Das Notaufnahmelager Gießen und der Häftlingsfreikauf (1964-1990)

Ankommende im Notaufnahmelager Gießen, Foto IMAGO

Von Jeannette van Laak[1]

In den 1980er Jahren erzählte man sich in der DDR folgenden Witz: Erich Honecker habe einen Oberkellner entlassen, nachdem dieser beim Abendessen freundlich nachgefragt habe, ob er nachgießen dürfe. Diesen Witz verstanden in der DDR vor allem jene, die eine Übersiedlung in den Westen planten - die in den 1970er und 1980er Jahren einen Ausreiseantrag in die Bundesrepublik gestellt hatten. Aber auch für jene DDR-Bürgerinnen und -Bürger, die bei einem Fluchtversuch oder weil sie eine andere Meinung als die der SED-Führung vertreten hatten, verhaftet und zu unterschiedlich hohen Haftstrafen verurteilt worden waren, stand der Name Gießen, einer in Hessen gelegenen Stadt von der Größe Weimars, für ein Leben in der Bundesrepublik, für ein Leben in Freiheit. Erst recht und vor allem, nachdem die Bundesregierung und die SED-Führung 1963 den Freikauf von politischen Gefangenen aus der DDR beschlossen hatten. Vorbild für einen solchen Deal soll der Häftlingsfreikauf zwischen den USA und Kuba gewesen sein.[2] Die SED-Führung ließ sich hierauf ein, weil sie dringend Devisen brauchte. Die Bundesregierung reagierte auf den Vorwurf, modernen Menschenhandel zu betreiben, mit dem Argument, »humanitäre Hilfe« für die in der DDR inhaftierten Brüder und Schwestern zu leisten und somit vielen zu Unrecht Inhaftierten zu helfen.[3]

Nachdem der Deal geschlossen worden war, wurde überlegt, wie die Umsetzung praktisch vonstatten gehen könnte. Beiden Verhandlungspartnern war an einer möglichst geräuscharmen Abwicklung des Handels gelegen. Die DDR wünschte sich sogar deren vollkommene Geheimhaltung. In beiden deutschen Staaten wurden Einrichtungen gesucht, die den Freikauf, d. h. die Übergabe der Menschen, organisierten. In der DDR wurde das in Chemnitz gelegene Kaßberg-Gefängnis mit dieser Aufgabe betraut. Hierher wurden jene inhaftierten DDR-Bürgerinnen und -Bürger gebracht, die man wegen Fluchtabsichten oder bei einem Fluchtversuch verhaftet hatte oder die als politisch Andersdenkende verurteilt und eingesperrt worden waren und in eine Ausreise eingewilligt hatten. Im Kaßberg-Gefängnis wurden die Betreffenden »gesammelt«, bis ein neuer Transport Richtung Bundesrepublik zusammengestellt wurde. Die für den Freikauf vorgesehenen Personen erhielten meist eine etwas bessere Verpflegung, was der Einrichtung auch den Namen »Päppelanstalt« einbrachte.[4] Die Mitarbeiter des Kaßberg-Gefängnisses regelten die Ausreiseformalitäten.

