Ein Leben unter dem Stigma der „Asozialität“: Verfolgung nach dem § 249 StGB DDR am Beispiel der Lebensgeschichte von Elisa S.
Von Jane Magdalena Gerhardt [1]
Die Konstruktion des Begriffs „Asozialität“ kann auf eine jahrhundertelange historische Entwicklung zurückgeführt werden. Durch Praktiken der Erfassung, Disziplinierung und strafrechtlichen Verfolgung verfestigte sich die Ausgrenzung von Menschen und insbesondere Personengruppen, denen eine Stellung außerhalb der Gesellschaft und ihren implizierten Werten und Normen zugeschrieben wurde und weiterhin wird. Kontinuitäten der Kriminalisierung von Armut und Arbeitslosigkeit lassen sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen. Im Nationalsozialismus wurden Menschen, die als „asozial“ etikettiert wurden, deportiert, um Zwangsarbeit zu leisten und in Konzentrationslagern ermordet. Erst 2020 wurden diese Menschen nach langen Auseinandersetzungen durch den deutschen Bundestag als NS-Opfergruppe rechtlich anerkannt. Während das Schicksal dieser lang verleugneten Verfolgten gegenwärtig durch Angehörige, gesellschaftliche sowie staatliche Initiativen aufgearbeitet wird[2] und somit in der kollektiven Geschichtswahrnehmung präsenter ist, wird die Tatsache, dass in der DDR mit dem § 249 StGB DDR ein strafrechtliches Instrument existierte, welches die Verfolgung und Disziplinierung von als „asozial“ etikettierten Menschen ermöglichte, nur selten thematisiert. Das Selbstverständnis der DDR als „Arbeiter- und Bauernstaat“ implizierte das in der Verfassung verankerte „Recht zur Arbeit“, aber auch gleichzeitig die „Pflicht zur Arbeit“. Wer nicht entsprechend der sozialistischen Arbeitsnorm arbeiten konnte oder wollte, galt in der DDR als „Arbeitsbummelant“ oder „arbeitsscheu“ und konnte nach dem sogenannten „Asozialen-Paragraphen“, dem § 249 StGB DDR, zu bis zu vier Jahren Freiheitsentzug und Arbeitserziehung verurteilt werden.
Ziel dieses Artikels ist es, anhand einer exemplarischen Biografie einer Betroffenen in die strafrechtliche Konstruktion von „Asozialität“ ab den 1960igern darzustellen. Der biografische Zugang soll aufzeigen, wie Repression und Stigmatisierung Auswirkungen und Folgen für den gesamten weiteren Lebensweg der Betroffenen hatten. Das individuelle Schicksal einer jungen Frau kann jedoch ebenso wie diese Einführung in den Themenkomplex nur einzelne Aspekte beleuchten, ohne die komplexe Breite der Rechts - und Anwendungspraxis mit dem § 249 StGB DDR abzudecken.[3].Das Schicksal von Elisa S. steht exemplarisch für viele Lebenswege, die durch Verfolgung und Disziplinierung in der Jugend nachhaltig geprägt wurden.
Als „asozial“ verurteilt: Der Lebensweg von Elisa S.
Behütet im Bezirk Schwerin bei ihrer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen, besuchte Elisa S. gerne die Schule, spielte leidenschaftlich Tischtennis und war Mitglied der FDJ. Die Geschwister ihrer Mutter sendeten der kleinen Familie regelmäßige Westpakete, worüber sich das lebhafte Mädchen sehr freute. 1970 begann sie eine Lehre bei der Post, doch nur ein Jahr sollte ein Schicksalsschlag ihr Leben verändern. Mit achtzehn Jahren verlor sie nach kurzer, schwerer Erkrankung ihre Mutter und stand plötzlich ohne familiäre Unterstützung da. Da sie volljährig war, erhielt sie keine staatliche Unterstützung und musste von heute auf morgen ihren Alltag eigenständig organisieren und zeitgleich den Verlust ihrer Mutter verarbeiten. Sie schildert es so: „Keiner hat mir geholfen, keiner war da. Nannten sich alle Sozialistische Kollektive und wie sie alle hießen, aber geholfen hat mir tatsächlich keiner. “In der Folge scheiterte sie an einem Aufsatz für die Facharbeiterprüfung und verlor ihren Ausbildungsplatz. So musste sie in den Post-Zeitungsvertrieb wechseln, wo sie früh morgens die Zeitungen für die Betriebe vorbereiten sollte. Das frühe Aufstehen, die Einschränkungen der Freizeit der jungen Frau und ein neuer Freundeskreis führten dazu, dass sie zuweilen unentschuldigt der Arbeit fernblieb. Dies konnte in der DDR zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geklärt werden, wie heute auch. Oder es wurde als Delikt behandelt und die entsprechenden „Organe“ wurden eingeschaltet. Eines Morgens klingelte der Abschnittsbevollmächtigte bei ihr und holte sie zu einer vermeintlichen Aussprache ab, welche sich jedoch als Vernehmung herausstellte. So wurde sie 1972, nur wenige Monate nach dem erlittenen familiären Schicksalsschlag, erstmals aufgrund des § 249 StGB DDR in Schwerin in Untersuchungshaft genommen.
