Von der Schwierigkeit, nach dem Ende einer Diktatur einen Konsens zu finden

Gedenken an die kommunistischen Justizopfer am Roedeliusplatz neben dem Gebäudekomplex des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg

Von Christian Booß[1]

Eine Schülerin beugt sich zu einem Guckloch, dreht sich um, zeigt auf die nachgegossene Gefängnistür mit dem Okular. Mitschülerinnen linsen nun in die anderen runden Glasfensterchen, in denen Biographien von ehemaligen Häftlingen und deren Zitate zu lesen sind. Es ist eine Schülergruppe aus Zürich, die von ihrer engagierten Geschichtslehrerin an einen Ort geführt wurde, den sie bei ihrem Berlin-aufenthalt normalerweise kaum aufgesucht hätte. Den Platz kennen selbst die meisten Berliner nicht. Die Skulptur mit dem Titel »Einschlüsse«, die seit 2023 an die Geschichte des Ortes erinnert, würde dort nicht stehen, wenn nicht zivilgesellschaftliches Engagement vehement ein Denkzeichen eingefordert hätte.

Der Roedeliusplatz in Berlin-Lichtenberg, benannt nach einem weitgehend unbekannten preußischen Kommunalbeamten aus dem 19. Jahrhundert, stößt an seiner westlichen Seite an das Gelände des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Das Eckhaus war sogar dessen Ursprungsadresse und bis zu seinem schmählichen, aber verdienten Ende durch die Bürgerproteste der friedlichen Revolution firmierte das Ministerium hier unter der Adresse Normannenstraße 22. Ein paar Meter weiter in der vom Platz abzweigenden Magdalenenstraße lag die Untersuchungshaftanstalt II (UHA II). Die regimekritische Sängerin Bettina Wegner besang sie als »Magdalena«, und der oppositionelle Schriftsteller Jürgen Fuchs gab einem seiner Bücher diesen Namen. Der Platz selbst mit seinem unscheinbaren alten Namen lag lange Zeit eher im Windschatten der DDR-Geheimpolizei.

Dieser Umstand verleitete im Jahr 2017 Stadtplaner und Stadtarchitekten der Gruppe Planwerk, eine Umgestaltung ins Auge zu fassen, die nur an die Entstehungszeit des Platzes um 1900 anknüpfen sollte. Seit der Gründung von Lichtenberg im 13. Jahrhundert hatte sich das damals kleine Örtchen, gut fünf Kilometer östlich des Altberliner Stadtzentrums vor dem Frankfurter Tor gelegen, zum Industriestandort gemausert. Ab 1907 erlangte es Stadtrecht, ab 1910 wurde es als größter östlicher Stadtbezirk in Großberlin eingemeindet. Kurzum, Lichtenberg benötigte damals endlich ein richtiges Ortszentrum. Der seinerzeit mit sternförmiger Straßenanbindung konzipierte Roedeliusplatz sollte dieser Kern werden: mit neogothischer Kirche in der Mitte, mit einem Amtsgericht nebst zeittypisch angegliedertem Gefängnis, später einem Finanzamt - Rathaus, Krankenhaus und Sportplatz in fußläufiger Nähe. Der 2017 an diese »gute alte Zeit« von Lichtenberg anknüpfende Wettbewerb zur Platzgestaltung mutete an, als ob Altmeister Lenné noch posthum den Genuis Loci neu erfinden wolle. Mit mehr Rasen-, Aufenthalts- und Spielflächen sowie Verkehrsberuhigung sollte eine Art Schmuckplatz entstehen. Nur die Geschichte zwischen dem Damals und dem Heute wurde komplett ausgeblendet. Die Wettbewerbsausschreibung der beauftragten Stattbau GmbH im Sanierungsgebiet Frankfurter Allee Nord und der schließlich ausgewählte Wettbewerbsbeitrag wirkten wie jene Reiseführer mit blinden Flecken, in denen das Gute und Schöne von Orten hervorgekehrt wird und die bösen deutschen Diktaturjahre einfach getilgt sind.