In der Bundesrepublik erfolgte die Aufnahme der Freigekauften ab 1964 zunächst über das hessische Büdesheim, eine kleine Gemeinde 30 Kilometer nordöstlich von Frankfurt am Main gelegen. In der Provinz, so hofften die Verantwortlichen der Bundesregierung, könne die Aufnahme reibungslos erfolgen. Nach etwa einem halben Jahr zeigte sich, dass dies keineswegs der Fall war. Vielmehr erregte die Aufnahme von freigekauften politischen Häftlingen aus der DDR in Büdesheim die Gemüter stark. Dies lag zum einen daran, dass die Einwohner sich über die finanzielle Ausstattung der Zuwanderer wunderten, die ihr Begrüßungsgeld von 150 D-Mark im Ort in Kleingeld wechselten. Zum anderen kursierten aufgrund der mangelhaften Aufklärung über die Aktion Gerüchte, die sich vor allem darauf kaprizierten, dass die Bundesrepublik nun Straftäter und Kriminelle aus der DDR aufnähme.[5] Auf bundesdeutscher Seite wurde deshalb überlegt, wie den Gerüchten begegnet werden könnte und ob nicht eine andere Einrichtung für diese Aufgabe besser geeignet sei. Da die Mitarbeiter des Gießener Notaufnahmelagers das Verfahren nach dem Notaufnahmegesetz von 1950 ohnehin in Büdesheim durchführten, wurde 1965 beschlossen, die Freigekauften nach Gießen zu leiten und dort das Aufnahmeprozedere durchzuführen. In Gießen befand sich nämlich seit 1949/50 das Notaufnahmelager, das die Zuwanderer aus der DDR nach dem 1950 verabschiedeten Gesetz formal aufnahm.

Zur Entstehung des Notaufnahmelagers Gießen

Das Notaufnahmelager Gießen war im Februar 1946 zur Aufnahme der Vertriebenen eingerichtet worden. Ab 1948/49 wurden hier jene Flüchtlinge aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) aufgenommen, die in die US-amerikanische Besatzungszone wollten, um hier zu leben und zu arbeiten. Es gab je eine solche Einrichtung in der amerikanischen Besatzungszone (Gießen) und in der britischen Besatzungszone (Uelzen) sowie verschiedene kleine Lager in Westberlin, die dann in einer modernen Einrichtung in Berlin-Marienfelde zusammengeführt wurden.

Die rechtlichen Grundlagen für die Aufnahme von SBZ-Flüchtlingen, wie die übersiedelnden DDR-Bürger bezeichnet wurden, bildete das Notaufnahmegesetz von 1950 und seine Durchführungsverordnung. Wenngleich das Grundgesetz festgeschrieben hatte, die Deutschen aus der SBZ/DDR ebenfalls als Bundesbürger zu betrachten, so sorgten sich die politisch Verantwortlichen der damaligen Zeit darum, dass immer mehr Bewohner der SBZ/DDR in den Westen kämen und somit den Sowjets ein unbewohntes Land überließen. Auch fürchteten sie, dass der Weggang der Deutschen aus der DDR von der sowjetischen Besatzungsmacht toleriert würde, um so die noch fragile Wirtschaft der jungen Bundesrepublik durch den vermehrten Zuzug zu schwächen. Deshalb legte das Notaufnahmegesetz fest, welche Deutschen aus der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR offiziell aufgenommen werden sollten. Hierbei wurden erstmals Aufnahmegründe und keine Ausschlusskriterien formuliert, was auf die unmittelbare Vergangenheit und ihre explizite Ausgrenzungspolitik zurückzuführen ist. Deutsche, die ihre Familien zusammenführen wollten, jene, die bereits vor 1939 im nun zur Bundesrepublik gehörenden Territorium gewohnt hatten, heimkehrende Kriegsgefangene sowie die, denen in der SBZ/DDR »Gefahr für Leib und Leben« drohte bzw. die sich in einer »besonderen Zwangslage« befanden, sollten nach dem Notaufnahmegesetz in der Bundesrepublik leben können.[6] Wenn sie eines dieser Kriterien erfüllten, wurden sie in der Folge bei der Wohnungs- und Arbeitssuche unterstützt.

Jene, die die Kriterien nicht erfüllten, wurden offiziell zwar nicht zurückgeschickt, mussten sich aber selbst um Arbeit und Wohnraum kümmern. Da die Ablehnungsrate gerade in den 1950er Jahren noch sehr hoch war, war auch die Anzahl der illegal in der Bundesrepublik lebenden Deutschen verhältnismäßig hoch. Das wurde in der bundesdeutschen Öffentlichkeit zwar immer wieder beklagt; da aber für die DDR-Zuwanderer auch das Grundgesetz galt, wurde es hingenommen. Das Notaufnahmegesetz hatte bis zum 30. Juni 1990 Bestand und wurde gerade in den 1980er Jahren, als kaum einer in der Bundesrepublik die deutsche Zweistaatlichkeit infrage stellte, als Platzhalter für die Idee der Wiedervereinigung angesehen.

