Auf ganzer Linie gescheitert: Erziehung im »Jugendhaus Halle«
Von Udo Grashoff[1]
»Jugendhäuser« waren Gefängnisse für junge Menschen ab 14 Jahren, die entweder kriminelle Straftaten begangen hatten oder wegen politischer Delikte wie des Versuches der »Republikflucht« zu Haftstrafen verurteilt worden waren. Das größte und modernste Jugendgefängnis der DDR bestand ab 1971 in Halle (Saale). Der Neubau des Jugendhauses war mit Reformideen verbunden: »Wir wollen unbedingt etwas Neues machen. Wir wollen unbedingt einen wissenschaftlichen Vollzugsprozeß aufbauen«,[2] hieß es auf einer Parteiaktivtagung der Bediensteten im Jahr 1974. Jugendliche Delinquenten sollten anders behandelt werden als erwachsene Straftäter, da bei den Heranwachsenden mehr Hoffnung bestand, dass ihre Straftat eine einmalige Episode bleiben würde. Der Strafvollzug sollte milder sein als in bereits existierenden Jugendgefängnissen der DDR und sich sowohl »in Inhalt und Formen« als auch »in den Rechtsfolgen« unterscheiden: »Bei der Einweisung in ein Jugendhaus handelt es sich um eine Strafe mit spezifischem Erziehungscharakter«, erläuterte eine Konzeption aus den frühen 1970er Jahren: »Das schließt ein, daß die Beziehungen und feste soziale Bindungen zur Gesellschaft, ihrem Leben und insbesondere auch zu den Erziehungsberechtigten des Jugendlichen hergestellt und gefördert werden.« Es gehe darum, ein »echtes pädagogisches Klima« zu schaffen, um bei jugendlichen Straftätern, »bei denen über längere Zeit Fehlverhaltensweisen zu einer erheblich verfestigten Fehlentwicklung geführt haben«, eine Überwindung dieser Fehlentwicklung »durch eine exakt geplante sinnvoll gestaltete Erziehungsarbeit« zu erreichen.[3]
Selbsterziehung statt Neubeginn
Eberhard Mannschatz, das »Mastermind« hinsichtlich der Umerziehung schwer erziehbarer Jugendlicher in der DDR, maß den bei der Erziehung unweigerlich auftretenden Konflikten eine zentrale Bedeutung bei. Wenn Jugendliche durch grobe Disziplinverletzungen mit den Ordnungsstrukturen der Gesellschaft in Konflikt gerieten, sei das der Ansatzpunkt für eine Besserung: »Eine ›Sternstunde‹ für die Persönlichkeitsentwicklung ist eingetreten, deren Chance genutzt oder verspielt werden kann«, schrieb Mannschatz im Jahr 1979. Die Erzieher hätten es in der Hand, darauf hinzuarbeiten, ob eine soziale Fehlentwicklung verschlimmert oder gemildert werde: »Die gesellschaftlich-erzieherische Reaktion auf eine grobe Verletzung der gesellschaftlichen Disziplin ist entweder auslösender Faktor für eine Entwicklung in Richtung Schwererziehbarkeit (bzw. weitere Ausprägung derselben) oder Einleitung der Umerziehung.« Die große Herausforderung der Umerziehung sei es, den »Teufelskreis« von Erziehungsdruck und Widerstand zu durchbrechen und »Voraussetzungen für einen Neubeginn« zu schaffen.[4]
Das ist im Jugendhaus Halle, sieht man von wenigen Ausnahmen ab, nicht erfolgt. Die Chance der »Sternstunde« wurde verspielt. Der Teufelskreis von Repression und Widerstand konnte in den meisten Fällen nicht durchbrochen werden. Das lag zum einen daran, dass eine Hauptmethode der Erziehung darin bestand, die Erziehung an durchsetzungsfähige Jugendliche, die sogenannten »Chefs«, zu delegieren. Die als Gruppen-, Trakt- und Stationsälteste eingesetzten Jugendlichen durften selbst entscheiden, mit welchen Mitteln die Vorgaben für Ordnung und Disziplin in ihrer Gruppe durchgesetzt wurden. Diskriminierung, Diebstahl, physische und psychische Gewalt wurden so zur alltäglichen Erfahrung der Jugendlichen. Die als Erzieher eingesetzten Offiziere wussten, dass es in den Gruppen häufig zu physischer Gewalt und Drangsalierungen kam, nahmen diese Machttechniken der Häftlingsgesellschaft aber billigend in Kauf. Sie schauten bei Rangeleien und Misshandlungen weg, solange es nicht zu schweren körperlichen Schäden kam, die medizinisch behandelt werden mussten.
