Frauen im Stasi-Knast Bautzen II
Von Silke Klewin und Ronny Heidenreich[1] [2]
Dreißig Jahre nach dem Ende der DDR wird mit der Eröffnung der Gedenkstätte Hoheneck endlich exponiert an die inhaftierten Frauen im Strafvollzug des SED-Staates erinnert. Dieser Schritt war längst überfällig. Weibliche Häftlinge in ostdeutschen Gefängnissen wurden bislang weder in der Forschung noch in der Erinnerungskultur des wiedervereinigten Deutschlands angemessen berücksichtigt. Strafvollzug und die Erinnerung an politische Inhaftierung galten lange als reine Männersache.
Anders als es die öffentliche Wahrnehmung nahelegt, ging der Strafvollzug an Frauen in der DDR weit über das Gefängnis Hoheneck hinaus. 1989 gab es insgesamt neun Gefängnisse, in denen weibliche Strafgefangene inhaftiert waren. Vier davon waren reine Frauengefängnisse wie das »Hotel am See« in Ostberlin oder die Strafvollzugseinrichtung Halle. Daneben gab es fünf weitere Haftanstalten, denen Frauenbereiche angeschlossen waren.[3] Zu dieser Kategorie gehörte auch die Sonderhaftanstalt des MfS in Bautzen II. Im zweiten und dritten Obergeschoss des Ostflügels wurde hier 1963 eine hermetisch vom Männer-Strafvollzug abgetrennte Frauenstation eingerichtet. Zwischen 1963 und 1989 waren hier insgesamt 442 weibliche Häftlinge inhaftiert. Das entspricht immerhin fast einem Fünftel der Gesamtbelegung des Sondergefängnisses Bautzen II.
Staatsfeinde in Bautzen II
Bautzen II unterschied sich von Hoheneck und allen anderen Vollzugseinrichtungen. Einweisung und Kontrolle der Gefangenen oblag hier unmittelbar der Staatssicherheit (MfS), die auch den Haftalltag bestimmte.[4] Mit Einrichtung des Frauentraktes der Sonderhaftanstalt 1963 beabsichtigte die Staatssicherheit die Zusammenfassung aller weiblichen Gefangenen aus dem westlichen Ausland. Tatsächlich wurde diese Konzentration aber nicht durchgehalten; auch in anderen Haftanstalten saßen westdeutsche Frauen und Westberlinerinnen ein, während in Bautzen II von Beginn an auch DDR-Bürgerinnen inhaftiert waren.[5] Für die Einweisung nach Bautzen II lagen aus Sicht des MfS besondere Gründe vor.
In der öffentlichen Wahrnehmung gilt Bautzen II als Sonderhaftanstalt für politische Gefangene. Das bestätigt auch der Blick auf die Haftgründe der Insassinnen. Ausgehend von den für die Verurteilung herangezogenen Paragraphen können mehr als 80 Prozent der weiblichen Strafgefangenen dem politischen Strafrecht zugerechnet werden. In den 1970er und 1980er Jahren war der Vorwurf »Fluchthilfe« bzw. »Fluchtversuch« ebenso prominent vertreten (insgesamt 32 Prozent) wie »staatsfeindliche Kontaktaufnahme«, wobei letztere ausschließlich DDR-Bürgerinnen betraf. Konstant hoch blieb hingegen - auch im Vergleich zu anderen DDR-Haftanstalten - der Vorwurf der »Spionage«. Der Anteil lag zwischen 1963 und 1989 bei einem Drittel und bildete damit nach der »Fluchthilfe« den häufigsten Inhaftierungsgrund.[6]
Das dürfte kein Zufall gewesen sein. Die Zusammenfassung vermeintlicher oder tatsächlicher westlicher Spione und Spioninnen war für das MfS wahrscheinlich ausschlaggebend dafür, die Sonderhaftanstalt im August 1956 zu gründen.[7] In den Jahren zuvor hatte die Staatssicherheit auf Anweisung und mit Unterstützung der sowjetischen Geheimpolizei immer mehr Kompetenzen bei der Verfolgung und Aburteilung westlicher Spione und Spioninnen übertragen bekommen. Bis dahin war die Spionageabwehr eine Domäne der sowjetischen Geheimpolizei, in welcher die ostdeutschen Tschekisten bestenfalls Juniorpartner waren. Infolge dieser Emanzipation des MfS wurden allein zwischen 1953 und 1955 Hunderte Frauen und Männer von DDR-Gerichten abgeurteilt, die in den Haftanstalten unterzubringen waren.