Das Gesetz regelte also zum einen, wer Aufnahme finden sollte. Zum anderen schrieb es auch die Zuständigkeit hierfür vor. Diese lag in den Händen des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (BMVt) und wurde von deren Mitarbeitern koordiniert und durchgeführt. Parallel dazu galt es, die Unterbringung und Versorgung der Zuwanderer sowie nach Abschluss des Verfahrens deren Weiterreise zu organisieren. Mit diesen Aufgaben wurde das Land Hessen betraut, das hiermit wiederum das hessische Innenministerium oder Sozialministerium beauftragte. Hessen übernahm damit Aufgaben für die gesamte Bundesrepublik und erhielt im Gegenzug Gelder aus anderen Bundesländern zur Finanzierung dieser Aufgaben. Mit diesen doppelten Verwaltungsstrukturen wurde Amtsmissbrauch und Korruption in der Einrichtung vorgebeugt, die in den Jahren zuvor immer wieder beklagt worden waren.[7] Daneben unterhielten auch die Geheimdienste der Alliierten und der Bundesrepublik verschiedene Büros im Lager, um sich ein Bild über die Lage hinter dem Eisernen Vorhang zu machen.[8] Zudem erhielten auch verschiedene karitative Einrichtungen hier Diensträume, etwa um die Ausgabe in den Kleiderkammern zu organisieren oder seelischen Beistand zu leisten. Auch das Arbeitsamt hatte hier ein Büro, wo möglichst frühzeitig Arbeitslosengeld beantragt und sondiert werden konnte, welche beruflichen Wege den Zuwanderern offenstanden. Rückblickend kann konstatiert werden, dass das Lager eine Gesellschaft en miniature abbildete: Hier begegneten die Übersiedler all jenen Institutionen und Einrichtungen, mit denen sie (mit Ausnahme der Geheimdienste) auch später im Alltag zu tun haben würden.

In den frühen 1950er Jahren beschloss das Hessische Innenministerium den Umbau des mittlerweile abgewirtschafteten Barackenlagers.[9] Die Beamten der Behörden und die Mitarbeiter der Landesregierung arbeiteten teilweise in zugigen oder schlecht zu lüftenden Büros, weshalb sich unter anderem auch der im Lager tätige Arzt für eine Modernisierung einsetzte. Vorbild hierfür war das Aussiedlerlager in Hanau, das aus modernen Neubauten bestand, die nach Schließung des Lagers als Mietwohnungen genutzt wurden. Eine solche Weiterverwendung war für die Gießener Einrichtung ebenfalls vorgesehen. Infolgedessen wurde beschlossen, das Barackenlager an der Margaretenhütte schrittweise zu modernisieren.

In drei Bauabschnitten wurden die Baracken durch schmucklose dreistöckige Neubauten ersetzt. Während der Planungsphase für den dritten Bauabschnitt errichtete die SED-Führung am 13. August 1961 die Berliner Mauer und schloss auf diese Weise die Grenze zur Bundesrepublik endgültig. Das führte dazu, dass die Zuwanderung, die gerade 1960/61 erneut sehr hoch war, jäh abbrach. Nicht wenige der politisch Verantwortlichen fragten sich, ob nun ein so modernes Lager in dieser Größe noch nötig sei. Der hessische Innenminister verfügte aber, das Bauprojekt wie vorgesehen umzusetzen. Schließlich wolle man sich nicht von der Politik in der DDR abhängig machen oder gar abhängig zeigen. Es war nicht zuletzt diese Entscheidung, die 1962 dazu führte, auf Beschluss des Bundesvertriebenenministeriums Gießen als einzige Aufnahmeeinrichtung für DDR-Bürger auf dem Bundesgebiet zu erhalten. Das Lager in Berlin-Marienfelde wurde stark verkleinert und das Lager Uelzen, in dem noch keine grundlegenden Modernisierungsmaßnahmen erfolgte waren, geschlossen. In der Folge sollten alle Zuwanderer aus der DDR ihren Antrag auf Aufnahme nach dem Notaufnahmegesetz in Gießen oder in Berlin-Marienfelde stellen. Die im Zuge der Verfahren erstellten Einzelfallakten, die bis dahin in den jeweiligen Lagern aufbewahrt worden waren, wurden aufgrund der Raumkapazitäten nach Gießen überführt und hier archiviert.