Das Erziehungsprinzip hieß »Selbsterziehung« und bedeutete nicht wie in normativen Texten sowjetischer Kriminologen, dass Straftäter Einsicht in die eigene Verfehlung gewannen und aus dieser Einsicht heraus handelten.[5] Im Gegenteil, die Praxis der Selbsterziehung im Jugendhaus Halle bestand darin, dass bei Verstößen einzelner Häftlinge gegen Ordnung oder Disziplin das gesamte Kollektiv bestraft und zugleich erwartet wurde, dass die Gruppe im Anschluss dem »Schuldigen« einen Denkzettel verpassen würde. Das geschah dann oft in Form schwerer körperlicher Misshandlungen.
Militärischer Drill als Erziehungsmethode
Eine zentrale Kollektivstrafe war das Strafexerzieren. »Da haben die uns stundenlang in diesen komischen Uniformen, das war Filz von der Armee, um dieses Karree gejagt, bis die ersten rechts und links abgeklappt sind. Dann wurde abgebrochen, und die kamen dann auf medizinische Station«, zitierte ein Bericht der Erfassungsstelle Salzgitter, die Menschenrechtsverletzungen in DDR-Gefängnissen dokumentierte, einen ehemaligen Häftling des Jugendhauses.[6] Dass diese Praxis kontraproduktiv war, musste selbst der Leiter des Jugendhauses, Oberstleutnant Werner Fittke, im Jahr 1983 einräumen: »Überspitzte Disziplinforderungen einiger Erzieher, in Form der Ausführung von Liegestützen, Marschübungen u.a. den preußischen Drill kennzeichnenden Formen und Methoden führen letzten Endes zu Zweifel am humanen Charakter des Strafvollzuges, bis hin zu Störungshandlungen Strafgefangener und Jugendlicher«, mahnte er und forderte, Erzieher müssten Kenntnis haben von Konflikten in den Gruppen und darauf Einfluss nehmen.[7] Ein Jahr später wurde er abgesetzt, und in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre sank die Zahl der Gewalttaten. Exerzierübungen gehörten jedoch noch bis 1989 zum Alltag des Jugendhauses.
Das Festhalten am militärischen Drill geschah aus der Überzeugung, dass zur Umerziehung der jugendlichen Straftäter ein permanenter Anpassungs- und Leistungsdruck erzeugt werden müsse. Für die Leitung des Jugendhauses bestand Erziehung vor allem im Erzwingen von Ordnung und Disziplin. Das geschah, neben dem ständigen Marschieren, durch einen streng getakteten Tagesablauf, Zwangsarbeit mit hohen Leistungsanforderungen und kollektiver Unterbringung in Zellen, in denen acht bis zehn Jugendliche auf engstem Raum ohne Privatsphäre zusammengepfercht waren. Die Grundidee dieser Zwangserziehung bestand laut Mannschatz darin, kriminelles Verhalten im Sinne Makarenkos[8] durch eine lückenlose totale Beeinflussung zu beseitigen, indem »die gesamte Ausgestaltung der arbeitsfreien Zeit durch die Erziehungskräfte des Jugendhauses bestimmt und gelenkt« wird.[9] Dabei waren die Grenzen zwischen routinemäßigem Drill und Schikane sowie zwischen Erziehung zu Ordnung und Disziplin und Bestrafung fließend. Ende 1976 schilderte ein Jugendlicher gegenüber dem Staatsanwalt für Strafvollzugsaufsicht, dass »sie zu jeder Gelegenheit im Laufschritt gedrillt wurden«.[10]