Diese Aufgabe entwickelte sich aus Sicht von Geheimpolizei und Staatsführung zu einem Problem. Seit Kriegsende ließ die Sowjetunion abgeurteilte vermeintliche und tatsächliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen westlicher Geheimdienste, die zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren, zur Strafverbüßung in die Sowjetunion verbringen.[8] Nach dem Tod Stalins im März 1953 begann die Auflösung des Straflagersystems GULag und die Amnestierung einer Vielzahl von Insassen, was im Falle der inhaftierten deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger durch massenhafte Entlassungen infolge des Adenauer-Besuchs in Moskau 1955 beschleunigt wurde. Den DDR-Behörden wurden Hunderte ehemalige GULag-Häftlinge überstellt, deren Begnadigung bzw. Entlassung größtenteils erst im Zuge des »Tauwetters« ab 1956 in der Sowjetunion möglich wurde. SED-Parteichef Ulbricht beteuerte gleichwohl: »Agenten, Spione, die uns großen Schaden zugefügt haben. Die lassen wir sitzen.«[9] Das DDR-Gefängniswesen war jedoch auf die Unterbringung einer durch die Spionageabwehrprozesse ständig wachsenden Zahl von Gefangenen nicht vorbereitet. Hinzu kam, dass auch die Moskauer Führung darauf bestand, aus ihrer Sicht besonders gefährliche westliche Agenten und Agentinnen weiterhin in ostdeutscher Haft zu halten. Da die normalen Polizeigefängnisse aus Sicht der Sowjets und des MfS zu wenig sicher erschienen fiel schließlich die Entscheidung, nach offenkundig sowjetischem Vorbild ein Sondergefängnis der Staatssicherheit einzurichten.[10] Die öffentliche Ankündigung Ulbrichts vom März 1956 kann damit gewissermaßen als Geburtsstunde des Sondergefängnisses Bautzen II gelten. Ein knappes halbes Jahr später wurden die ersten 124 Männer in die Haftanstalt eingewiesen, bei denen sich die Staatssicherheit sicher war, dass es sich um hochkarätige ehemalige Mitarbeiter westlicher Geheimdienste handelte. Darunter fielen auch 44 ehemalige MfS-Angehörige, denen eine Zusammenarbeit mit dem Gegner zur Last gelegt worden war.[11]
Die Funktion als Sondergefängnis für westliche Agenten bestätigt sich bei den in Bautzen II inhaftierten Frauen. Auch wenn systematische Erhebungen zu den konkreten Tatvorwürfen noch ausstehen, lassen einzelne bekannte Fälle dieses Muster erkennen. So kam beispielsweise mit Erika Lokenvitz eine ehemalige Konfidentin der CIA bzw. des Verfassungsschutzes in die Haftanstalt. Lokenvitz hatte gemeinsam mit der noch in der Untersuchungshaft verstorbenen Gertrud Liebing Informationen aus dem Fernmeldebereich und der SED-Parteizentrale geliefert. Sie war damit aus Sicht des MfS für die wahrscheinlich größte Sicherheitspanne der DDR-Geschichte verantwortlich.[12]
Warum die Staatssicherheit bis 1963 wartete, um auch weibliche Top-Spione in Bautzen II zusammenzufassen, lässt sich gegenwärtig nicht sicher beantworten. Denkbar ist ein pragmatischer Grund. Für die Unterbringung sämtlicher aus Sicht des MfS gefährlicher Spione reichten die nominellen 124 Haftplätze in Bautzen II angesichts der Massenverhaftungen und -verurteilungen der 1950er Jahre schlicht nicht aus. Mit Beginn der konzertierten Austauschverhandlungen und Freikaufaktionen 1962 gelangte ein Großteil dieser Gefangenen in den Westen.[13] Im Inneren führte die Spionageabwehr der Staatssicherheit derweil zu einem Niedergang der westlichen Spionage in der DDR. Die Anwerbung von Top-Spionen und -Spioninnen gelang westlichen Diensten bereits vor dem Mauerbau nur noch in Ausnahmefällen und kam nach dem Mauerbau fast völlig zum Erliegen.