Grüner Weg 5: Die Gedenkstätte in der ehemaligen Untersuchungshaft der Staatssicherheit des nördlichsten Bezirkes der DDR in Rostock.

Steffi Brüning

Bis 1960 teilten sich in Rostock die Volkspolizei und das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) ein Gefängnis in der Schwaanschen Straße (ca. 1994 abgerissen, heute befindet sich an der Stelle ein Hotel), zentral gelegen und sichtbar in der Nähe des Universitätsplatzes. Um diesen Umstand zu beenden, bebaute die Staatssicherheit ab Ende der 1950er Jahre ein freies Areal zwischen der August-Bebel-Straße – Hermannstraße – Grüner Weg. Hier entstand nach und nach die abgesicherte Bezirksverwaltung (BV) des MfS für den Ostseebezirk – das neu errichtete Untersuchungsgefängnis bildete fortan die Mitte der BV. Immer noch sehr nah am Zentrum, aber besser kontrollierbar und insbesondere ausschließlich durch das MfS genutzt, öffnete das Untersuchungsgefängnis des MfS im September 1960.

Mit ca. 50 Zellen sollten fortan im Regelfall maximal 114 Personen aus politischen Gründen in Untersuchungshaft genommen werden können, im Falle eines Aufstandes oder anderer Entwicklungen plante die Staatssicherheit, bis zu 380 Personen inhaftieren zu können. Zwischen 1960 und 1989 inhaftierte die Staatssicherheit dort insgesamt rund 4.900 Frauen und Männer sowie Jugendliche ab 15 Jahren aus überwiegend politischen Gründen, wie etwa „staatsfeindlicher Hetze“ (§106 StGB-DDR), „öffentlicher Herabwürdigung“ (§220 StGB-DDR) und zunehmend „ungesetzlichem Grenzübertritt“ (§ 213 StGB). Von besonderer Bedeutung war dabei, dass der Bezirk Rostock als einziger in der DDR direkten Zugang zur Ostsee hatte, die als Grenze, Begegnungs- und Sehnsuchtsort allgegenwärtig war. Dies war eine der Legitimationen für den hohen Personalbestand der BV Rostock[1] und führte dazu, dass ab den 1970er Jahren der Vorwurf der (Vorbereitung von) Fluchtversuchen über Land und See zum Hauptgrund für Inhaftierungen auch und gerade in Rostock wurde.

Stasi-UHA Rostock. Foto: Bundestiftung Aufarbeitung/Kaminsky

Durch die vorhandenen Haftunterlagen zeigt sich, dass im Durchschnitt rund 50 Inhaftierte gleichzeitig vor Ort waren. Die Kapazität des Gefängnisses wurde damit oft nicht voll ausgeschöpft. Die bisherige historische Forschung geht davon aus, dass die geringere Auslastung des Rostocker Untersuchungsgefängnisses gewollt war und eine „Reserve“ darstellte. „Denn im Fall einer Verschärfung der internationalen Lage oder eines massenhaften Aufbegehrens der Bürger hätte das Gefängnis mit bis zu 380 Insassen vollgepfercht werden können.“ (Schekahn/ Wunschik 2012: 19) Eine große Rolle spielt hier, dass das Gebäude nach dem Volksaufstand im Jahr 1953 gebaut wurde. Bis 1989 bildete dieses Ereignis die größte Niederlage der Staatssicherheit: es war der Geheimpolizei nicht gelungen, die Bevölkerung ohne sowjetische militärische Unterstützung aufzuhalten. Dementsprechend sorgte das MfS vor, unter anderem durch große Haftorte.

Diese Voll- und Überbelegung geschah im Verlauf der Zeit während politischer Großereignisse mit internationaler Bedeutung, die zu einem Anstieg der Inhaftierungszahlen auch in Rostock führten, wie zum Beispiel dem Bau der Mauer in Berlin 1961 oder dem Prager Frühling 1968. Die Statistiken zeigen Anstiege deutlich, 1961 beispielsweise wurden im Jahresverlauf knapp 400 Personen inhaftiert. Insgesamt zeigt sich DDR-weit insbesondere ab der Ära Honecker aber eine Abnahme der Inhaftierungen. Die Staatssicherheit nutzte zunehmend Repressionsmethoden, die nicht sichtbar sein sollten. Haft wurde zum letzten Mittel der SED und Geheimpolizei.