Nach dem Mauerbau veränderte sich also das Aufgabenprofil des Gießener Lagers. Zwar blieb es als Aufnahmelager für Zuwanderer aus der DDR bestehen, seiner Modernität wegen zudem als einziges im Bundesgebiet. Die ursprünglich vorgesehene Aufnahmekapazität für 900 Personen wurde jedoch schrittweise reduziert. Etwa indem zuerst die Jugendlager, die bis dahin von den Lagern für Erwachsene und Familien getrennt unterhalten worden waren, in die Gießener Einrichtung integriert und später ganz aufgegeben wurden. Einige der Unterkunftsgebäude wurden als Wohnheime für die Universität genutzt, andere zu Büroräumen umgewidmet. So hatte die Gießener Polizei zeitweise ihren Sitz im Notaufnahmelager. Eine weitere Sonderaufgabe bestand in der Aufnahme der freigekauften politischen Häftlinge aus der DDR.

Der Freikauf und seine praktische Umsetzung in der Bundesrepublik

Die praktische Umsetzung des Freikaufs erfolgte in »geschlossenen Transporten«, wie es in der Amtssprache hieß. Das bedeutete, dass der vorgesehene Personenkreis keinen Kontakt zur Außenwelt bzw. zu Zivilisten haben sollten. Hierfür wurden Busse eingesetzt, die etwa 50 Passagieren Platz boten. In der Regel kamen pro Transport zwischen 40 und 80 Personen in die Bundesrepublik. In der Anfangszeit fuhr ein DDR-Bus die Freigekauften vom Kaßberg-Gefängnis bis zur innerdeutschen Grenze bei Herleshausen. Hier wartete der Bus eines hessischen Reiseunternehmers, in den die Freigekauften dann umstiegen. Ab 1976 führ ein Bus aus der Bundesrepublik bis nach Karl-Marx-Stadt. Hierfür musste der Bus-Unternehmer die sonst übliche Reklame abdecken und die Nummernschilder für die jeweiligen Fahrten entsprechend auswechseln. Für die Fahrten auf der DDR-Strecke bekamen die Busfahrer einen DDR-Führerschein und damit eine DDR-Existenz inklusive Lebenslauf.[10]

Der Aufenthalt im Lager und das Aufnahmeverfahren

Aufgrund der für die Aktion vereinbarten Geheimhaltung erfuhren sowohl der Leiter des Notaufnahmeverfahrens als auch der Lagerleiter stets verhältnismäßig kurzfristig, dass ein neuer Transport mit freigekauften DDR-Bürgern zu erwarten sei. Erst zwei Tage vor einem solchen Transport wurden die Verantwortlichen im Gießener Lager informiert. In der bundesdeutschen Amtssprache wurden diese als »PH-Transporte« verbucht, wobei das Kürzel »PH« für »Politische Häftlinge« stand. In der ersten Zeit wurden die Freigekauften in Herleshausen von Mitarbeitern der hessischen Landesregierung willkommen geheißen. Allmählich übertrugen sie diese Aufgabe dem Lagerleiter in Gießen. Heinz Dörr erinnerte sich, seit seiner Amtsübernahme als Lagerleiter im Jahr 1971 beinahe jeden Bus in Herleshausen begrüßt zu haben. War er im Urlaub oder aus anderen Gründen verhindert, übernahm dies sein Stellvertreter. Außerdem wurde er von einer Krankenschwester begleitet, weil man nicht wusste, in welchem physischen und psychischen Zustand sich die freigekauften Menschen befanden.[11]