[14] Die Zahl der von DDR-Gerichten wegen Spionage Verurteilten ging zwar erst Ende der 1960er Jahre spürbar zurück, doch waren die meisten aufgegriffenen V-Leute nur noch »kleine Fische«. Die Einweisung von Sigurd Weber nach Bautzen II 1976 deutet aber darauf hin, dass es weiterhin aus Sicht des MfS bedeutende gefährliche Staatsfeinde gab, deren gesonderte Unterbringung in Bautzen II als notwendig erachtet wurde. Sigurd Weber und ihr Mann arbeiteten seit Mitte der 1960er Jahre für den Bundesnachrichtendienst, dem Dank der Verbindung zu Angehörigen in Magdeburg die Anwerbung ihres Bruders gelang. Während Sigurd Weber von ihren Reisen in die DDR als ergiebige Militärquelle über die sowjetischen Truppen an den BND berichtete, wurde der Bruder zum Funker ausgebildet. Seine Bedeutung für die am Boden liegende DDR-Spionage des BND muss immens gewesen sein, da er als Sanitäter Zugang zu sowjetischen Kasernen und Militärpersonal hatte. Aufgrund dieser Vorgeschichte wurde Sigurd Weber zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, was selbst für DDR-Verhältnisse in den 1970er Jahren ein ungewöhnlich hartes Strafmaß war. Ihr Bruder wurde ebenfalls in Bautzen II inhaftiert. Die Bedeutung, die das MfS und der BND gleichermaßen dem Fall Weber zumaßen, zeigt sich auch daran, dass sie 1982 gegen die HVA-Agentin Christel Guillaume ausgetauscht wurde.[15]
Nicht nur aufgrund der besonderen Funktion von Bautzen II lohnt ein genauerer Blick auf die Insassinnen und ihr Erleben des DDR-Strafvollzuges. In anderen sozialen Zusammenhängen ist mittlerweile gut erforscht, dass die Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht nicht nur die Rolle der Frauen sichtbarer macht, sondern auch neue Erkenntnisse zum Untersuchungsgegenstand als Ganzem bringt. Die Frage, ob und in welchem Maße Frauen in den DDR-Haftanstalten spezifische Erfahrungen machten, ist aber bislang völlig unzureichend untersucht. Am Beispiel der Frauen in Bautzen II wird eine Annäherung an Normen und Praxis des DDR-Haftvollzuges versucht. Inwiefern sie repräsentativ sein kann, bleibt auch deshalb vorläufig offen, weil Motive und Ziele der Staatssicherheit zum Unterhalt dieser Sonderhaftanstalt in weiten Teilen noch im Dunkeln liegen.[16]
Ungeachtet der besonderen Eingriffsrechte der Staatssicherheit in Bautzen II galten auch in diesem Gefängnis die Vorschriften des DDR-Strafvollzugs. Das normative Regelwerk galt - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - gleichermaßen für den Frauen- wie den Männer-Strafvollzug. Grundsätzliche geschlechtsspezifische Unterschiede lassen sich weder hinsichtlich der Vollzugsziele, der Gestaltung des Erziehungsprozesses, des Arbeitseinsatzes noch der Sanktionsbestimmungen ausmachen. Auffällig ist, dass die Vorschriften die Existenz von Frauen negierten. Dabei lag ihr Prozentsatz an Inhaftierten stets vergleichsweise hoch. 1989 waren etwa zwölf Prozent aller Strafgefangenen in der DDR weiblichen Geschlechts. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik betrug ihr Anteil gerade einmal drei Prozent.[17]