Einführung des sogenannten „Asozialen-Paragraphen“ 1968
Hauptkern der Konstruktion von „Asozialität“ war in der SED-Ideologie die Zuschreibung der Scheu vor „ehrliche[r] Arbeit und dauerhafte[n] Arbeitsbeziehungen“[4]. Den Betroffenen wurde eine „parasitäre“ Lebensweise auf Kosten der anderen Bürger/-innen und ein Hang zur Kriminalität sowie unmoralisches Verhalten unterstellt. „Asozialität“ galt somit als nicht vereinbar mit dem sozialistischen Menschenideal, als „Zelle aller Kriminalität“ und wurde 1968 durch den § 249 StGB DDR „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“ offiziell unter Strafe gestellt:
§ 249 StGB DDR „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“ (1968)
„(1) Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder die öffentliche Ordnung dadurch gefährdet, dass er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit hartnäckig entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, oder wer der Prostitution nachgeht oder wer sich auf andere unlautere Weise Mittel zum Unterhalt verschafft, wird mit Verurteilung auf Bewährung oder mit Haftstrafe, Arbeitserziehung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. Zusätzlich kann auf Aufenthaltsbeschränkung und auf staatliche Kontroll- und Erziehungsaufsicht erkannt werden.“
Die Verfolgung nach § 249 StGB DDR wurde hauptsächlich entlang von Verstößen gegen arbeits- oder sexualethische gesellschaftlichen Normbereichen konstruiert. Somit wurden neben Arbeitslosen, sogenannten „arbeitsscheuen“ Personen oder „Arbeitsbummelanten“, auch Prostituierte oder Frauen, die mit dem Stigma HWG[5] („häufig wechselnde Geschlechtspartner“) belegt wurden, von den Repressionsbehördenerfasst, kontrolliert und diszipliniert. Auch Menschen, die bereits im NS als „asozial“ verfolgt worden waren, erlebten erneute Ausgrenzung und erhielten in vielen Fällen keine Anerkennung als Verfolgte oder Entschädigungen. Da der „Asozialen“-Paragraph als Sammel-Paragraph verwendet wurde und eine weite Auslegung zuließ, konnte er auf von Armut betroffene Menschen, Obdachlose, Suchtkranke, Kleinkriminelle, aber auch Jugendliche, die durch oppositionelles Verhalten oder Rowdytum auffielen, angewendet werden. Die Etikettierung als „asozial“ traf nicht nur Einzelpersonen, sondern wurde auch auf gesamte Familien verwandt[6]. Auch hier stand die zugeschriebene „asoziale“ Lebensweise ganzer Familien im Gegensatz zum gewünschten sozialistischen Erziehungsleitbild, was zur Trennung von Eltern und Kindern führen konnte. Besonders häufig traf dies alleinstehende junge Mütter. Ihre Kinder wurden in Heimen untergebracht oder sogar zur Adoption freigegebenen, Möglichkeiten zum Kontakt sollten unterbunden werden. Begründung war hier, die Kinder vor dem „negativ-dekadenten“ Einfluss der „asozialen“ Lebensweise zu schützen. Zeitgleich konnten Jugendliche aus vermeintlich „asozialen“ Familien in Jugendwerkhöfe eingewiesen werden und erlebten dort extreme Gewalt[7].