Die Unterbringung der Freigekauften stellte die Lagerleitung vor besondere Herausforderungen. Sie war sich bewusst, dass der Aufenthalt in Gießen von vielen Freigekauften als so etwas wie eine Vorstufe zur Freiheit verstanden wurde. Deshalb sollte er so kurz wie möglich ausfallen. Formal hatten sie das gleiche Aufnahmeverfahren zu absolvieren wie anderen DDR-Übersiedler auch. Dieses dauerte im Normalfall zwei bis drei, manchmal auch fünf Arbeitstage. Doch für freigekaufte DDR-Bürgerinnen und -bürger sollte es schneller gehen, wenngleich deren »Durchlauf« durch das Aufnahmeverfahren etwas komplexer war, wurde der Aufenthalt doch um eine Begrüßung und um Gespräche mit den Opferverbänden erweitert.

In der ersten Zeit machten sich viele Freigekaufte an ihrem ersten Abend zu einem Ausgang in die Stadt auf, meist zu vorgerückter Stunde. Nicht selten kehrten sie erst am frühen Morgen und zum Teil stark verkatert in die Einrichtung zurück. Hin und wieder kam es auch zu Konflikten zwischen den Freigekauften und den in Gießen stationierten GIs. Hier soll es zu Pöbeleien auf Seite der Freigekauften gekommen sein, wenn diese ihre Begrüßungsgabe in den Gießener Nachtclubs im Bahnhofsviertel verausgabten.[12] Das war für die Lagerleitung besonders unangenehm, weil die amerikanischen Truppen das Notaufnahmelager stets mit großzügigen Beträgen bedachten. Deshalb wurde bald in der Lagerkantine eine Ankunftsfeier organisiert.

Da die Transporte meist erst am Abend in Gießen eintrafen, wurde für die Ankömmlinge zunächst ein Abendessen bereitgehalten. Anschließend begrüßten die Vertreter des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen und der hessischen Landesregierung die Freigekauften noch einmal offiziell im Namen der Bundesrepublik und des Landes Hessen. Die Angekommenen erhielten ihre Aufnahmeanträge und wurden auf die umfangreichen Beratungsmöglichkeiten hingewiesen. Anschließend erfolgte eine Einkleidung durch das DRK, die Auszahlung eines Teilbetrages der Begrüßungsgabe und die Zimmereinweisung.[13] Der nächste Tag begann mit der medizinischen Untersuchung. Hier war den Verantwortlichen daran gelegen, Krankheiten, die eine Arbeitsunfähigkeit nach sich zogen oder Haftfolgeschäden zu diagnostizieren, um Krankengeld beantragen zu können.

