„Es hat mich geprägt fürs ganze Leben – Christina Schmidt-Kensche“

von Grit und Niklas Poppe

Aus dem Kapitel „Es hat mich geprägt fürs ganze Leben – Christina Schmidt-Kensche“
Auszug aus „Verschleppt, verbannt, verschwunden – Deutsche Kriegsjugend in Stalins Lagern und Gefängnissen“, Mitteldeutscher Verlag 2024[1]

(…) Im Wintersemester 1947 begann Christina damit Germanistik zu studieren. Im idyllischen Greifswald verliefen die Vorlesungen noch nach altem Ritus. Von den neuen ideologischen Vorgaben war in dieser Zeit nicht viel zu merken. Sogar der Studentenrat wurde noch frei gewählt. Sie fühlte sich wohl in Greifswald und war auf einem guten Weg.

Vielleicht auch deshalb trafen sie die schicksalhaften Ereignisse im Sommersemester umso härter. 
Am 30. Juni 1948 kam ein Kommilitone beim Mittagessen in der Mensa auf sie zu. „Du sollst mal beim Studentenrat vorsprechen.“
„Okay, wenn ich gegessen hab, komm ich“, antwortete Christina und wunderte sich ein bisschen. Was wollten die denn von ihr?
Als sie das Büro in der oberen Etage betrat, sah sie einen sowjetischen Offizier am Tisch sitzen, der sie seltsam anstarrte.
Der Vorsitzende vom Studentenrat strich sich nervös durchs Haar. Auch er blickte sie auf eine Art an, dass ihr mulmig wurde. „Du sollst mal auf die Kommandantur mitkommen, die haben da ein paar Fragen an dich“, erklärte er.
Zögernd folgte sie dem Offizier die Treppen hinab. Auf der Straße wartete ein Geländewagen mit sowjetischen Soldaten. Christina wurde in das Auto verfrachtet und ehe sie sich versah, fuhren sie schon davon. Doch statt an der Kommandantur zu halten, verließen sie die Stadt.
„Was ist denn los? Wo bringen Sie mich hin?“
Sie erhielt keine Antwort. Niemand sprach auch nur ein Wort mit ihr. Irgendwann merkte sie, dass sie Richtung Berlin fuhren.
Als sie in Potsdam in der Leistikowstraße ankamen, wusste sie nicht, wo sie sich überhaupt befand. Wie in einem Albtraum stand sie vor dem grauen angsteinflößenden Gefängnisgebäude und hatte nicht die geringste Ahnung, warum sie hierhergebracht wurde.

Zeit um das festzustellen gewährte man ihr nicht, sondern führte sie sofort in den Keller – in eine Zelle mit einem betthohen Holzgerüst und einem Eimer. Das Fenster war eher ein vergitterter Luftschacht. Es drang kein Tageslicht zu ihr. Sie hatte nichts mitnehmen können, nur die Kleidung, die sie auf dem Leib trug. Eine Birne brannte Tag und Nacht. „Als ich in diesem Loch hockte, wusste ich: Jetzt bist du eingesperrt.“ Aber warum? Worum ging es hier? Da sie sich weder setzen, noch hinlegen durfte, stand sie in der Zelle und grübelte über einen möglichen Grund nach.

Hatte es irgendetwas mit der Uni zu tun? Sicher, sie wollten Veränderungen an der Uni und die neue politische Bevormundung, die sich anbahnte, z. B. durch die FDJ, lehnten sie ab. Aber sie hatte nichts angestellt!  Nervös lief sie die zweieinhalb Schritte vor der Pritsche hin und die zweieinhalb Schritte zurück. Ab und zu bemerkte sie ein scharrendes Geräusch an der Tür; jemand beobachtete sie durch das Guckloch. Ein Schauer jagte ihr über den Rücken.

Um Mitternacht spielte die Hymne der Sowjetunion. „Wenn ich die hörte, war ich heilfroh, denn dann durfte ich mich endlich hinlegen und schlafen.“  Aber oft währte die Zeit des Schlafs nur sehr kurz. Bereits in der ersten Nacht wurde sie zum Verhör geholt. Und auch die folgenden Verhöre fanden stets nachts statt. Zur Befragung führte der Posten sie über den Hof ins Nachbargebäude in den ersten Stock.

