Von Thomas Irmer[1]
Im April 1951 nahm die Volkspolizei in Berlin-Rummelsburg ein Männergefängnis für kurze Freiheitsstrafen in Betrieb. Südwestlich des Bahnhofs Ostkreuz, zwischen Rummelsburger Bucht und Hauptstraße gelegen, entstand die Haftanstalt an historischer Stelle im ehemaligen Arbeitshaus Rummelsburg. Diese Verwahranstalt für Angehörige sozialer Randgruppen war die größte Einrichtung ihrer Art in Deutschland gewesen. Zu DDR-Zeiten saßen in der Rummelsburger Haftanstalt Menschen wegen Eigentumsdelikten ein, aber auch Fluchthelfer aus dem Westen und Botschaftsangehörige. Von Anfang an war das Gefängnis auch Haftort für politische Gefangene aus der DDR: Demonstranten des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 gehörten ebenso dazu wie Protestierende, die gegen die Fälschung der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 oder zuletzt am Abend des 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der DDR, in Prenzlauer Berg und am Palast der Republik demonstriert hatten. Nach der Friedlichen Revolution wurden Erich Honecker und Erich Mielke in Rummelsburg inhaftiert.
Rummelsburg heute
Das Gelände des ehemaligen Arbeitshauses und DDR-Gefängnisses im Berliner Bezirk Lichtenberg gehört zu den noch wenig bekannten, aber vielschichtigen historischen Orten deutscher Geschichte und Erinnerungskultur. Heute ist es Teil eines attraktiven Wohngebietes an der Rummelsburger Bucht. Die Gebäude des Arbeitshauses und des ehemaligen Strafgefängnisses haben als bauliche Anlage die verschiedenen Epochen äußerlich nahezu unbeschadet überstanden. Sie wurden vor allem im Inneren immer wieder umgebaut. Heute werden sie, auch äußerlich saniert, zu Wohnzwecken genutzt. Lediglich ein nicht modernisiertes Gebäudeensemble an der stark befahrenen Hauptstraße kann als weitgehend authentisch in Bezug auf die DDR-Zeit gelten.
Das Arbeitshaus Rummelsburg
Der Gebäudekomplex wurde um 1879 als städtisches Berliner Arbeitshaus errichtet. Die Vorgängereinrichtung, zentral am Alexanderplatz gelegen, musste dem Bau der »Roten Burg«, dem Hauptquartier der Berliner Polizei, weichen. Dafür wurde in Rummelsburg die Aufnahmekapazität stark erweitert - die Verwahrhäuser konnten bis zu 1.000 Personen aufnehmen. Darunter befanden sich sozial Deklassierte und Ausgestoßene, Obdachlose und Prostituierte sowie Suchtkranke beiderlei Geschlechts. Sie unterstanden zumeist der öffentlichen Fürsorge. Im Kaiserreich gehörten auch Bettler dazu, da Betteln damals verboten war und Gerichte im Anschluss an eine kurze Gefängnisstrafe eine bis zu zwei Jahre dauernde Unterbringung im Arbeitshaus anordnen konnten. Grundgedanke des Arbeitshauses war es, abweichendes Verhalten durch einfache, meist körperliche Arbeit zu »korrigieren«, d.h. die Menschen an ein »ordentliches«, geregeltes Leben zu gewöhnen. Doch schon im Kaiserreich betrachtete die Anstaltsleitung den Einsatz der sogenannten Häuslinge, etwa auf den Berliner Rieselfeldern, als Zwangsarbeit - ungeeignet zur Verhaltensänderung, aber nützlich zur Finanzierung der Anstalt. Dieser Sinn der Arbeit galt später nicht mehr für alle: In der NS-Zeit wurden alle jüdischen Insass*innen aussortiert und 1940 im Rahmen der NS-Euthanasie in der Tötungsanstalt Bernburg ermordet. Damals wurden die Insass*innen des Arbeitshauses zumeist als »Asoziale« bezeichnet. Später war geplant, auch die nicht mehr arbeitsfähigen Nicht-Juden zu ermorden. Dazu kam es aber nicht mehr, weil das Personal für die Durchführung dieser Mordpläne abgezogen wurde, um es bei der Ermordung der jüdischen Zivilbevölkerung in Osteuropa einzusetzen. So verdeutlicht die Geschichte von Rummelsburg eindringlich, dass die Ideologie des Antisemitismus’ in der NS-Zeit immer - auch »ganz unten« - Vorrang hatte.