Tatsächlich war der Strafvollzug aber mitnichten geschlechtsneutral. Das Geschlecht hatte als Strukturierungs- und Ordnungsprinzip eine zentrale Bedeutung für die Gestaltung des Vollzugs. Im binären Geschlechtersystem galt die eingeschlechtliche Unterbringung der Inhaftierten als Grundpfeiler eines zweckmäßigen Vollzugs und wurde als unabdingbare Voraussetzung für das Erreichen der Vollzugsziele gesehen.[18] Dabei galt der Strafvollzug allgemein als ein von Männern geprägtes Ordnungssystem: mit männlichen Umgangsformen und einem männlichen Normensystem. Bis hin zur Bekleidungsordnung im Strafvollzug waren die Regeln geschlechtsunspezifisch bzw. männerorientiert. Für den Aufenthalt in der Zelle wurden den Strafgefangenen folgende Bekleidungsstücke zugestanden: »Unterhemd, Unterhose, Socken, Tageshemd, Hose lang, Weste oder Pullover bei Bedarf und Hauspantoffel[n]«. Büstenhalter waren ebenso wenig vorgesehen wie Blusen oder Röcke. Hinsichtlich ihrer Unterwäsche und ihrer Frisur wurden den Frauen indes Sonderrechte verbrieft. Im Unterschied zu den Männern war ihnen die »selbständige Reinigung der Unterwäsche und Strümpfe gestattet«. Zudem mussten sie – im Gegensatz zu den Männern – ihr Haar nicht kurz, sondern »zweckmäßig und leicht pflegbar« tragen.[19]
Arbeit
Im Haftalltag waren geschlechterspezifische Differenzierungen allerdings gängige Praxis, deren Verschriftlichung wohl aufgrund ihrer vermeintlichen Selbstverständlichkeit als nicht notwendig erschien. Beispielsweise waren alle Strafgefangenen gleichermaßen zur Arbeit verpflichtet, die Zuweisung der konkreten Aufgaben erfolgte indes geschlechtsspezifisch. Die Verteilung der Arbeit basierte nicht auf »naturgegebenen« Eigenschaften der Geschlechter, vielmehr wurden Tätigkeiten entsprechend der gesellschaftlichen Vorstellungen vergeschlechtlicht und damit Frauen und Männern Eignungen für bestimmte Tätigkeiten zugesprochen. Der DDR-Strafvollzug tradierte alte Geschlechtervorstellungen, obgleich der Sozialismus offensiv die Gleichberechtigung und vollzogene Emanzipation der Frau propagierte. Tradierten Stereotypen folgend waren Frauen in Bautzen II für die Küche, die Wäsche und das Putzen zuständig. »Arbeit« strukturierte den Haftalltag und »ließ die Tage schneller vergehen«, so die fast einhellige, geschlechtsunabhängige Aussage ehemaliger Bautzen-II-Häftlinge. Obgleich es eine sehr anstrengende und schlecht bezahlte Arbeit war, haben fast alle strafgefangenen Frauen gern im Küchenkommando gearbeitet. Die »Küche« versprach zudem eine Zusatzversorgung und bot einen größeren Bewegungsfreiraum. Nicht zuletzt empfanden es viele Frauen als sinnstiftend, sich für Mitgefangene einsetzen zu können: »Das Essen war jetzt nicht so gut, meine Schulspeisung war schlechter. Dadurch, dass die Gefangenen kochten, war es ok. Die hatten keine so tollen Zutaten, aber die haben sich wirklich bemüht, das Beste draus zu machen.«[20]
Da auch Hygiene, Sauberkeit und Ordnung als weibliche Domänen galten, waren es wiederum die Frauen, die sich um die Wäsche der Strafgefangenen kümmern mussten. Mindestens zwei Strafgefangene waren als Hausarbeiterinnen für das Waschen, Aufhängen und Bügeln zuständig. Waren alle Arbeitsplätze in den Bereichen Küche und Wäsche besetzt, kamen Frauen auch in der Produktion zum Einsatz. Ihnen wurden dann einfache, leichte und eintönige Montagearbeiten für Firmen aus der Region übertragen. Der Einsatz in der Produktion wurde zwar besser bezahlt, aber als weniger erfüllend erlebt.[21]
Sanktionen