Die insgesamt knapp 5.000 Inhaftierten in Rostock mussten im Durchschnitt vier bis sechs Monate Untersuchungshaft mit ständigen Vernehmungen und unter starker Isolation über sich ergehen lassen, bis sie durch ein Gericht formal abgeurteilt und meist in eine der Strafvollzugseinrichtungen der DDR verlegt wurden. Neben den Untersuchungshäftlingen gab es vor Ort bereits verurteilte Strafgefangene, die ein „Arbeitskommando“ bildeten. Während Untersuchungsgefangene nicht arbeiten durften, bestand für Strafgefangene eine Arbeitspflicht. Sie wurden vorrangig für Tätigkeiten im Gebäude eingesetzt. Frauen arbeiteten in Wäscherei, Näherei und Küche, Männer als Handwerker. Die Arbeitsräume befanden sich im Erdgeschoss und Keller des Gebäudes.  

Die Haftbedingungen sollten nach den zentralistischen Vorgaben des MfS an allen Haftorten gleich sein. Dennoch zeigen sich durch Erzählungen von ZeitzeugInnen sowie Prüfberichten und anderen internen Stasi-Unterlagen Unterschiede. Dass in Rostock beispielsweise der täglich vorgesehene Freigang in einem der sechs kleinen Außenboxen (unter Inhaftierten „Tigerkäfige“ genannt) bis zum Ende der DDR nicht wie vorgeschrieben stattfand, wurde bei einer Kontrolle noch im Juli 1989 aufgezeigt.[2]

 

Die Dokumentations- und Gedenkstätte

Die Dokumentations- und Gedenkstätte in der ehemaligen Untersuchungshaft der Staatssicherheit Rostock (DuG Rostock) hat sich seit ihrer erstmaligen Öffnung 1999 zu einem wichtigen Ort der Bildung sowie des Gedenkens entwickelt. Bis 2017 teilten sich Bund und Land die Trägerschaft. Für die Arbeit vor Ort war der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Außenstelle Rostock, verantwortlich. Nach einer umfangreichen Sanierung von 2017 bis 2021 wurde die Gedenkstätte der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern als neuer Trägerin übergeben und ist damit eine Landeseinrichtung geworden. Inhaltlich stehen sowohl die Repression durch die SED, das MfS und andere staatliche Institutionen als auch Verweigerung, Protest und Opposition von Menschen im Norden der DDR im Mittelpunkt.

Seit der Wiedereröffnung im Juli 2021 dient eine neu erarbeitete Interimsausstellung in deutscher Sprache als Basis für eine eigenständige Erschließung des Ortes, seiner Geschichte und der Biografien von Menschen, die hier inhaftiert waren. Diese entstand maßgeblich durch den ehemaligen Träger der Gedenkstätte, dem Stasi-Unterlagen-Archiv Rostock. Ergänzend erarbeitete das Team der DuG einen kostenfreien Audio Guide in deutscher und englischer Sprache.

Die grundlegende Ausstellung wird durch zwei dauerhafte Sonderausstellungen ergänzt: Am 13. August 2021 eröffnete die Ausstellung „Über die Ostsee in die Freiheit“, erarbeitet vom gleichnamigen Verein. Die Sonderausstellung mit vielen originalen Fluchtgeräten nimmt die gesamte oberste Etage der Gedenkstätte ein und ist ein Publikumsmagnet.