Nach der Zeit im dunklen Kellerloch genoss sie den Ausblick aus dem Fenster beinahe. Eine Laterne brannte dort. Von nun an würde sie die immer sehen, wenn sie hierhergebracht wurde. Der Name Teschner fiel recht schnell. Sie war erleichtert, als sie ihn hörte. Mit dem hatte sie ja nichts zu tun. Das wird sich aufklären, dann komme ich wieder nachhause, dachte sie. Der Dolmetscher sprach gutes Deutsch, verhielt sich nett und freundlich. Körperliche Übergriffe gab es keine. Als Psychofolter empfand sie jedoch den Schlafentzug. Am Tage durfte sie nicht schlafen und nachts fanden die Verhöre statt.

Sie wollten Namen von ihr. Doch Christina wusste nichts von einer Gruppe. Die Befrager ließen nicht locker: Was sie für Informationen habe, wer noch dazugehören würde … Immer wieder drängten die Offiziere sie, andere zu benennen.
In ihrer Ratlosigkeit und Verzweiflung dachte sie sich einen Trick aus. Sie nannte den Namen einer Klassenkameradin aus Liegnitz, die gestorben war. Dann fielen ihr noch Leute ein, die bereits im Westen lebten.

Einmal wurde Christina zu einer unüblichen Zeit plötzlich aus der Zelle geholt und auf dem Hof an die Wand gestellt. Einen Moment rechnete sie damit, dass der Posten sein Gewehr auf sie richten und schießen würde. Aber im nächsten Augenblick wurde ihr ein Schild mit einer Nummer und russischer Schrift in die Hand gedrückt. Statt einer Waffe zog der Uniformierte einen Fotoapparat. Mal sollte sie sich nach rechts, mal nach links drehen – und sie versuchte dabei das Zittern, das in ihren Knien saß, zu unterdrücken. Im nächsten nächtlichen Verhör wollte man ihr wieder nachweisen, dass sie irgendwelche Informationen hätte. Durch den Schlafentzug konnte sie sich kaum noch auf den Beinen halten. Der Vernehmer war manchmal recht rüpelhaft zu ihr, aber geschlagen wurde sie nicht. Nach der Befragung las ihr der Dolmetscher die Protokolle vor. „Ich habe nichts ausgesagt, was mir hätte Schwierigkeiten machen können. Ich hatte nichts mit der Sache zu tun.“

Erst später stellte sie fest, dass es völlig egal war, ob sie schuldig oder unschuldig war. Selbst wenn sie ihre Unschuld beweisen könnte, würde ihr das nicht helfen. Sie hatte keinen Anwalt, niemanden, der ihr beistand. Ihre Hoffnung, dass man sie gehen lassen würde, zerschlug sich. Neben dem fehlenden Schlaf, der Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit zermürbten sie auch die hygienischen Verhältnisse. Nie bekam sie frische Wäsche. Nie konnte sie sich richtig waschen. Morgens beim Kübelausleeren führte man sie an ein Waschbecken. Unter dem Wasserhahn wusch sie sich notdürftig. Die Kleidung auszuziehen, um sich mal ganz zu säubern, war nicht möglich.

Mit der Zeit stumpfte sie ab und nahm die menschenunwürdigen Gegebenheiten hin.
Sie litt so oder so unter der Gefangenschaft. Ob sie schmutzig in der Zelle hockte oder sauber – was spielte das für eine Rolle? Als nach ein paar Wochen die Verhöre aufhörten, dachte sie: Jetzt haben die dich vergessen und du bleibst für immer in diesem Loch. Ohne Tageslicht, mit der Glühbirne, die beständig auf sie herabschien, ohne Kontakt zu irgendjemandem, ja, sogar ohne die Laterne, die sie sonst betrachtete, wenn sie zum Verhör geführt wurde, begann sie damit, sich eine Geschichte auszudenken. Am nächsten Tag folgte die Fortsetzung. Am Tag darauf ging es weiter. Ganze Romane entstanden in ihrem Kopf. „Ich bin aus der realen Welt ausgetreten. Die Technik habe ich entwickelt, um zu überleben. Man musste ja irgendwie seinen Geist beschäftigen. Es gab welche, die drehten total durch. Die randalierten fürchterlich.“

Christina verbrachte die Haft in der Potsdamer Leistikowstraße vollkommen isoliert. Sie sah niemanden von den anderen Gefangenen. Manchmal hörte sie draußen vor der Tür Stimmen und versuchte herauszufinden, was geredet wurde. Oft dachte sie an ihre Eltern, die nicht wussten, wo sie war. Niemand durfte sie besuchen oder ihr ein Päckchen schicken. Keine Nachricht, kein Kassiber konnte aus diesem abgeschirmten Gefängnis geschmuggelt werden.