Anschließend wurde das Notaufnahmeverfahren eröffnet, indem die entsprechenden Anträge ausgefüllt wurden und ein Mitarbeiter der Dienststelle diese offiziell entgegennahm. Es folgten erkennungsdienstliche Maßnahmen, Gespräche mit den alliierten Geheimdiensten, mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz, weitere mit dem DRK sowie dem Arbeitsamt und anderen Behörden. Zunächst wurden im Aufnahmeverfahren sogar die Umstände der Inhaftierung, aber auch des Grenzübertritts noch einmal akribisch überprüft, was das Verfahren verzögerte. Die Mitarbeiter des Bundesnotaufnahmeverfahrens mussten erst lernen, die Erzählungen der Freigekauften mit dem Grundgesetz abzugleichen, um entsprechende Bewertungen vornehmen zu können.[14] Nach einem weiteren Gespräch mit einem Ausschussmitglied, in dem die Aufnahme offiziell bestätigt wurde, wurden die neuen Bundesbürger auf die Bundesländer verteilt. Bevor sie das Lager verließen, wurde ihnen der Restbetrag der Begrüßungsgabe ausgezahlt und eine Fahrkarte ausgestellt. Des Weiteren wurden »Einführungsvorträge« durch Mitarbeiter des Notaufnahmeverfahrens und Gespräche mit den Vertretern der Stiftung ehemaliger politischer Häftlinge oder anderer Organisationen angeboten. Das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen hatte für eine ähnlichen Veranstaltung ein lokales Ausflugslokal in der Stadt gebucht.[15] Trotz dieses Programms war das Verfahren für die Freigekauften nach spätestens zwei Tagen entschieden. Damit wurden die mit einem »PH-Transport« verbundenen Aufnahmeverfahren von den Behörden bevorzugt bearbeitet. In den 1980er Jahren setzte sich zudem durch, dass für am Freitagabend eintreffende ehemalige Häftlinge das Verfahren spätestens am Sonntag abgeschlossen war.

All dies umzusetzen verlief keineswegs spannungsfrei. 1980 wurde beklagt, dass es zu lange dauere, bis die Freigekauften endlich tatsächlich frei seien. Das Verfahren dauere zwei Tage und anschließend würden sie in den Übergangswohnheimen der Bundesländer untergebracht. Auch wurde kritisiert, dass das Verfahren zu sehr auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter der Dienststellen ausgerichtet sei statt auf die der Freigekauften. Die Verbände forderten, einen »Ankunftstag« für die Freigekauften, der nur für die Einkleidung, die medizinische Untersuchung und das »innere Ankommen« vorbehalten sei. Was wiederum dem Wunsch der Betroffenen selbst entgegenstand, so schnell wie möglich diese Formen der Betreuung hinter sich zu lassen. Dies zeigt, wie unsicher die bundesdeutschen Behörden im Umgang mit den Freigekauften waren und dass sie anfangs kaum einschätzen konnten, wie viel Betreuung und Unterstützung die Neubürger tatsächlich benötigten.[16]

Im Aufnahmelager wurden die Freigekauften mit Kleidung und Dingen des täglichen Bedarfs versorgt, wenngleich bereits 1968 feststellt wurde, dass sie verhältnismäßig gut gekleidet ankämen.[17] Das war wohl darauf zurückzuführen, dass die Freigekauften im Kaßberg-Gefängnis die Möglichkeit hatten, ihren in der Haft erarbeiteten Lohn im »Gefängnis-Laden« auszugeben.[18] Interviewte Freigekaufte erzählten aber auch, wie gern sie auf die Bekleidungsbestände der Caritas und der Diakonie zurückgriffen, weil sie oftmals nur mit jener Kleidung angekommen seien, die sie bei der Verhaftung getragen hatten. Später wurde betont, dass die Freigekauften in Gießen neue, also ungetragene Kleidung erhielten.[19]

Die Aufnahme aus Sicht der Freigekauften

Wenngleich man es nur schwer verallgemeinern kann, so war doch ein Großteil der Freigekauften bei der Ankunft in Gießen euphorisch gestimmt und voller Erwartungen. Die meisten wollten das Lager und das Aufnahmeverfahren so schnell wie möglich hinter sich lassen. Nicht wenige betrachteten diesen bürokratischen Akt als eine Vorstufe der Freiheit.

