maschinen zu tun haben. Auch für fertiggewickelte (sic!) Maschinen – 8 bis 10 % der Strafgefangenen – trifft das zu. Der harte Kern der Strafgefangenen wird stärker.«[16] Der VEB ELMO Wernigerode hatte in der StVE einen eigenen Bereich, den Fertigungsbereich 5, ausgebaut und stetig erweitern lassen.
In der darauf folgenden Beratung des Jahres 1986 fand »Genosse Schädelbauer« als Vertreter des VEB ELMO Wernigerode deutliche Worte zur schlechten Qualität der in der StVE produzierten Wicklungen. So käme aus der Strafvollzugseinrichtung »reine Schluderarbeit« und das, wo »bei uns aber jeder 3. Motor ins Ausland [geht]«. Auch hier wurde die zunehmende Einführung neuer Technik diskutiert, da man sonst nicht auf die Nachfrage reagieren könne.[17] Der Vertreter des Produktionsbetriebs monierte hier gleichzeitig die aus seiner Sicht zu geringe Zahl an Strafgefangenen, die durch die StVE zur Verfügung gestellt würde. Dieses Problem beschäftigte die planungsaffinen Betriebe durchweg. In einer Zusammenkunft des Jahres 1984 versuchten die Vertreter des VEB ELMO Wernigerode einen Planungsstand an Strafgefangenen bis 1990 von der StVE zu erhalten, da man so besser kalkulieren und den Einsatz der zivilen Kräfte koordinieren könne.[18] Die stetige Forderung, die Häftlingszahlen zu erhöhen oder zumindest kalkulierbar zu gestalten sowie die nachdrücklichen Hinweise, die Produktion durch fehlende Disziplin nicht zu gefährden, verdeutlicht den hohen Stellenwert der StVE-Produktion für die Sicherung der Sollzahlen in der ELMO-Planung.
Weiterführende Aspekte für mögliche Untersuchungen zur Haft- und Zwangsarbeit wären etwa Fragen zur Effektivität der Produktion, zu möglichen Sabotageakten bzw. Eingriffen in die Produktion durch Strafgefangene oder zu gesundheitlichen Langzeitfolgen.[19] Es gibt genügend Hinweise zum Einsatz politischer Häftlinge für die ELMO-Werke, protokollierte die StVE doch Verlegungen von Gefangenen in andere Arbeitseinsatzkommandos, quittierte Suizide oder analysierte bei Häftlingen jeden Schritt von der Verurteilung (mit Angabe der Paragraphen) bis zum disziplinarisch bewertbaren Vorfall in Haft.
[1] Die hier dargestellten Zusammenhänge, Schlussfolgerungen und Anregungen basieren auf einer Vorstudie über Zwangsarbeit politischer Häftlinge in Strafvollzugseinrichtungen der DDR. Diese wurde von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien gefördert. Die Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) hat die Vorstudie initiiert und inhaltlich begleitet. Realisiert wurde sie am Lehrstuhl für die Geschichte Osteuropas der Humboldt-Universität zu Berlin von Mai 2023 und Februar 2024.
[2] Markus Mirschel ist promovierter Historiker. Bis November 2023 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für die Geschichte Osteuropas der Humboldt-Universität zu Berlin, wo er u. a. im Rahmen des Forschungsverbundes »Landschaften der Verfolgung« tätig war.
[3] Die StVA/Jugendhaus Luckau ist durch Zeitzeugenaussagen nachweislich Teil des ELMO-Produktionskomplexes. Eine eingehende Untersuchung steht noch aus. https://www.ddr-zwangsarbeit.info/tabelle3.html (zuletzt abgerufen am 29.11.2024);Kunze, Samuel und Mirschel, Markus: Abschlussbericht für die Vorstudie »Zwangsarbeit politischer Häftlinge in Strafvollzugseinrichtungen der DDR«, Berlin 2024, S. 18.
[4] https://www.ilo.org/sites/default/files/wcmsp5/groups/public/@ed_norm/@normes/documents/normativeinstrument/wcms_c105_de.htm (zuletzt abgerufen am 24.11.2024)
[5] Kunze/Mirschel: Vorstudie, S. 14-17.
[6] Überlassungsvertrag für Arbeitsräume vom 12. Oktober 1967, SächsStAC, 31000/ 192 3, o. P.
[7] Arbeitsordnung mit Nutzungsvertrag vom 08. März 1977, SächsStAC, 31000/ 192 3, o. P.
[8] Vereinbarung zwischen der Strafvollzugsanstalt Hoheneck und VEB ELMO Grünhain vom 09. April 1976 (Anlage 5), SächsStAC, 31000/ 192 3, o. P.
[9] Beck, Wolfgang: Alles hat ein Ende – auch die Marktwirtschaft, Berlin 2023, S. 29.
[10] Ablehnung von DDR-Lüsterklemmen durch Scheppach vom 20. Juni 1988 (Anlage 1) sowie benötigte »Beistellung« von Bauteilen, o. D. (Anlage 2), SächsStAC, 31000/297 2, o. P.
[11] Gestempelter Plan eines »Einphasen-Standardmotors« vom 23. Februar 1988, Hinweis zu technischen Zeichnungen von Scheppach an Wittenbecher & Co. vom 10. Oktober 1988 (Anlage 3) oder von Wittenbecher & Co. an VEB ELMO Grünhain vom 24. April 1988 (Anlage 4), SächsStAC, 31000/297 2, o. P.
[12] Notiz Krause [ELMO] an Bartel [WiCo] vom 21. Juni 1988, SächsStAC, 31000/297 2, o. P.
[13] Absprachen nach Besuch BD Hellwig vom 16. Juni 1988; Angebot mit Preisvorschlägen für Gartenhäcksler der Firma Scheppach, o. D. [1988], SächsStAC, 31000/297 2, o. P.
[14] Auftrag Pollmeier 2264 vom 29. April 1985, SächsStAC, 31000/297 2, o. P.
[15] Protokoll der Beratung vom 28. Januar 1982, BLHA, 471 BDVP Pdm 1723, o. P.
[16] Protokoll der Beratung vom 28. Februar 1985, BLHA, 471 BDVP Pdm 1723, o. P.
[17] Protokoll der Beratung vom 13. März 1986, BLHA, 471 BDVP Pdm 1723, o. P.
[18] Protokoll der Beratung vom 29. Februar 1984, BLHA, 471 BDVP Pdm 1723, o. P.
[19] Eine erste Systematik zu gesundheitlichen Langzeitfolgen der Haft- und Zwangsarbeit ist in der Vorstudie »Zwangsarbeit politischer Häftlinge in Strafvollzugseinrichtungen der DDR« erbracht worden. Kunze/Mirschel: Vorstudie, S. 29-68.