Einmal während dieser Zeit durfte sie in die Badewanne. Im Raum standen ein Ofen und die halbgefüllte Wanne. Sie erhielt etwas Waschpulver. Sich ganz auszuziehen, erschien ihr aber in dieser Situation unmöglich. Auch wenn die Wächter nichts taten, außer sie mürrisch zu bewachen und zu kontrollieren, ob sie sich an die Regeln hielt, lebte sie in der beständigen Angst vor einem Übergriff. Die Mahlzeiten waren kärglich. Meist gab es Kascha, manchmal etwas Brot dazu. Kein Gemüse, kein Obst, nichts Frisches. Als sie ein einziges Mal ein kleines Stück Gurke erhielt, bewahrte sie es auf, um so lange wie möglich daran zu riechen.

Im Oktober hieß es dann eines Tages: „Mitkommen!“ Christina Kensche wurde in den Saal geführt, in dem das Tribunal stattfand. Erstmalig sah sie die anderen Angeklagten der „Gruppe Teschner“. Sie saßen auf Kirchenbänken, bewacht von Uniformierten mit Maschinenpistolen. Der sogenannte „Fall Teschner“ wurde verhandelt. Sie kannte niemanden – abgesehen von Dieter Teschner, der sich während des Prozesses auffällig devot verhielt.  Name für Name wurde aufgerufen, der Paragraph war immer der gleiche, die Worte der Anklage ähnelten sich. „Bekennen Sie sich schuldig?“, wurde sie gefragt und sollte aufstehen, um zu antworten.
„Ich bekenne mich nicht schuldig!“ Ihr Strafmaß: 15 Jahre. Zu verbringen in einem Arbeitslager. Fast alle anderen bekamen 25 Jahre. Die drei, die 15 Jahre erhielten, hatten mit der Sache absolut nichts zu tun. Nach dem Tribunal wurden sie und die anderen erstmal zusammen über den Hof geführt.
Alle alberten über das Urteil herum. „25 Jahre – das konnte sich keiner vorstellen. Selbst 15 Jahre waren unvorstellbar.“ Um sich abzureagieren, rissen sie Witze. Niemand glaubte, dass der Urteilsspruch wahr werden konnte. Und was sollte das bedeuten, dass sie die Strafe in einem Lager ableisten sollten?
„Wir kommen nach Russland“, sagte einer. Auch das konnte Christina nicht glauben. Zu ungeheuerlich erschien ihr diese Vorstellung.

In LKWs wurden die Verurteilten wenige Zeit später in das Speziallager nach Sachsenhausen gebracht. „Wir 58er waren von vornherein für Russland vorgesehen. Wir kamen in Sachsenhausen in eine besondere Baracke.“ Es war Winter. Jeden Tag mussten sie draußen zum Apell antreten. Bei der sogenannten Zählung stellte Christina Kensche fest, dass es wieder mehr inhaftierte Frauen geworden waren. Täglich kamen neue Verurteilte hinzu. „Das waren alles Leute, die verdächtigt wurden gegen die Russen irgendwas gemacht zu haben.“

Vor der bevorstehenden Deportation in die Sowjetunion hatte Christina zunächst keine Angst. Vielleicht, weil sie sich nichts darunter vorstellen konnte. Doch eines Tages erlebte sie, wie eine gefangene Russin versuchte, sich selbst zu verletzen, um nicht auf Transport gehen zu müssen. In der Baracke wurde ein Kanonenofen beheizt, der dann schnell anfing zu glühen. Die Russin setzte sich ganz dicht an den heißen Ofen und dann ging sie raus in den Frost. Sie legte es darauf an, krank zu werden. Christina, die das beobachtete, bekam nun doch ein mulmiges Gefühl. Wovor hatte diese Gefangene solche Angst, dass sie unbedingt in Sachsenhausen bleiben wollte?