In den folgenden Tagen im Aufnahmelager Gießen zeigte sich, dass jene Teile des Notaufnahmeverfahrens problematisch waren, die frappierende Ähnlichkeit mit den Maßnahmen der DDR-Sicherheitsbehörden aufwiesen: so die kriminaltechnische Aufnahme der Fingerabdrücke und die Befragungen durch die alliierten Geheimdienste und den westdeutschen Verfassungsschutz. Aber auch die blau-weiß-karierte Bettwäsche weckte unangenehme Erinnerungen.[20] Es kam auch vor, dass Freigekaufte unmittelbar bei ihrer Ankunft erneut in Gewahrsam genommen wurden. So verhaftete die Gießener Kriminalpolizei 1965 einen Freigekauften, weil er bei einem früheren Aufenthalt in der Bundesrepublik eine Geldbuße in Höhe von 120 D-Mark nicht beglichen hatte. Dies sorgte für Verstimmungen zwischen dem gesamtdeutschen Ministerium und dem BMVt. Anschließend wurde festgelegt, dass solche Bagatelldelikte bei den Freigekauften in der Bundesrepublik nicht weiter verfolgt wurden.[21]

Besonders schwierig gestaltete sich für die Freigekauften die Freizeitgestaltung. Auf der einen Seite wollten sie das Lager so schnell wie möglich verlassen. Auf der anderen Seite forderten sie mehr Zeit für die medizinische Untersuchung und für das Zu-sich-kommen. Sie wünschten sich weniger fremdbestimmte und mehr selbst bestimmte Zeit, um nachdenken, Freunde treffen und sich orientieren zu können. Wieder andere wollten jegliche Begrenzungen hinter sich lassen und möglichst rasch wieder ein ziviles Leben beginnen.

Viele kamen auch mit überhöhten Erwartungen und dachten, dass sie in der Bundesrepublik als Helden gefeiert würden. Sie waren enttäuscht, als sie gewahr wurden, dass ihre Erfahrungen aus der DDR vielen Bundesbürgern unverständlich blieben. Manche Bundesbürger konnte sich gar nicht vorstellen, das eigene Leben, die eigenen Errungenschaften, gar Haus und Hof aufzugeben. Andere hatten den Freigekauften gegenüber Vorbehalte, galten diese doch offiziell als vorbestraft. Klaus Kordon erzählte, wie oft er sich verschiedenen Firmen vorstellte. Auf die Frage, was er in den vergangenen Jahren gemacht habe, verwies er auf die Gefängnisstrafe in der DDR, weil die Flucht seiner Familie aufgeflogen war. Daraufhin versprach man ihm, sich bald zu melden. Eines Tages lenkte er das Gespräch bei dieser Frage dann in eine andere Richtung und bekam den Job.[22] Wie ihm wird es vielen ergangen sein. Andere wieder mussten die Erfahrung machen, dass die Haft körperliche Schäden nach sich zog oder sie mit einer posttraumatischen Belastungsstörung zu kämpfen hatten.[23]

Resümee

Die Aufnahme der Freigekauften glich einem Drahtseilakt, auch und gerade für die Behörden im Lager Gießen. Der langjährige Lagerleiter und sein Team, aber auch die Mitarbeiter der Aufnahmebehörde wussten um die Schwierigkeiten und bemühten sich, den Bedürfnissen der Übergesiedelten so gut es ging entgegenzukommen.