Der Staatsapparat der DDR verstand die Verfolgung von kriminalisierter „Asozialität“ als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, bei der alle staatlichen und kollektiven Kräfte miteingebunden werden sollten. Neben staatlichen Sicherheitsbehörden, wie dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS), der Volkspolizei und Kriminalpolizei, wirkten auch fürsorgerische und medizinische Kräfte, die Werktätigen-Kollektive und Zivilpersonen bei der Erfassung, Disziplinierung und Maßregelegung der als „asozial“ etikettierten Menschen und auch ganzer Familien mit. Als Schwerpunkte der „Asozialität“ galten Städte, da es hier insbesondere in den Arbeitervierteln zu einer Ballung von Bettelei, Obdachlosigkeit, Alkoholismus, Erschleichen von Sozialleistungen und sexueller Devianz kommen würde. Einmal als „asozial“ erfasst, begann ein Kreislauf aus Disziplinar- und Kontrollmaßnahmen, der bei einfachen Verstößen erneut zu Sanktionen, wie Haft und Arbeitserziehung führen konnte, und somit den Betroffenen die Rehabilitierung und Reintegration erschweren, wenn nicht sogar verunmöglichen konnte.
Haft und Arbeitserziehung
Dieser Kreislauf von Kontrolle, Disziplinierung und Sanktionierung zeigte sich auch bei Elisa S.. Durch die Amnestie im Oktober 1972 wurde sie aus der Schweriner Untersuchungshaft zunächst entlassen. Daraufhin fand sie verschiedene Gelegenheitsjobs, unter anderem in einer Molkerei. Wohl fühlte sie sich dort nicht und traute sich irgendwann nicht mehr zur Arbeitsstelle. Gemeinsam mit einer Bekannten begann sie an einer neuen Bewerbung zu arbeiten. Bevor sie jedoch alle Unterlagen zusammenhatte, geriet sie aufgrund von „Arbeitsbummelei“ erneut mit den Behörden in Konflikt und wurde im November 1972 erneut festgenommen. Diesmal blieb sie bis April 1976 in Haft, zuerst in Untersuchungshaft und dann in Arbeitserziehung in Halle, wo sie unter Haftbedingungen Akkordarbeit in einer Elektrofabrik leisten musste.
Mit der Einführung des Paragraphen 249 StGB DDR im Jahr 1968 erhöhten sich die Verurteilungen aufgrund von „Asozialität“ massiv. Während 1968 noch rund 4000 Menschen verurteilt wurden, waren es 1973 bereits 14.000 Menschen, 1975 über 11.300 (27%)[8]. Gegen Ende der DDR wurden knapp 25% aller Häftlinge wegen des Vorwurfs der „Asozialität“ strafrechtlich belangt. Über die Hälfte der Verurteilten (51,5%) hatte das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet[9].
Das Recht und gleichzeitig die Pflicht zur Arbeit, verankert in der Verfassung der DDR, hatte für die Praxis des Strafvollzugs Konsequenzen. Der Strafvollzug sollte durch Zwang und Disziplinierung erzieherisch auf eine Anpassung an die sozialistischen Werte hinwirken und somit die staatlich erwünschten Verhaltensweisen, so beispielsweise Konformität und Strebsamkeit, hervorbringen[10]. In den Augen der SED-Ideologie stellten Arbeitserziehungsmaßnahmen das geeignete Instrument dar, um „Arbeitsscheue“ und „Arbeitsbummelanten“ an die sozialistische Arbeitsmoral anzupassen. In der Realität bedeutete es für die Häftlinge Zwang sowie physische und psychische Gewalt. Arbeit und Erziehungsmaßnahmen hatten in diesem Kontext immer eine repressive Funktion[11]. Häftlinge wurden nicht ausschließlich, aber doch gezielt zu besonders schweren Arbeiten eingesetzt. Sie waren für die ausgeübte Tätigkeit meist nicht qualifiziert und hatten deshalb große Schwierigkeiten, die vorgegebenen Produktivitätsziele zu erreichen und erhielten zur Durchführung der Tätigkeiten weder Hilfsmittel noch Schutzvorrichtungen. Sie berichten von ständigem Druck aufgrund der Normerfüllung, kurzen Erholungszeiten und nicht ausreichender Verpflegung sowie mangelnder medizinischer Betreuung bei sehr niedrigem Lohn[12].