Anfang Februar 1949 war es dann so weit: Christina Kensche und die anderen Frauen gingen auf Transport in die Sowjetunion. Auch die Russin, die versucht hatte, sich durch Krankheit zu entziehen, musste mit.  Die Fahrt in Viehwaggons empfand Christina als grausam. Eng zusammengepfercht hockten sie auf den Brettern, die als Pritschen dienten. Doch längst nicht für jede gab es einen Schlafplatz. Wer keinen Platz fand, musste auf dem Boden kauern. Nachts wurden bei einem Stopp die Waggons von außen mit Eisenhämmern abgeklopft. Man wollte wohl sichergehen, dass niemand ein Brett gelöst und einen Fluchtversuch unternommen hatte.
Zu essen gab es ein stinkendes Kraut, vor dem sich Christina ekelte. Auf einer Zwischenstation in Weißrussland kamen die Inhaftierten für ein paar Tage ins Gefängnis. Dort wurden die Transporte wieder anders zusammengestellt. Für einige ging es nach Norden, für andere nach Westen. Das Ziel, zu dem sie gebracht werden sollten, kannten sie nicht. Das nächste Mal wurden sie in Moskau aus den Viehwaggons „ausgeladen“ und kamen in ein riesiges Gefängnis. Christina landete in einer Zelle mit 40 bis 45 Frauen, die alle aus verschiedenen Gegenden kamen: Ukrainerinnen, Russinnen, Lettinnen, Litauerinnen und Deutsche waren hier zusammengesperrt. Zankereien ums Essen oder auch um die Schlafstatt blieben nicht aus. Doch trotz gelegentlicher Anfeindungen erlebte sie von diesen Frauen keinen ausgesprochenen Hass gegen sich als Deutsche.

In Moskau ereignete sich eine merkwürdige Begebenheit, die Christina nicht mehr vergessen sollte. In der großen Zelle gab es auch eine Frau von Mitte 30, von der es hieß, sie sei Wahrsagerin. Die kam eines Tages zu Christina und zwei weiteren Frauen und bot ihre Künste an. Christina war zunächst skeptisch, doch schließlich dachte sie: Warum nicht, ist wenigstens ein bisschen Ablenkung. Die Wahrsagerin ließ sich das Geburtsdatum nennen, breitete ein grünes Tuch auf ebener Fläche aus und ließ dann aus Brot geformte Kugeln aus der Hand fallen. Je nachdem, wie sie fielen, prophezeite sie die Zukunft. Zu Christina sagte sie, dass sie sich keine Sorgen machen solle, nach fünf Jahren würde sie aus dem Lager nachhause kommen, drei Kinder bekommen und viele Reisen unternehmen. Auch wenn die Frauen hinterher Witze darüber machten, für Christina wurde die Prophezeiung ein Rettungsanker in der Not. „Immer wenn’s gar zu schlimm wurde oder die Kälte unerträglich war, hab ich zu den anderen gesagt: Kommt, haltet durch! Ich fahr nachhause. Und wenn ich nachhause fahre, dann fahrt ihr auch nachhause!“

Nach etwa 10 Tagen erfolgte der Transport von Moskau nach Wologda.
„In Wologda trafen wir deutsche Kriegsgefangene, die, weil sie bestimmten Truppenteilen angehört hatten, alle en Block zu 25 Jahren verurteilt wurden. Die waren fassungslos, ja, konnten sich gar nicht beruhigen, dass man da junge Frauen in ein Arbeitslager verschleppt.“  Nach ca. 1 500 weiteren in Viehwaggons zurückgelegten Kilometern gelangten sie an ihren „Bestimmungsort“ – das Lager Inta. Zunächst war Christina froh, dass sie nun endlich angekommen waren. Zu Fuß lief sie mit den anderen von der Bahnstation zum Lager. Es war Winter. Sie stapfte mit ihren Halbschuhen durch den hohen Schnee und hatte noch Glück. Viele besaßen nur noch kaputtes Schuhwerk.

Eine Zeitlang kam sie nun in Quarantäne. Dort wurden die Frauen von Ärzten untersucht, in Arbeitskategorien eingeteilt und sie bekamen der Witterung angemessene Kleidung – Wattejacken und Walenki[2]. Anschließend erfolgte die Einweisung in bestimmte Baracken – je nach Alter, Arbeit und Brigade. Christina arbeitete mit Litauerinnen zusammen, die ihr einen Spitznamen gaben und sie unter ihre Fittiche nahmen. Doch Christina wurde beinahe sofort krank. Mit Bauchtyphus kam sie auf die Isolierstation. Ein polnischer jüdischer Arzt, der gut Deutsch konnte, kümmerte sich um sie. Er tat alles, um der Schwerkranken das Überleben zu ermöglichen. Der Arzt, der ebenfalls ein Gefangener war, besaß einen guten Ruf, so dass auch die „Freien“, die außerhalb des Lagers lebten, zu ihm kamen. Sogar ihre Kinder wurden von ihm behandelt. Damit hatte der Arzt sich eine Quelle verschafft, um Nahrung für seine Patienten zu erhalten. Er sorgte dafür, dass auch Christina statt der kärglichen Lagerkost gehaltvolle Mahlzeiten bekam. Einmal erwachte sie mit hohem Fieber. Der Arzt saß an ihrem Bett. „Heute ist die Krise“, erklärte er ihr, „ich weiche nicht, bevor ich weiß, wir haben es hinter uns.“ Die ganze Zeit, während sie fieberte und sich zwischen Leben und Tod befand, blieb er bei ihr.
„Das werde ich ihm nie vergessen.“