Wenn sich von einzelnen Gefängnispädagogen Widerstand gegen die Erziehungsmethoden regte, wurden sie der »Gefühlsduselei« bezichtigt. So geschah es etwa auf der bereits erwähnten »Aktivtagung« der SED im Jahr 1974. Hier wandte sich die Parteileitung des Jugendhauses gegen zu viel Pädagogik und forderte, »vor allem, eine straffe Ordnung, Disziplin und Sicherheit mit aller Konsequenz durchzusetzen«.[11] Damit ähnelte der Gefängnisalltag in Halle dem in der ersten deutschen Jugendhaftanstalt in Wittlich (1912 gegründet), wo neben der Berufsausbildung »militärischer Drill und Exerzierunterricht als ›Erziehungsmethoden‹ […] eine große Rolle« spielten.[12]
Auch die in eigens auf dem Gefängnisgelände errichteten Werkshallen durchgeführte Zwangsarbeit war durch Monotonie und zugleich durch großen Leistungsdruck gekennzeichnet. Zwar gab es für zahlreiche Jugendliche auch die Möglichkeit, eine Berufsausbildung zu absolvieren, aber die dabei erreichten Teilabschlüsse erwiesen sich für die übergroße Mehrheit als nutzlos, wenn es um die Wiedereingliederung in die Gesellschaft ging. Positiv erinnert wird von mehreren ehemaligen Häftlingen vor allem der Schulunterricht. Ungefähr einhundert vor allem jüngere Inhaftierte konnten hier Abschlüsse der achten bis zehnten Klasse machen, und das geschah angesichts der strengen Rahmenbedingungen recht erfolgreich.
Gruppen als Black Box
Ein Grundwiderspruch, der eine wirksame Erziehung im Jugendhaus untergrub, bestand darin, dass zum einen aus ideologischen Gründen ständig beteuert wurde, die Erziehung müsse durch das Kollektiv stattfinden, zum anderen aber kaum versucht wurde, Bedingungen für das Gelingen einer solchen Kollektiverziehung zu schaffen. Wenn bereits ein normales Kollektiv kaum in der Lage war, soziales Fehlverhalten Einzelner zu korrigieren, dann fiel in einem »Kollektiv«, das aus jungen Männern mit problematischen, oft aggressiven Verhaltensweisen bestand, der Gruppendynamik eine zentrale Rolle zu. Allerdings wurde gerade das für einen sozialistischen Strafvollzug angeblich so zentrale »Kollektiv« weitgehend dem Selbstlauf überlassen. Gruppen wurden vor allem nach funktionalen Kriterien zusammengestellt; es gab Gruppen für Jugendliche, die arbeiteten, und Gruppen für Jugendliche, die die Schule besuchten. Persönlichkeitseigenschaften und soziale Dynamik spielten so gut wie keine Rolle. Damit blieb das »Kollektiv« eine Black Box, die der bloßen Verwahrung diente.
Für die meisten Jugendlichen war die Erfahrung im Jugendhaus Halle negativ, für nicht wenige sogar ein traumatisches Erlebnis, weil sich weder zu Gleichaltrigen noch zu den als »Erziehern« eingesetzten Offizieren ein menschliches Vertrauensverhältnis entwickeln konnte. Schematisch durchgeführte »Erziehungsgespräche« blieben weitgehend wirkungslos.
Es gab aber auch Häftlinge, die positive Erinnerungen an Erzieher hatten. So berichtete ein ehemaliger Häftling über menschliches Mitgefühl und Hilfe. Als seine Freundin ihm per Brief mitgeteilt habe, dass sie sich von ihm trennen wolle, sei er in Tränen ausgebrochen. »Der Erzieher reagierte verständnisvoll und tröstete ihn« und habe sich auch weiter um ihn bemüht. Einen Suizidversuch habe er zwar nicht verhindern können, aber danach habe er ihm, auf Anraten des Haftpsychologen, »einen psychisch stabilen Jugendlichen zur Seite« gestellt. Das habe geholfen, den Rest der Haftzeit zu überstehen.[13] Es gab also durchaus Erzieher, die versuchten, im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu helfen.