Nach ihrer Entlassung kehrte Elisa S. 1976 nach Schwerin zurück. Sie musste sich bei den Behörden zur Kontrolle melden, täglich. Ein Arbeitsplatz bei den Kleiderwerken in Güstrow wurde zugewiesen und mit diesem eine Auflage, die es zu erfüllen galt. Die Wohnung, die sie gemeinsam mit ihrer Mutter bewohnt hatte, war bei ihrer Rückkehr leergeräumt. Dies war ein großer Schock für die junge Frau. Unterstützung für den Neuanfang erhielt sie lediglich durch die Verwandtschaft aus dem Westen. Der zugewiesene neue Arbeitsplatz erwies sich trotz allem Zwang als ein „Glücksmoment“, so Elisa S. wörtlich: „Ich sag ja, Kleiderwerke nachher, da war schon mal eine gute Chefin. ‚Wir wissen, woher sie kommen.‘ Das ist schon alles peinlich genug damals gewesen. ‚Aber wenn Sie gut arbeiten, dann sind wir alle...‘ und das stimmt. Das war dann da wirklich gut in den Kleiderwerken.“
Elisa S. ist sich bewusst, dass sie Glück hatte, dass nach dieser angedeuteten Mahnung ihrer Vorgesetzten erneute Sanktionen ausblieben und sie es schaffte, nicht weiter aufzufallen. Nachdem die Arbeitsplatzbindung verstrichen war, bewarb Elisa sich schließlich erfolgreich bei der Reichsbahn, da sie dort besseres Geld verdienen konnte. Hier blieb sie über 20 Jahre tätig und die Arbeit bei der Reichsbahn machte ihr Spaß. Schließlich wurde sie sogar als „Aktivistin der sozialistischen Arbeit“ ausgezeichnet.
Elisas Geschichte ist eine von Vielen aus den drei Nordbezirken. Jedoch gelang es nur wenigen, sich vom Stigma der „Asozialität“ zu befreien, die schlechten Arbeitsbedingungen zu ertragen, sich von den versteckten und offenen Diskriminierungen nicht provozieren zu lassen oder an ihnen zu verzweifeln. Die vermeintliche Anpassung an dasn sozialistische Arbeitsethos war weniger Folge der Zwangs- und Disziplinarmaßnahmen der SED-Behörden, sondern vielmehr ein Zusammenspiel glücklicher Umstände aus strukturellen Lücken im Repressionssystem, aus Solidarität unter den Betroffenen sowie durch die Unterstützung mit Westpaketen. Die Haft hinterlässt langfristige Spuren: Unter dem ständigen Druck, erneute Inhaftierung zu vermeiden, und angesichts der gesellschaftlichen Stigmatisierung als „asozial“ ergeben sich schwerwiegende Konsequenzen für das weitere Leben.
Der Kampf der Betroffenen um Anerkennung und Rehabilitation
Elisa S. berichtet von Traumatisierung und Folgen aus der Haft, die sie ihr ganzes Leben verfolgten und ihr jene Möglichkeiten nahmen, die anderen offenstanden. Im Raum stehen Fragen, was gewesen wäre, wenn sie ihre „besten Jahre“ nicht in Haft hätte verbringen müssen. Vielleicht hätte sie eine glückliche Beziehung geführt und sogar geheiratet. Doch nach der Haft hat sie nie wieder anderen Menschen vertrauen können und sich zurückgezogen. Es fiel ihr schwer mit Mitmenschen ins Gespräch zu kommen, beispielsweise, weil sie das Gefühl erlebte, sich einen „anderen Lebenslauf bauen zu müssen“, da sie wie alle Haftentlassenen nie über das Erlebte sprechen können durfte. Indes sei sie von den Erinnerungen stets verfolgt geblieben.
Im Zuge der Privatisierung der Bundesbahn 1999 verlor sie ihren langjährigen Arbeitsplatz. Sie nahm kleinere Nebenjobs an, bis sie schließlich 2013 nach erneuter Arbeitslosigkeit in den Ruhestand ging. Da sie wegen der Inhaftierung keine Ausbildung abschließen konnte, führen die Berechungsgrundsätze der Rentenversicherung faktisch zu einer weiteren Bestrafung. Naach 40 Jahren Arbeit unter nicht immer menschenwürdigen Zuständen hat sie unter dem Strich eine so geringe Rente , dass Sie dauerhaft von Soziallleistungen abhängig sein wird. Nun musste sie sich mit ihrer Verfolgungsgeschichte auseinandersetzen. Nach einigen Anträgen erhielt sie immerhin eine Anerkennung als Verfolgte des SED-Regimes und somit eine (kleine) Opferrente.