Das Erleben des strengen, repressiven Haftsystems, die Demütigung durch ständige Kontrollen und Zellenrazzien, Entmündigung und Entwürdigung waren für strafgefangene Frauen ebenso wie für Männer belastend. Angesichts der drohenden Bestrafung vermieden weibliche Strafgefangene tendenziell jegliches offene Aufbegehren. Sie wollten das Leid, das die Haft tagtäglich mit sich brachte, nicht noch verschlimmern. Frauen wussten sich den Erwartungen anzupassen. Das ist eine wiederkehrende Aussage in den Berichten von ehemaligen Häftlingen aus Bautzen II. »Wir haben es dann so angenommen. […] Das war dann eben eine schlimme Zeit, die man durchstehen musste«, erzählt Gabriele Zimnak.[22] Dementsprechend lassen sich im Antizipieren drohender Sanktionen im Gefängnisalltag zwischen Männern und Frauen, aber nicht nur zwischen ihnen, deutliche Unterschiede feststellen. Arreststrafen waren bei den Frauen deutlich stärker gefürchtet als bei den Männern. Anders als es ein Bediensteter 1978 den Gefangenen attestierte, wurden Arreststrafen von den Frauen keineswegs belächelt.[23] Vielmehr wollten die weiblichen Häftlinge diese Strafe um jeden Preis vermeiden. Tatsächlich ist es den Frauen gelungen, Arreststrafen weitestgehend abzuwenden. Das zeigt auch die Auswertung der nachweislichen Häftlingssanktionen zwischen 1978 und Ende 1989, der zufolge Frauen weitaus seltener als Männer mit Arrest belegt worden sind. Im besagten Zeitraum konnten insgesamt 361 einzelne Sanktionen nachgewiesen werden.[24] Nur rund vier Prozent der verhängten Sanktionen gegen Frauen waren Arreststrafen, bei Männern dagegen 15 Prozent. Für die Jahre von 1986 bis 1989 weist die Belegungskartei der Frauen-Arrestzelle nur einen Fall aus.[25] Verstöße gegen die Disziplin und Ordnung sowie Beleidigungen des Personals waren die Hauptkonfliktfelder, derentwegen Männer sanktioniert wurden. Vermutlich konnten sie die Zumutungen des strengen Haftregimes schlechter widerspruchslos hinnehmen als Frauen. Männer haben Anweisungen nicht befolgt, verstießen bewusst gegen die Hausordnung und wurden deswegen häufiger bestraft als Frauen. Die bloßen Zahlen weisen auf ein Selbstverständnis der männlichen Häftlinge hin, das von Stärke, Angriffslust und Widerstand geprägt war. Die Frauen verkniffen sich verbale Unmutsäußerungen. Ihr Hauptkonfliktfeld war die Überwindung des rigiden Kontaktverbots in Bautzen II. Dieser als »illegale Kontaktaufnahme« bezeichnete Verstoß gegen die Hausordnung stellte den bei ihnen mit Abstand am häufigsten geahndeten Strafgrund dar. Die 19 zwischen 1978 und 1989 geahndeten »illegalen Kontaktaufnahmen« gingen in 16 Fällen von Westdeutschen aus, in zwei von Ausländerinnen und nur in einem Fall von einer DDR-Gefangenen.[26] Eine MfS-interne Auswertung der Disziplinarverstöße des Jahres 1979 (Januar bis einschließlich September) führt an, dass die in Bautzen II inhaftierten Bundesbürgerinnen und -bürger mehr als doppelt so häufig Disziplinarverstöße begingen wie Häftlinge aus der DDR – in konkreten Zahlen ausgedrückt: 114 zu 48. Nimmt man allerdings die Kategorien Geschlecht und Herkunft in den Blick, so fällt auf, dass es nur fünf Disziplinarverstöße weiblicher DDR-Häftlinge gab.[27] Gefangene aus der Bundesrepublik begehrten demnach laut Statistik aktiver auf. Die Ursachen mögen vielfältig sein und in ihrer Sozialisation und Prägung, ihrer Sicherheit, die DDR über kurz oder lang wieder verlassen zu können, und der Betreuung durch die Ständige Vertretung zu finden sein. Möglich ist auch, dass das Aufbegehren der Westdeutschen eher geahndet wurde als das der Ostdeutschen.[28]