Am 17. Juni 2023 eröffnete die erste DuG-eigene Sonderausstellung mit dem Titel „60 aus 40. Protest, Opposition und Verweigerung im ehemaligen Bezirk Rostock“. Diese entstand durch das partizipative Projekt „Mitmachausstellung“.[3] Menschen aus dem ehemaligen Bezirk Rostock wurden eingeladen, Erinnerungsstücke rund um Protest, Verweigerung und Opposition in der DDR für die Ausstellung zu leihen. Im Ergebnis bilden 60 Erinnerungsstücke aus 40 Jahren DDR-Geschichte einen kaleidoskophaften Einblick in die Protestgeschichte des Ostseebezirks.[4]

Konzeption der Bildungsarbeit

Die DuG Rostock ist Dokumentations-, Gedenk- und Lernort. Die Funktion als Lernort hat in der Arbeitspraxis das größte Gewicht. Die historisch-politische Bildungsarbeit thematisiert anhand der jeweils aktuellen Forschungslage insbesondere die Geschichte politischer Verfolgung und „eigen-sinnigen“ Handelns in der DDR, die sich gegenseitig bedingen. Durch die Arbeit am historischen Ort werden Perspektiven von ehemaligen Inhaftierten vorrangig, aber nicht ausschließlich, berücksichtigt. Es werden vielfältige, zum Teil kontroverse, Erzählungen abgebildet und zur Diskussion gestellt.

Aufgrund des spezifischen Ortes der Verfolgung durch das MfS ist eine Fokussierung auf Repression gegeben. Gleichzeitig wird das Wirken dieses Herrschaftsinstruments im Gesamtgefüge der staatlichen und nicht-staatlichen Akteur:innen, insbesondere der SED, kontextualisiert. Zudem bilden Bereiche wie die Ausstellung „60 aus 40“ bewusst Gegenperspektiven von „eigen-sinnig“ und widerständig handelnden Personen ab. Dabei steht die regionale Geschichte des Bezirkes Rostock und seine regionalen Besonderheiten wie den direkten Zugang zur Ostsee und die Besonderheiten ländlicher Räume im Mittelpunkt.

Die Bildungsarbeit der DuG wird an den Bedürfnissen der Gäste ausgerichtet. Inhalte und Methoden wurden im wechselseitigen Prozess konzipiert, der nach außen und innen wirken soll. Grundsätzlich wird somit selbstständiges und forschendes Lernen angeregt, das eine differenzierte, eigenständige und kritische Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte eröffnet. Um dies zu erreichen, sind Vor- und Nachbereitungen mit allen Gruppen unerlässlich. Diese beinhalten zielorientierte Absprachen und Gesprächsangebote im Vorfeld, eine transparente Planung der Angebote sowie die Möglichkeit zur Nachbereitung.

Neben Rundgängen und Seminaren werden mit Kooperationspartner:innen Akzente durch Sonderveranstaltungen wie Lesungen, Vorträge, Theater und Konzerte gesetzt. Eine Kooperation mit dem Volkstheater Rostock sowie dem Motettenchor der St. Johannis Kantorei Rostock zum Beispiel begann 2021. Innerhalb von zwei Jahren entstand das Stück „Gesänge aus der Gefangenschaft“, das 2023 Premiere feierte und 2024 wiederaufgeführt wurde. Das entstandene Stück ist das Ergebnis intensiver Vor-Ort-Recherchen und Gesprächen mit ehemaligen Inhaftierten. Das spartenübergreifende Projekt vereint Schauspiel, Tanz und Musik. Mit Liedern und Texten aus einem weiter gefassten historischen und internationalen Kontext, die entweder in Gefangenschaft entstanden oder aus Solidarität mit Gefangenen geschrieben wurden, bespielten Ensemblemitglieder des Volkstheaters Rostock sowie der Motettenchor einzelne Zellen und Räume des ehemaligen Gefängnisses. Das Publikum wurde im Rahmen eines Rundgangs in Kleingruppen zu den Spielorten auf allen Etagen geführt und konnten sich so mit den „Gesängen aus der Gefangenschaft“ einer besonderen Erfahrung des Gebäudes aussetzen. Nach dem Stück bestand die Möglichkeit, die Ausstellungen und die Gedenkstätte zu besichtigen sowie mit dem Team der DuG Rostock ins Gespräch zu kommen. Jede Kleingruppe wurde durch zwei Guides begleitet, je eine Person vom Volkstheater Rostock und der DuG Rostock.