Bis heute kämpfen Betroffene, die nach § 249 StGB DDR verurteilt worden sind, um Entschädigung und Rehabilitation. Eine Verurteilung nach dem „Asozialen“-Paragraphen zählt nicht automatisch als politische Verfolgung und erschwert es somit den Betroffenen als Opfer des SED-Regimes anerkannt zu werden. Die durch die erlittenen Repressionen verursachten Traumatisierungen sowie die fortdauernde Stigmatisierung und Diskriminierung von (Langzeit-)Arbeitslosen, Armutsbetroffenen und Menschen mit psychischen Erkrankungen tragen dazu bei, dass die Lebens- und Verfolgungsgeschichten der als „asozial“ verfolgten Personen bislang kaum aufgearbeitet wurden. Gleichzeitig fehlt es an gesellschaftlicher Solidarisierung mit dieser Betroffenengruppe, wodurch die dringend notwendige Anerkennung ihres Schicksals weiterhin ausbleibt.
Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 130.000 Menschen zwischen 1960 und 1990 aufgrund von „asozialem Verhalten“ zu Freiheitsstrafen verurteilt worden sind[13]. Der § 249 StGB der DDR spielte dabei eine zentrale strafrechtliche Rolle, wie die hohe Anzahl seiner Anwendung belegt.[14]. In den Alltagserinnerungen tauchen die sogenannten „Assis“ oft als unzuverlässige Hilfsarbeiter/-innen in staatlichen Betrieben, LPGs, Fabriken und auf Baustellen auf, jedoch selten in einem Kontext, der Anerkennung oder Respekt vermittelt. Persönliche Eingliederungshilfen, die über den „Arbeitsauftrag“ und die „Zuweisung“ hinausgingen, existierten in der DDR nicht. Heute werden sozialarbeiterische Ansätze häufig als „zu lasche“ staatliche Maßnahmen gegenüber vermeintlich „Faulen“ diffamiert. Die Auffassung, die Betroffenen seien selbst für ihre Lage verantwortlich und hätten die Sanktionen verdient, hält sich hartnäckig. Die gesellschaftliche Aufarbeitung der Kontinuitäten der Verfolgung von „Asozialität“ steht erst am Anfang. Sie wird jedoch durch persistente klassistische Stereotype, Armenfeindlichkeit und die Marginalisierung gesellschaftlicher Randgruppen erheblich erschwert.
Besonders in Mecklenburg-Vorpommern wären demokratiepädagogische sowie historisch-politische Bildungsangebote notwendig, die Zeitzeuginnen einbinden und an authentischen Orten stattfinden. Solche Maßnahmen könnten nicht nur zur historischen Aufarbeitung beitragen, sondern auch eine präventive Mahnung gegen einen Rückfall zu Arbeitszwängen und anderen Formen des Bestrafens von Armen[15] darstellen, die zu einer Kriminalisierung von Armut in Zeiten wachsender sozialer Ungleichheit führen werden.
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Quellen
Censebrunn-Benz, Angelika (2022): Stiefkinder der Republik. Das Heimsystem der DDR und die Folgen. Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022.
Hirsch, Steffen (2008): Der Typus des „sozial desintegrierten“ Straftäters in Kriminologie und Strafrecht in der DDR. Ein Beitrag zur Geschichte täterstrafrechtlicher Begründungen, Göttingen.
Korzilius, Sven (2005): „Asoziale“ und „Parasiten“ im Recht der SBZ/DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung. Arbeiten zur Geschichte des Rechts der DDR. Band 4. Böhlau, Köln / Weimar / Wien.
Moldt, Dirk (2010): Nein, das mache ich nicht! Selbstbestimmte Arbeitsbiographien in der DDR. Ch. Links Verlag, Berlin.
Nonnenmacher, Frank (Hg.) (2024): Die Nazis nannten sie „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“. Verfolgungsgeschichten im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik. Campus Verlag, Frankfurt / New York.
Schröder, Heinz; Wilke, Jürgen (1998): Politische Strafgefangene
in der DDR. Versuch einer statistischen Beschreibung, in: Historical Social Research, Vol. 23 (1998),No. 4, S. 3–78.
Wacquant, Loïc (2009): Punishing the poor. The neoliberal government of social insecurity. Durham, NC: Duke University Press.