Der vorliegende Beitrag zeigt, dass ein genauerer Blick auf die Frauen in der Stasi-Sonderhaftanstalt neue Ergebnisse liefert. Wie gezeigt, sind zahlreiche Gender Bias, das heißt Verzerrungen nach Geschlecht, anzutreffen, die bei der historischen Betrachtung des Strafvollzugs in der DDR korrigiert werden müssen. Deshalb sind weitere Arbeiten auf diesem Gebiet notwendig. Wenngleich der DDR-Strafvollzug auf normativer Ebene kaum zwischen weiblichen und männlichen Gefangenen differenzierte und damit die auch nach außen vertretene Gleichberechtigung scheinbar bestätigte, zeigen die Umgangsweisen im Vollzug deutliche Unterschiede. Sich solcher potenziellen wie faktischen Unterschiedlichkeit von Frauen und Männern bewusst zu sein und diese in der Forschung zu berücksichtigen, also die Geschlechterperspektive systematisch einzubeziehen, trägt zur wissenschaftlichen Genauigkeit bei und verbessert unser Verständnis des Strafvollzugs der DDR bzw. generell. Mit Blick auf die Geschichte der Sonderhaftanstalt Bautzen II offenbart sich eine weitere Fehlstelle. Wir wissen zwar seit langem, dass die allermeisten hier inhaftierten Frauen Opfer politischer Verfolgung geworden waren und dieses Unrecht nach 1990 rehabilitiert wurde. Eine tiefergehende historische Beschäftigung mit den konkreten Tatvorwürfen eröffnet jedoch neue Einblicke in die Bedrohungswahrnehmungen der Staatssicherheit, die uns gleichfalls ein neues Verständnis der Rolle und Funktionsweise dieses besonderen Haftortes ermöglichen. Spionage und ihre Verfolgung als Teil der wechselseitigen Gewaltgeschichte des Kalten Krieges zu begreifen unterstreicht zudem, dass die Erinnerung an Bautzen II nicht nur eine ostdeutsche, sondern eine gesamtdeutsche Aufgabe sein muss.
[1] Der Beitrag basiert auf dem Aufsatz Silke Klewin, Vom bloßen Überleben der Zeit. Weibliche Strafgefangene in Bautzen II (1963–1989), in: Gefangen in Bautzen, hrsg. v. Ronny Heidenreich, Silke Klewin und Gerhard Sälter, S. 128–155.
[2] Silke Klewin ist Historikerin und seit 1996 Leiterin der Gedenkstätte Bautzen.
Ronny Heidenreich ist promovierter Historiker. Seit 2021 arbeitet er im Forschungsprojekt »Die DDR im Blick der Stasi« beim BStU, nunmehr im Bundesarchiv.
[3] 1989 rangierte gemessen an den Haftplätzen die öffentlich bekannte Haftanstalt in Hoheneck an dritter Stelle. Hinzu kam die Strafvollzugsabteilung Markleeberg, die administrativ der Strafvollzugseinrichtung Leipzig zugeordnet war. Abteilungen für weibliche Strafgefangene bestanden zu diesem Zeitpunkt in den Haftanstalten Dessau, Waldheim und Bautzen II sowie dem Jugendhaus Hohenleuben.
[4] Grundlegend: Karl Wilhelm Fricke, Silke Klewin, Bautzen II. Sonderhaftanstalt unter MfS-Kontrolle. 1956–1989, Dresden (3) 2007.
[5] Klewin, Überleben, S. 132.
[6] Klewin, Überleben, S. 136–137.
[7] Ronny Heidenreich, Spione und Verräter, in: Bautzen, S. 92-128.
[8] Vgl. Sowjetische Militärtribunale, Bd. 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955, hrsg. v. Andreas Hilger, Ute Schmidt, Mike Schmeitzner, Köln 2003.
[9] Zitiert nach Militärtribunale, S. 739.
[10] In der Sowjetunion verlor das KGB abgesehen von den Untersuchungshaftanstalten die Zuständigkeit für den Unterhalt eigener Haftstätten. In der Folge entstanden Sondergefängnisse mit besonderen Zugriffsrechten der Geheimpolizei. Das bekannteste ist die Haftanstalt im zentralrussischen Wladimir, in welcher zahlreiche sowjetische Dissidenten, aber auch Mitarbeiter westlicher Geheimdienste inhaftiert wurden.