Wenngleich die DDR-Führung auf eine allgemeine Geheimhaltung dieses Menschenhandels bestanden hatte, wurde er in der Bundesrepublik schon bald nach Beginn bekannt. 1977 veröffentlichte der Stern eine Reportage über den Freikauf. Hierfür sollte ein auch in der DDR akkreditierter Journalist den Häftlingsbus auf seiner Fahrt von Karl-Marx-Stadt nach Gießen fotografieren. Ein weiterer Fotograf aus Gießen, Karl-Heinz Brunk, sollte zugleich sicherheitshalber auf der bundesdeutschen Seite in Grenznähe warten und von dort Bildaufnahmen machen. Die DDR-Behörden hängten den Stern-Journalisten ab, so dass dieser keine Bilder liefern konnte. Deshalb veröffentlichte der Stern die Bilder des Gießener Fotografen Brunk.[24] Auch Spielfilme thematisierten dies, etwa der Film »Der Mann auf der Mauer« aus dem Jahr 1982. Dieser erzählt, wie der Mauerspringer Peter Schneider mehrmals aus der DDR aus- und wieder einreiste und dabei die Möglichkeit des Freikaufs einkalkulierte. Gespielt wurde die Hauptfigur von Marius Müller-Westernhagen. Damals war es vor allem die Chuzpe der Hauptfigur, die von sich reden machte. Der Freikauf und die Busfahrt nach Gießen einschließlich des Wechsels der Nummernschilder an der Grenze wurden in dem Film anschaulich in Szene gesetzt. Er belegt, wie viel die bundesdeutsche Öffentlichkeit bereits damals über den Freikauf wissen konnte, was wiederum auf eine demokratische Medienlandschaft verweist, in der das Für und Wider bestimmten staatlichen Handels kontrovers diskutiert wird.

 


[1] Jeanette van Laak ist habilitierte Historikerin. Seit 2022 ist sie Apl. Professorin für Geschichtsdidaktik und Public History an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

[2] Robert F. Pötzl, Mission Freiheit: Wolfgang Vogel. Anwalt der deutsch-deutschen Geschichte, München 2014, S. 118; Ludwig A. Rehlinger, Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten 1963–1989, Frankfurt/M. 1993.

[3] Jan Phillipp Wölbern, Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63-1989. Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, Göttingen 2014; Via Knast in den Westen. Das Kaßberg-Gefängnis und seine Geschichte, hrsg. v. Nancy Aris und Clemens Heitmann, Leipzig 2013.

[4] Wölbern, Häftlingsfreikauf S. 478ff..

[5] Jeannette van Laak, Einrichten im Übergang. Das Aufnahmelager Gießen 1946 - 1990, Frankfurt/M. 2017, S. 272f.

[6] Helge Heidemeyer, Flucht und Zuwanderung aus der SBZ/DDR, S. 80.

[7] Jeannette van Laak, Zwischen Bewältigung der Kriegsfolgen und Einübung demokratischer Prozesse. Das Notaufnahmelager Gießen in den 1950er Jahren, in: Henrik Bispinck/Katharina Hochmut (Hg.), Flüchtlingslager in Nachkriegsdeutschland. Migration, Politik, Erinnerung (Beiträge zur Geschichte von Mauer und Flucht), Berlin 2014, S. 142–163.

[8] van Laak, Übergang, S. 187ff; Keith R. Allen, Interrogation Nation. Refugees and Spies in Cold War Germany, Philadelphia 2017.

[9] Hierzu und im Folgenden: van Laak, Übergang, S. 104ff und 252ff.

[10] van Laak, Übergang, S. 271f.

[11] Ebd., S. 273.

[12] van Laak, Übergang, S. 279.

[13] Hierzu und im Folgenden: Jeannette van Laak, Übergang, S. 274ff.

[14] van Laak, Übergang, S. 278.

[15] Ebd.

[16] Ebd.

[17] Ebd., S. 275.

[18] Jan Philipp Wölbern, Mit dem Wunderbus nach Gießen. Der Häftlingsfreikauf und die Stasi-U-Haft-Anstalt Karl-Marx-Stadt, in: Via Knast in den Westen, S. 53.

[19] Jeannette van Laak, Übergang, S. 275.

[20] Ebd., S. 278-280.

[21] Ebd, S 278.

[22] Klaus Kordon, Auf der Sonnenseite, Weinheim 2011.

[23] van Laak, Einrichten im Übergang, S. 281.

[24] Vgl. Gießener Allgemeine, 07.08.2012, »Karl-Heinz Brunks Fotos in Berliner ›Freigekauft‹-Schau.« https://www.giessener-allgemeine.de/giessen/karl-heinz-brunks-fotos-berliner-freigekauft-schau-12087530.html (zuletzt abgerufen am 13.11.2024)