Wölbern, Jan Philipp (2015): Die historische Aufarbeitung der Zwangsarbeit politischer Häftlinge im Strafvollzug der DDR. Studie erstellt am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) im Auftrag der Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer.
Wölbern, Jan Philipp (2016): Haftarbeit in der DDR. Eine Zwischenbilanz. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History. Online-Ausgabe, 13 (2016), H.1. Online aufrufbar unter: zeithistorische-forschungen.de/1-2016/5331 (letzter Zugriff: 08.08.2024)
Zeng, Matthias (2000):„Asoziale“ in der DDR. Transformationen einer moralischen Kategorie. Herausgegeben im Auftrag des Landesbeauftragten des Freistaates Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. LIT, Münster.
Archivalien:
BArch DO 1/21486, Band 3.
BArch DO 1/21468, Band 1.
[1] Jane Magdalena Gerhardt (Politikwissenschaft M.A.) forscht zum „Stigma der ‚Asozialität“ in Ostdeutschland“ und führt Zeitzeugengespräche mit Menschen, die nach § 249 StGB verfolgt wurden. Weiterhin ist sie als Projektmitarbeiterin beim Dokumentationszentrum „Rostock-Lichtenhagen im Gedächtnis“ und als freiberufliche Referentin in der historisch-politischen Bildung tätig.
[2] Siehe dazu Nonnenmacher (2024) oder die 2024 eröffnete Wanderausstellung mit dem Titel „Die Verleugneten“ der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg (Stiftung Bayrische Gedenkstätten). Mehr Informationen unter: www.die-verleugneten.de (19.11.2024)
[3] Das Interview mit der Zeitzeugin wurde im Rahmen des Dissertationsprojektes „Das Stigma der ‚Asozialität‘“ der Autorin 2023 durchgeführt. Der Name der Zeitzeugin wurde anonymisiert. Neben dem Interview wurden zur biografischen Rekonstruktion personenbezogene Dokumente des MfSund Haftunterlagen ausgewertet.
[4] B Arch, DO 1/21486
[5] Anmerkung der Redaktion: Der Begriff hat eine markant frauenfeindliche Konnotation. Das Stigma HwG reichte im NS Regime zur Verschleppung von Frauen hin KZ hin. Es blieb auch in Westberlin Grund für Heimeinweisungen von Mädchen und taucht bis heute in der aktuellen Rechtssprechung auf. Siehe https://www.landesrecht-bw.de/bsbw/document/NJRE001153997 wo darauf bestanden wird, dass der Begriff schon zur „behördlichen Praxis der Weimarer Republik.. im Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 18. Februar 1927..“ gehört - und zum „Führen entsprechender hwG-Listen“ geführt hätte. Soll mit solchen („hygienischen“) Erklärungen damit die faschistoide Diskriminierung von Frauen in beiden Diktaturen und in der BRD abgemildert oder gar legitimiert werden? Nur zur Erinnerung: Das behördlich erfasste Stigma „häufig wechselnder Geschlechtsverkehr“ bezog sich nie auf Männer, sondern immer alleine auf Frauen. Die Perfidie des Machismo wird dadurch unterstrichen, dass Frauen, die als gewerbsmäßige Prostituierte gemeldet waren, in der BRD nicht als hwG gelistet wurden (hier gab es ja auch eine „männliche“ Kontrolle). Insofern sollte der Aufschwung der Aufarbeitung der männlichen Willkür gegen DDR-Frauen, die die Stasi bis 1989 exekutierte und für ihre Kontrollzwecke missbrauchte, auch die beginnende Diskussion über entsprechende Traditionen in der BRD fördern.
[6]BArchDO 1/21468
[7]Siehe Censebrunn-Benz (2022)
[8]Vgl. Korzilius (2005): 619
[9] Zeng (2000): 58
[10] Vgl. Moldt(2010): 49
[11] Vgl. Wölbern (2015): 14
[12] Vgl. Wölbern (2016)
[13] Vgl. Schröder & Wilke 1998: 39
[14] Die tatsächliche Zahl dürfte noch höher gelegen haben. Viele Täter/-innen wurden im Wiederholungfall nicht mehr auf der Grundlage des § 249 StGB DDR, sondern nach dem § 238 „Verletzung von gerichtlichen Maßnahmen“ verurteilt. Vgl. Hirsch 2008: 150
[15] Vgl. Wacquant 2009