[11] Heidenreich, Spione.
[12] Vgl. Erika Lokenvitz, in Fricke, Klewin, Bautzen II, S. 214; Reinhard Borgmann, Die vier Leben der Erika Lokenvitz. In: Silke Klewin, Cornelia Liebold, Wege nach Bautzen II. Biographische und autobiographische Porträts, Dresden 1998, S. 83–98; Rüdiger Bergien, Im Generalstab der Partei. Organisationskultur und Herrschaftspraxis in der SED-Zentrale 1946-1989, Berlin 2017, S. 288–289.
[13] So wurden 1963/64 unter anderem die letzten Hauptangeklagten des ersten großen Spionageabwehrprozesses vom Dezember 1953 gegen Mitarbeiter der Organisation Gehlen aus Bautzen II entlassen. Ronny Heidenreich, Daniela Münkel, Elke Stadelmann-Wenz, Geheimdienstkrieg in Deutschland. Die Konfrontation von Organisation Gehlen und DDR-Staatssicherheit, Berlin 2016.
[14] Ronny Heidenreich, Die DDR-Spionage des BND. Von den Anfängen bis zum Mauerbau, Berlin 2019.
[15] Fricke, Klewin, Bautzen II, S. 196.
[16] Hier Bezug nehmend auf Heidenreich, Spione, S. 92–128.
[17] Petra Fischer-Jehle, Frauen im Strafvollzug. Eine empirische Untersuchung über Lebensentwicklung und Delinquenz strafgefangener Frauen, Bonn 1991, S. 13–15.
[18] Vgl. Erich Buchholz et al., Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz – erläutert für die Angehörigen des Organs Strafvollzug, Berlin 1969.
[19] Hausordnung der StVE Bautzen II, 1.1.1987, »Körperpflege und Hygiene«, S. 6, HSGB, XB-2.
[20] Interview 25.6.2010, Transkript S. 14, HSGB, Sammlung Uhlig. Beate Uhlig war zwischen November 1985 und Mai 1986 wegen »versuchter Republikflucht« in Bautzen II inhaftiert.
[21] Zur Gefangenenarbeit vgl. Fricke, Klewin, Bautzen II, S. 83–89.
[22] Interview 11.9.2020, Transkript S. 19, HSGB, Sammlung Zimnak. Gabriele Zimnak wurde 1984 wegen »staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme« zu drei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Sie verbüßte ihre Haftstrafe vom 8.11.1984 bis zum 28.5.1986 in Bautzen II.
[23] »Gen. Ult. Brade sagt, daß die SG über Arreststrafen nur lächeln.« Protokoll der Leitungsberatung vom 26.9.1978, HSGB, AB-101.
[24] Vgl. Gerhard Sälter, Ordnung, Disziplin und Normerfüllung: Konfliktfelder zwischen Personal und Insassen im DDR-Gefängnis Bautzen II in den 1980er-Jahren, in: Personal und Insassen von »Totalen Institutionen« – zwischen Konfrontation und Verflechtung, hrsg. v. Falk Bretschneider, Martin Scheutz, Alfred Stefan Weiß, Leipzig 2011, S. 197–223.
[25] HSGB, XEE-1 (3).
[26] Die MfS-eigene Statistik subsumiert hier die BRD und Westberlin entgegen der offiziellen Doktrin nicht unter der Kategorie »Ausland«.
[27] Helmut Mähler, Fachschulabschlussarbeit zum Thema: Die Suche, Auswahl und Instruierung geeigneter rechtskräftig verurteilter inoffizieller Mitarbeiter des MfS für den Einsatz in der Strafvollzugseinrichtung Bautzen II vom 14. 12. 1979, BArch, ZA, HA IX 531, Bl. 48.
[28] Tobias Wunschik, Selbstbehauptung und politischer Protest von Gefangenen im DDR-Strafvollzug, in: Macht, Ohnmacht, Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR, hrsg. v. Ehrhart Neubert und Bernd Eisenfeld, Bremen 2001, S. 267-292, hier S. 273-274.