Die Haftanstalt in der DDR
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Arbeitshaus zunächst weitergeführt. Die dort inhaftierten Frauen und Mädchen begannen einen Aufstand, weil sie nicht erfuhren, wie es für sie weitergehen sollte.
1950/51 »entdeckte« die Volkspolizei das Gelände, um dort ein Gefängnis für kurze Strafen einzurichten. Die Gefängnisverwaltung zog in das Gebäude der ehemaligen Arbeitshausverwaltung ein. Dass hier während des Zweiten Weltkrieges eine NS-»Euthanasie«-Kommission nach Aktenlage Häuslinge selektiert hatte, wurde nicht thematisiert. Die sechs ehemaligen mehrstöckigen Verwahrgebäude, in denen sich große Massenschlafsäle befunden hatten, wurden zu Zellentrakten umgebaut.
Am häufigsten wurden in der Strafvollzugsanstalt Rummelsburg Strafen wegen Eigentumsdelikten, die es in der sozialistischen Gesellschaft eigentlich nicht mehr geben sollte, sowie aufgrund von Gewalt- und Sexualdelikten vollstreckt. Auch wegen »krimineller Asozialität« saßen Menschen in Rummelsburg ein. 1968 war mit dem Paragrafen 249 der Begriff »asozial« bzw. »asoziales Verhalten« in das Strafrecht der DDR übernommen worden.
Viele Gefangene wurden zur Zwangsarbeit in einem Produktionsgebäude eingesetzt, das auf einem ehemaligen Rieselfeld neben den Zellengebäuden errichtet worden war. Dort arbeiteten sie unter anderem für die großen elektrotechnischen Volkseigenen Betriebe in Treptow und Köpenick und produzierten dabei für den Export in den Westen und in den arabischen Raum. Heute soll dort eine Schule entstehen.
Zeitweise waren ein Drittel der Insassen Westdeutsche oder Westeuropäer. Unter ihnen befanden sich Fluchthelfer, die wegen »Menschenhandels« verurteilt worden waren. Sie hatten aus politischen, familiären oder auch kommerziellen Gründen Fluchthilfe oft über die Transitautobahnen organisiert. In den 1980er Jahren gab es Pläne, Rummelsburg zur zentralen Haftanstalt der DDR für Straftäter aus Westdeutschland und Westeuropa zu machen.
Erich Honecker wurde 1990 im Krankenbau des Gefängnisses in Untersuchungshaft genommen. Wohnhaft war er eigentlich in Wandlitz, aber eine Unterbringung im zuständigen Zuchthaus Brandenburg sollte unbedingt vermieden werden, weil er dort als NS-Verfolgter inhaftiert gewesen war. Aus gesundheitlichen Gründen wurde er bald wieder entlassen. Erich Mielke kam nicht wegen seiner Rolle in der SED-Diktatur nach Rummelsburg, sondern im Zusammenhang mit einem Prozess wegen seiner Beteiligung an der Ermordung von zwei Streifenpolizisten im Berliner Scheunenviertel in den 1930er Jahren.
Im November 1990 wurde das Gefängnis geschlossen, weil es nicht mehr den neuen Standards für Haftanstalten entsprach. Zuvor hatten Gefangene Dächer der Zellengebäude besetzt und die Überprüfung ihrer Urteile gefordert.
Randgruppen der Erinnerung? Der Informations- und Gedenkort Rummelsburg
Im Mai 2014 wurde auf dem historischen Gelände in Rummelsburg eine neue Open-Air-Dauerausstellung eröffnet. Die Nutzung des Geländes war nach Schließung des Gefängnisses lange unklar geblieben. Der Plan, dort die Landesjustizbehörden unterzubringen, scheiterte am Widerstand der Mitarbeitenden. Der Regisseur Detlef Buck nutzte die Gebäude als Kulisse für die Komödie »Männerpension«. Später baute ein Investor die Gebäude zu Eigentumswohnungen um. Auch ein ehemaliger Anstaltsfriedhof, auf dem sich zu DDR-Zeiten ein Parkplatz befand, wurde überbaut, nachdem die sterblichen Überreste der dort bestatteten Insassen und Mitarbeitenden des Arbeitshauses auf den Zentralfriedhof Friedrichsfelde umgebettet worden waren.