Später dachte sie darüber nach, dass es wohl keine gute Idee gewesen war, dass sie bei einem Halt auf dem Transportweg von Sachsenhausen nach Inta das Wasser aus einem Tümpel getrunken hatte, statt sich nur damit zu waschen. Es dauerte lange, ehe sie sich etwas von der schweren Krankheit erholte. Sie war geschwächt und stark abgemagert und der Arzt bemühte sich weiterhin darum, dass sie vernünftige Nahrung bekam. Während der vier bis fünf Wochen in der Isolierstation lernte sie eine Estin kennen, die für ihn als Krankenschwester arbeitete, und die eine sehr gute Freundin für Christina wurde. „Sie hat mir erzählt, was der Arzt alles auf die Beine stellte, um zum Beispiel an Weißbrot zu kommen.“

Der Arzt stufte sie bei Entlassung als „Invalidin“ ein. Dennoch arbeitete sie zunächst in der Brigade der Litauerinnen weiter. Sie sammelte Äste, machte Feuer und kochte Tee für die Frauen, die sich zu ihr weiterhin kameradschaftlich verhielten. Nach einiger Zeit kam sie dann nach Abes, in ein Frauen-Invalidenlager. Auch die estnische Freundin ging mit auf Transport. Sie wurde dort als Krankenschwester gebraucht.

In dem ehemaligen Kriegsgefangenenlager angekommen, setzte sich die Estin an ein Klavier, das dort noch in der alten Kulturbaracke stand, und fing an zu spielen. Christina hörte ihr fasziniert zu. „Wahrscheinlich war das Klavier völlig verstimmt, aber das bekam ich vor lauter Freude über diese Klänge gar nicht mit.“ Anders als in Inta gab es in Abes auch Kultur – unter der Leitung eines Kulturoffiziers. In die gelegentlichen Kino-Vorstellungen durften allerdings nur Frauen, die höchstens eine Strafe von 10 Jahren hatten. Christina war mit ihrem Strafmaß von 15 Jahren von dieser Vergünstigung ausgeschlossen. Doch der Estin gelang es, ihre Freundin hin und wieder mit hineinzuschmuggeln. Später gab es auch Theatergruppen. Zwar spielte Christina nicht mit, weil sie die Sprache nicht beherrschte, aber sie saß bei den abendlichen Proben oft dabei, die Stücke konnte sie irgendwann fast auswendig – und auf diese Art lernte sie nach und nach Russisch. Immer besser gelang es ihr, sich zu verständigen und auszudrücken. Schließlich war sie sogar in der Lage, Turgenjew und Tolstoi im Original zu lesen.

Zur Arbeit gingen die Frauen täglich zu Fuß – in Fünferreihen und manchmal untergehakt. Wenn sie nicht schnell genug liefen, gab es vom Posten schon mal einen Schlag mit dem Kolben ins Kreuz. Doch sofort reagierten die anderen Frauen mit wildem Protest und sie hörten wieder damit auf.

Nur wenn es dort kälter wurde als minus 30 ° mussten die Insassinnen nicht mehr raus zur Arbeit. Christina erlebte dort sogar Temperaturen von bis zu minus 60 °.
Die Kälte machte ihr schwer zu schaffen. Dadurch, dass sie draußen inmitten von Eis und Schnee pinkeln mussten, wurden ihre Nieren nachhaltig geschädigt. Nur wenige Zeit nach ihrer Rückkehr, wurde ihr deshalb eine Niere operativ entfernt. Später arbeitete Christina auch in der Handarbeitsabteilung. Dort wurden Teppiche geknüpft, gehäkelt und gestrickt. Die „Freien“ brachten Aufträge und Material, so dass die Lagerinsassinnen viel für deren Kinder anfertigten. Zehn Stunden täglich arbeiteten die Frauen, aber für Christina war wichtig, dass sie im Warmen saß und Gesellschaft hatte. So konnte sie sich etwas von den Strapazen der zurückliegenden Zeit erholen.

