Architektur der Staatssicherheit

Vorwort zum Buch »Bauten der sowjetischen und russischen Staatssicherheit«, Dom Publishers, Berlin 2023.

Von Dmitrij Chmelnizki

Zwei Jahrzehnte nach Putins Amtsantritt hat die russische Geheimpolizei, der »Föderale Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation« (Federalnaja sluschba besopasnosti Rossijskoi Federazii, FSB), eine ähnliche Stellung inne wie seine Vorgänger (OGPU-NKWD-MGB) in der Stalinzeit. Sie ist zur mächtigsten Behörde des Landes geworden, die fast alle anderen staatlichen Behörden, die Wirtschaft, die Wissenschaft, das Bildungswesen, die internationalen Beziehungen und den Kampf gegen Andersdenkende überwacht und kontrolliert. Der FSB ist zusammen mit dem Auslandsgeheimdienst (Sluschba Wneschnei Raswedki, SWR) und dem militärischen Geheimdienst (Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije, GRU) auch im Bereich der Auslandsaufklärung tätig.

Die Zahl der FSB-Mitarbeiter in den Zwanzigerjahren des 21. Jahrhunderts (bis zu einer halben Million, einschließlich des militärischen Personals) ist vergleichbar mit der des NKWD in den späten Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts, wobei das heutige Russland weniger Einwohner hat als die damalige Sowjetunion.

Die Ära Putin hat auch der Architektur der Sicherheitsbehörden eine Renaissance gebracht. Im ganzen Land, in vielen zentralen und regionalen Städten, werden Verwaltungs-, Bildungs- und Wohnbauten des FSB errichtet. Anders als zu Stalins Zeiten gibt es keinen einheitlichen Stil, so dass sich die örtlichen Sicherheitsbehörden nach Herzenslust verwirklichen können, auch wenn – in bester stalinistischer Tradition – neoklassizistische Bauten mit Säulenportikus und Empire-Dekor vorherrschen. Umso interessanter ist es heute, die Geschichte der Bautätigkeiten der sowjetischen und der russischen Sicherheitsdienste nachzuzeichnen, die seit mehr als 100 Jahren nicht unterbrochen worden ist.

Die Rolle, die die Staatssicherheitsbehörden in der sowjetischen Architekturgeschichte spielten, wird nicht nur unterschätzt. Sie wurde zu Sowjetzeiten sorgfältig verborgen und in den folgenden Jahrzehnten von der Forschung ignoriert. Doch tatsächlich ist diese Rolle nicht nur groß, sondern sogar von entscheidender Bedeutung. Das Phänomen einer »Architektur der Staatssicherheit« und einer »Architektur des GULAG« hat es so in der Geschichte der Menschheit zuvor noch nicht gegeben. Nahezu alle ab den frühen Zwanzigerjahren maßgeblichen sowjetischen Architekten arbeiteten mit der sowjetischen Geheimpolizei zusammen, führten deren Aufträge aus und standen unter ihrer Kontrolle. Diese Behörde war die reichste und einflussreichste des Landes. Sie hatte die Möglichkeit, schnell und in hoher Qualität viel zu bauen, und die Freiheit, jeden gewünschten Architekten zu beauftragen. So entstanden viele Wohn-, Verwaltungs- und Sportbauten sowie öffentliche Gebäude, die heute zu den besten und bekanntesten sowjetischen Architekturdenkmälern zählen, im Auftrag und unter der Kontrolle der OGPU beziehungsweise des NKWD. Zugleich wurde ihre Zugehörigkeit zu dieser Behörde in der Sowjetzeit geheim gehalten und bis heute nie publik gemacht oder gar untersucht. Darüber hinaus standen dem sowjetischen Geheimdienst ein Vierteljahrhundert lang, vom Beginn der Dreißiger- bis zur Mitte der Fünfzigerjahre, Millionen von Zwangsarbeitern und GULAG-Häftlingen zur Verfügung. Mit deren Arbeitskraft realisierten die Staatssicherheitsbehörden im Auftrag der Regierung Abertausende Industrieanlagen, Bergwerke und Kanäle, nahmen Rodungen vor, entwickelten Agrarbetriebe sowie vieles mehr. Die der Staatssicherheit unterstellte Verwaltung umfasste ein weitläufiges Gebiet mit einem ausgedehnten Netz von Konzentrationslagern und Siedlungen für Wachleute und freie Arbeiter. Ausgehend von den großen Lagerzentren entstanden in der Stalinzeit Industriestädte in Nordeuropa, Sibirien und im Fernen Osten. Alle damit zusammenhängenden städtebaulichen und architektonischen Aufgabenstellungen lösten die Staatssicherheitsbehörden mithilfe ihrer eigenen Planungsbüros und ihrer eigenen Architekten, die sowohl Häftlinge als auch Freie waren. In jedem großen Lager gab es Projektierungsbüros, die für dessen gesamte Gestaltung verantwortlich waren. Hunderte Menschen waren dort beschäftigt. Das enorme Ausmaß der Bauarbeiten im GULAG war ein absolutes Geheimnis. Die Entwürfe und auch die Gebäude wurden nicht in der Presse veröffentlicht, ebenso wenig die Namen der Architekten. Zugleich ist die immense, vielfältige Architektur der Lager auch von künstlerischem Interesse. Die Architekten, sowohl die freien als auch die internierten, arbeiteten unter geradezu mittelalterlichen Bedingungen. Sie waren vollständig der Gnade der örtlichen Lagerkommandanten ausgeliefert. Zugleich entgingen sie jedoch der zentralisierten, vereinheitlichenden Zensur, der die gesamte sowjetische Architektur in der Außenwelt ab 1932 unterworfen war. In den Siedlungen für die Lagerverwaltungen entstanden daher mitunter unerwartete, individuelle Gebäude, die in den »normalen« sowjetischen Städten so nicht hätten gebaut werden dürfen.

Das vorliegende Buch ist der erste Versuch einer umfassenden Studie über die Bautätigkeiten der sowjetischen beziehungsweise russischen Staatssicherheitsbehörden. Die Untersuchung hat folgende Ziele:

1) die Entwicklung des Systems der Planungsbüros der Staatssicherheit darzulegen;

2) die Typologie der architektonischen Gestaltung für die staatlichen Sicherheitsbehörden verständlich darzustellen und die interessantesten und charakteristischsten Projekte und Bauten vorzustellen;

3) die städtebaulichen und architektonischen Aspekte des GULAG zu analysieren;

4) die interessantesten Biografien sowohl von freien als auch von internierten Architekten im Dienst der Staatssicherheit kurz darzulegen;

5) die Kontinuität zwischen der Architekturtradition der sowjetischen Staatssicherheit und der Architektur des FSB in der Ära Putin aufzuzeigen.

Es bleibt zu hoffen, dass die Traditionen der sowjetischen und der russischen Staatssicherheitsdienste sowie ihre über ein Jahrhundert währende (nicht nur architektonische) Geschichte bald ein Ende finden werden.