Die Dauerausstellung thematisiert die Geschichte des Ortes vom Kaiserreich bis zur Friedlichen Revolution 1989. Kernstück sind drei große Geschichts-Stelen und 18 Stelen mit Biografien von Insass*innen des Arbeitshauses und Gefangenen des DDR-Strafvollzugs, die chronologisch und dezentral in sechs Ensembles über das gesamte Gelände verteilt und ehemaligen Haftgebäuden zugeordnet sind. Darunter sind beispielsweise die Biografien des DDR-Flüchtlings und Fluchthelfers Hartmut Richter und des aus Italien stammenden West-Berliners Timo Zilli, der u. a. als Übersetzer in der Studierendenbewegung von 1968 aktiv gewesen war. Die Biografiestehlen der heutigen SED-Opferbeauftragten der Bundesregierung, Evelyn Zupke, des Sozialarbeiters Jörg Zickler und des Künstlers Manfred Butzmann stehen für Menschen, die hier inhaftiert waren, weil sie gegen die Fälschung der Kommunalwahlen protestiert hatten oder im Herbst 1989 anlässlich der offiziellen Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung für Reformen auf die Straße gegangen waren.
An den Stelen kann über einen QR-Code eine Kinderführung abgerufen werden - so sollen auch Familien angesprochen werden, die zu den neuen Bewohnern Rummelsburgs zählen. Außerdem gibt es eine Rummelsburg-App, die neben Biografien aus allen Epochen auch weiterführendes Material enthält.
Dennoch gehört Rummelsburg nach wie vor zu den wenig beachteten Orten deutscher Erinnerungskultur in Berlin. Dies gilt umso mehr für die letzten authentischen Relikte aus DDR-Zeiten, für deren Zukunft heute, 35 Jahre später, dringender Handlungsbedarf besteht.
Letzte Bauzeugen der DDR-Zeit
In drei unsanierten Gebäuden an der Hauptstraße, errichtet als Wohnquartiere für die Aufseher des Arbeitshauses und deren Familien und in der DDR-Zeit u. a. von der Kriminalpolizei genutzt, haben sich bis heute eine Reihe weiterer authentischer Spuren erhalten. Sie verweisen insbesondere auf den Herbst 1989: Dazu gehören eine ehemalige Schleuse im Eingangsbereich, ein Innenhof mit Garagen, wo im Herbst 1989 hunderte Männer und Frauen schikaniert wurden, sowie mehrere Sammelzellen im Keller. Der Innenhof dient heute als Freizeit- und Spieloase für Anwohnende und die Jugendarbeit. Auch Künstlerateliers sollen in die Gebäude einziehen.
Doch was geschieht mit den historischen Spuren? Sie müssen erhalten bleiben! Wo, wenn nicht in diesen Gebäuden wäre der Ort, um die vielen noch unerzählten Geschichten der Insass*innen des Arbeitshauses und des Gefängnisses, ihrer Akteur*innen und ihrer Kontexte zu erforschen und zu dokumentieren?
Literatur
Thomas Irmer, Barbara Reischl und Kaspar Nürnberg, Das Städtische Arbeits- und Bewahrungshaus Rummelsburg – Zur Geschichte eines vergessenen Ortes der Verfolgung von »Asozialen in der NS-Zeit«, in: Gedenkstättenrundbrief Nr. 144,8/2008, hrsg. von der Stiftung Topographie des Terrors, Berlin 2008, S. 22-31.
Thomas Irmer und Rainer E. Klemke, Der Gedenkort Rummelsburg - Berliner Arbeitshaus und DDR-Gefängnis, 1879- 1990, in: Gedenkstättenrundbrief Nr. 176 (12/2014), hrsg. von der Stiftung Topographie des Terrors, Berlin 2014, S. 22-28.
Thomas Irmer, »...die sogenannten asozialen Elemente ebenfalls zur Vernichtung reif machen ...« - Das Berliner Arbeitshaus Rummelsburg zwischen Anfang und Ende der NS- Euthanasie, in: KZ Gedenkstätte Neuengamme (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, H. 17: »Euthanasie«-Verbrechen, Bremen 2016, S. 67-80.
Thomas Irmer, The detention of social outsiders between social reform and annihilation - The Municipal Workhouse Berlin-Rummelsburg (1877-1990), in: Christian de Vito, Ralf Futselaar & Helen Grevers (eds.), Incarceration and Regime Change. European Prisons in and around the Second World War, New York/Oxford 2017, p. 110-126.
[1] Thomas Irmer ist Politikwissenschaftler. Er kuratiert Ausstellungen und andere Bildungsprojekte für NS-Gedenkstätten und Museen, darunter auch die Dauerausstellung des Informations- und Gedenkortes Rummelsburg. Als Lehrbeauftragter (HWR Berlin) leitet er das Seminar »Polizei im Nationalsozialismus«. Forschungsfelder: Totale Institutionen, Elektroindustrie, NS-Zwangsarbeit. Mehr unter www.thomas-irmer.de