Im Lager lebten viele alte und kränkliche Frauen verschiedener Nationalitäten. Christina half ihnen, wenn es nötig war. Manchmal bekam sie dafür etwas von den Paketen der Russinnen ab. Die Deutschen durften weder Pakete noch Briefe empfangen und keine Post verschicken. Abgeschoben ins Invalidenlager wurden auch die „Totalverweigerinnen“ – das waren hier die „Christlichen Bäuerinnen“, auch „Altgläubige“ genannt. Die machten nichts, was man von ihnen verlangte: Sie gingen nicht zum Duschen, nicht zum Essen, verweigerten die Einnahme von Medikamenten und Arztbesuche. „Die saßen in ihren Baracken und sangen Tag und Nacht, schwermütige, sehr schöne russische christliche Chöre.“ Christina musste zusammen mit anderen die „Christlichen Bäuerinnen“ auf Holztragen zum Duschen transportieren, sie dort ausziehen und abseifen, dafür sorgen, dass ihre Kleidung in die Entlausung kam und ihnen auch das Essen in großen Kübeln in die Baracke bringen.

Bestraft wurden die Verweigerinnen nicht mehr, man hatte sich mit ihrem Verhalten offenbar abgefunden. Da in Abes die Kranken und Schwachen lebten, verzichtete man wohl auf die in anderen Lagern übliche Bestrafung für Vergehen. 
Auch eine Karzerstrafe widerfuhr Christina in Abes nicht und sie hörte auch nichts davon, dass andere Frauen auf die Art bestraft wurden. Doch auch in diesem Lager kam es zu Suizidversuchen. Frauen rannten nachts gegen den Stacheldraht.
„Wenn eine das machte, liefen vier bis fünf hinterher. Sie versuchten da hochzuklettern und wurden erschossen.“

Dass jemand mal geflohen wäre, erlebte Christina hingegen nicht. Wohin sollte man in dieser lebensfeindlichen Schneewüste auch fliehen? 1951 wurde eine Deutsche, die aus München stammte, aus Abes entlassen. Bevor sie die Rückkehr antrat, lernte sie die Adressen von allen Eltern ihrer Leidensgefährtinnen auswendig. Schriftliches durfte nicht mitgenommen werden. Christinas Mutter, die nicht wusste, wo ihre Tochter abgeblieben war und ob sie überhaupt noch lebte, erhielt so erstmalig ein Lebenszeichen. „Das Schlimmste war für mich, was meine Mutter durchmachen musste. Zum Glück war ja da noch meine jüngere Schwester, um die sie sich kümmerte. Das hat sie am Leben erhalten.“

Im März 1953 hörten sie aus den Radios in den Baracken, dass Stalin gestorben war. Während die Deutschen voll Hoffnung die Rundfunkberichte verfolgten, die Todesnachricht begrüßten und sich gegenseitig beglückwünschten, fingen die Russen an zu trauern. Väterchen Stalin war tot! Christina verstand diese Reaktion nicht. „Das war einfach unglaublich. Der hatte sie in diese verzweifelte Lage gebracht und sie trauerten fürchterlich!“

Im Mai 1953 arbeitete Christina mit einigen Litauerinnen gerade außerhalb des Lagers. Die Gefangenen aus Litauen beherrschten aus der Partisanenzeit noch eine Zeichensprache und konnten sich über größere Abstände hinweg verständigen. Auch mit den 200 Meter weiter entfernt arbeitenden Männern verständigten sie sich auf die Art. Auf einmal kamen die Litauerinnen zu Christina gerannt und riefen ihr aufgeregt zu: „Du, es gibt Neuigkeiten! Die Deutschen fahren nach Haus! Im Männerlager werden schon alle zusammengetrommelt.“

Christina dachte sofort an die Wahrsagerin in dem Moskauer Gefängnis. „Ich hab’s euch doch immer gesagt. Im Juni sind meine fünf Jahre um!“ Als sie von der Arbeit ins Lager zurückkamen, hieß es gleich: „Die Deutschen sollen sich melden!“ Christina ging erstmal Mittagessen. Sie wusste ja schon von der Wahrsagerin, dass es jetzt für sie heimwärts gehen würde. (…)


[1] Mit Dank an die Autoren und den Verlag.

[2] Filzstiefel