Der künstlerische Zugang zum historischen Ort fand für alle Beteiligten erstmals statt. Innerhalb von zwei Jahren entstand durch die Zusammenarbeit des Teams der DuG Rostock mit dem Regisseur Rainer Holzapfel, den Dramaturgen Peter Stuppner und Arne Bloch, der Tanzcompagnie, Schauspieler:innen und Sänger:innen des Volkstheaters sowie dem Motettenchor mit ihrem Leiter Prof. Dr. Markus Langer ein vollständig neues Stück. Mehr als 70 Beteiligte lernten in der Erarbeitung den historischen Ort durch Rundgänge, Gespräche mit Zeitzeug:innen kennen. Immer wieder thematisierten alle zusammen, wie Theater am historischen Ort funktionieren kann und was das für unterschiedliche Personen bedeutet. Welche Geschichten können wie erzählt werden? Welche Art von Kostümen sollen gewählt werden? Inwieweit sind zusätzliches Licht, Ton, weitere Technik notwendig und sinnvoll? Welche Begleitung ist für ein Publikum vorstellbar?

Mit diesem und anderen partizipativen Projekten wird aus der „versteckten“ Untersuchungshaft des MfS zwischen den Bauten der BV sukzessive ein bekannter Kultur- und Lernort in Rostock. Die Spannung zwischen würdigem Gedenken an Unrecht und attraktiven Angeboten eines kulturell anspruchsvollen und ansprechenden Lernortes ergibt einen komplexen Auftrag an die Gedenkstättenarbeit. Lösungen können nur im offenen und konstruktiven Diskurs mit den beteiligten Institutionen, den Projektpartner:innen, der Stadtöffentlichkeit, Zeitzeuginnen und Besuchenden allmählich ausgehandelt werden. Damit verkörpert, unterstützt und fördert die DuG heute jene notwendigen zivilgesellschaftlichen Diskurse, die mit der Errichtung des Haftgebäudes in den 1950er Jahren einst unterdrückt werden sollten.

Literaturhinweis:

Schekahn, Jenny/ Wunschik, Tobias (2012): Die Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Rostock - Ermittlungsverfahren, Zelleninformatoren und Haftbedingungen in der Ära Honecker. Der Bundesbeauftragt für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 2012

Infobox:

Kontakt

Dokumentations- und Gedenkstätte Rostock
Grüner Weg 5, 18055 Rostock

Leitung: Dr. Steffi Brüning
E-Mail: S.Bruening(at)lpb.mv-regierung.de
Tel.: 01573 0285136

Homepage: https://www.lpb-mv.de/projekte/dug-rostock/

Öffnungszeiten: Di + Do 10 – 15 Uhr, Führungen und Seminare Mo – Fr nach Absprache

Zur Vor- und Nachbereitung von Besuchen der Gedenkstätte sowie für eigenständige Rundgänge in Kleingruppen bietet die DuG Rostock erarbeitete Materialien zur freien Nutzung an, die per Mail angefordert werden können.

Autorin: Dr. Steffi Brüning, Historikerin, ist in Kühlungsborn geboren und hat in Greifswald und an der Universität Rostock studiert und zum Thema: „Prostitution in der DDR. Eine Untersuchung am Beispiel von Rostock, Berlin und Leipzig 1968 – 1989“ promoviert. Sie ist seit 2021 Leiterin der Dokumentations- und Gedenkstätte Rostock in Trägerschaft der Landeszentrale für politische Bildung MV.


[1] Näheres vermitteln Jenny Schekahn und Tobias Wunschik in ihrem Grundlagenwerk zur Untersuchungshaft in Rostock: Schekahn, Jenny/ Wunschik, Tobias (2012): Die Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Rostock - Ermittlungsverfahren, Zelleninformatoren und Haftbedingungen in der Ära Honecker. Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 2012.

[2] BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XIV, Nr. 149, Bl. 3.

[3] Aufruf zur Ausstellung 2022: https://politik-mv.de/2022/11/18/mutige-proteste-in-der-ddr-ausstellung-zum-mitmachen/, zuletzt eingesehen 9.8.2024.

[4] Bildergalerie zur Ausstellung 2023: https://politik-mv.de/2023/07/12/60-aus-40-die-ausstellung/, zuletzt eingesehen 9.8.2024.