Fairerweise muss auch gesagt werden, dass die große Zahl an Jugendlichen sowie die häufigen Verlegungen eine kontinuierliche Erziehungsarbeit erschwerten. Auch mussten Erzieher oft »operative Aufgaben« übernehmen.[14] 1982 rechnete ein MfS-Bericht vor, dass aufgrund von 17 nicht besetzten Wachtmeister-Stellen ein Angehöriger des Strafvollzugs »ca. 200 und mehr Gefangene im Rahmen der Bewegungen (Essen, zum Arbeitseinsatz) abzusichern« habe.[15] Hilfe zur individuellen Entwicklung, zur Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld und das Aufzeigen von Lebenswegen konnte es unter diesen Bedingungen schwerlich geben.
[1] PD Dr. Udo Grashoff hat 2006 zu »Selbsttötungen in der DDR« promoviert und wurde 2019 mit der Studie »Gefahr von innen. Verrat im kommunistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus« habilitiert. 2023 erschien sein Buch »Jugendhaus Halle. ›Die Schlägerei hört einfach nicht auf‹. Gefängnisalltag (1971-1990)«. Er lehrt als Privatdozent an der Universität Leipzig und forscht als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung Dresden. Grashoff ist Vorsitzender des Vereins Zeit-Geschichte(n) in Halle (Saale).
[2] Jugendhaus Halle, - SED-GO -, Parteiaktivtagung, 2.8.74, in: Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Merseburg, Bestand 19.1 BDVP Halle, M 558-10 Jugendhaus Halle [fortan: LAM], Nr. 38.
[3] Konzeption. Aufgabenstellung für das Jugendhaus Halle, o.D., in: LAM, Nr. 1, Bl. 110-121, zit. 110f.
[4] Eberhard Mannschatz, Schwererziehbarkeit und Umerziehung, Ludwigsfelde 1979, S. 31-33.
[5] Vgl. J. Cernow, Der Wille zur Selbsterziehung muß geweckt werden, in: Forum der Kriminalistik 3/1974, S. 135.
[6] ZERF, Vermerk, 11/78, in: Bundesarchiv [fortan: BArch] Koblenz, B 197/50544, Bl. 67.
[7] Jugendhaus Halle, - Der Leiter -, Referat zur Auswertung der Arbeitsergebnisse 1983 und Erläuterung der Aufgaben für 1984, 27.1.84, in: LAM, Nr. 15.
[8] Anton Makarenko (1888-1939) war ein führender sowjetischer Pädagoge, der in Heimen für durch Bürgerkrieg und Not verwahrloste Kinder das Prinzip der Kollektiverziehung einführte.
[9] Eberhard Mannschatz, Entwurf zu einer Methodik der Kollektiverziehung, Berlin 1970, S. 120.
[10] Staatsanwalt des Bezirkes Halle, Strafvollzugsaufsicht, an Leiter des JH Halle, Bericht vom 8.12.76, 13.12.76, in: LAM, Nr. 38.
[11] Jugendhaus Halle, - SED-GO -, Parteiaktivtagung, 2.8.74, in: LAM, Nr. 38.
[12] Christine Dörner, Erziehung durch Strafe. Die Geschichte des Jugendstrafvollzugs 1871-1945, München 1991, S. 56.
[13] Nicole Glocke, Erziehung hinter Gittern. Schicksale in Heimen und Jugendwerkhöfen der DDR, Leipzig 2017, S. 182.
[14] Vgl. IM »Arnold«, Bericht, April 1984, in: BArch, MfS, BV Halle, AIM 2509/87, Bd. 2, Bl. 45-47.
[15] MfS-Abt. VII/3, Sicherungskonzeption JH Halle, 8.4.82, in: BArch, MfS, BV Halle, Abt. VII, SachNr. 1, Bl. 31-38, zit. 32.