Der Aufarbeitungsverein Bürgerkomitee 15. Januar e.V., ansässig auf dem benachbarten Stasi-Gelände, protestierte im Rahmen der Bürgerbeteiligung. Der Verein hatte sich damals auf Führungen im Außengelände spezialisiert. Im Rahmen eines Vereinsprojektes hatten erste Recherchen auf die problematische Nachkriegsgeschichte der Gegend rund um den Platz verwiesen: Im Haus der jetzigen Kirchenverwaltung in der Schottstraße hatten sich noch vor der offiziellen Kapitulation im April 1945 sowjetische Besatzungsorgane niedergelassen - nebst provisorischer Haftzellen im Keller. Nebenan wurden Verwaltungs-, später Polizeiräume bereitgestellt. Im Finanzamt, einem der wenigen trotz des Krieges intakten Verwaltungsgebäude, richtete sich zunächst eine Nachrichtenabteilung der Besatzungsbehörden ein, später wurde es vorübergehend zur Polizeiinspektion Lichtenberg. Ihr damaliger Chef war 1945 der später berühmt-berüchtigte Erich Mielke. Als kommunistischer Militanter und Polizistenmörder gehörte er schon vor Hitlers Machtantritt zu den Totengräbern der demokratischen Weimarer Republik. Als dritter und am längsten amtierender Minister der DDR-Geheimpolizei sollte er fast 30 Jahre lang das bekannteste Repressionsorgan der DDR leiten. Die Untersuchungshaftanstalt »Magdalena« gehörte ab 1950 teilweise, ab 1955 komplett zum Ministeriumskomplex. Dieser Ort war am Roedeliusplatz neben dem MfS-Sitz selbst der problematischste. Mit der Besetzung Berlins nisteten sich dort verschiedene sowjetische Verfolgungsorgane ein. Die Haftanstalt war überfüllt. Dort residierte bald ein Sowjetisches Militärtribunal (SMT), das anfangs die zunächst suspendierte deutsche Gerichtsbarkeit ersetzte. Das SMT 48240 war bis 1955 für bestimmte politische und militärische Delikte in der gesamten SBZ/DDR zuständig. Ca. 200 Todesurteile und viele Haftstrafen - bis zu 25 Jahre im sowjetischen GULag - sind hier im ehemaligen Betsaal des Gefängnisses ausgesprochen worden.

Das alles war 1990, als die DDR unterging und auch Ostberlin mit Westberlin fusioniert wurde, nicht im öffentlichen Bewusstsein. Das Gefängnis wurde saniert und zum Resozialisierungsknast für straffällige Frauen ausgebaut. Auch die einstige Stasi-Unterlagenbehörde, die seit 2011 unter ihrem Leiter Roland Jahn das Stasi-Gelände zum Campus für Demokratie aufzuwerten versuchte, hatte mehr den Sitz der Überwachungs- und Repressionsbürokraten nebenan im Blick und weniger den Ort, an dem Menschen unter freiheitsentziehender Verfolgung gelitten hatten. Und so verwundert es kaum, dass die Stadtplaner und der Stadtarchitekt der Gruppe Planwerk zunächst keinerlei Einsicht zeigten und sich hinter Formalien wie dem Wettbewerbsrecht verschanzten. Dies sollte nicht die einzige Kapriole auf dem Weg zum Denkort Roedeliusplatz bleiben. Dabei hatte sich der Aufarbeitungsverein, der sich für ein Gedenken einsetzte, kompromissbereit gezeigt. Er stellte von vornherein klar, dass es ihm nicht darum ging, durch ein martialisches Denkmal Kinder und Bürger vom Platz zu vergraulen. Aber ein Zeichen der Nachdenklichkeit, das zum Fragen anregt, sollte schon gesetzt werden.

Zunächst kam es zum Eklat. Da sich das offizielle Lichtenberg nicht bewegte, betitelte eine überregionale Zeitung dessen Haltung als »Geschichtsvergessenheit«. Erst nach dieser Schlagzeile kam Bewegung ins Spiel. Lichtenberg musste die Wiederholung eines Skandals vom Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen befürchten. Vor einigen Jahren hatten dort ehemalige Stasi-Mitarbeiter Schließer in einer öffentlichen Veranstaltung auf eine Weise gegen kritische Hinweisschilder protestiert, die die ehemaligen politischen Häftlinge als demütigend und beleidigend empfanden. Wochenlang hatte diese Querele die Stadt beschäftigt. Am Roedeliusplatz drohte nach dem Zeitungsartikel ähnliches Ungemach. Wohnten doch zu DDR-Zeiten Hunderte von Mitarbeitern der Stasi und anderer SED-gelenkter Institutionen dort, die auch Jahre nach der deutschen Einheit und teilweise bis heute noch den Geist des Bezirks mitprägten und prägen. Er galt auch deswegen als Hochburg der rechtlich auf der ehemaligen Staatspartei fußenden Linkspartei.

Als innenstadtnaher Bereich mit vielen offenen Baustellen wollen sich die heutigen Kommunalpolitiker allerdings doch lieber als Bezirk der Vielfalt statt der Einfalt darstellen. Zunächst reagierte im Bezirksamt die CDU, dann die SPD. Schließlich sprang der damalige Bezirksbürgermeister von der Linkspartei auf den fahrenden Zug auf, und alle bekannten sich zur Erinnerung an die undemokratischen Zeiten. Schließlich gelobten sie, einen wahrheitsgemäßen Konsens zu suchen, der sich von dem Skandal im ehemaligen Stasi-Sperrbezirk Hohenschönhausen unterscheiden sollte. Der Autor dieses Textes wurde für den Aufarbeitungsverein beauftragt, Gutachten zu den Orten am Roedeliusplatz einzuholen und zu einer Empfehlung für das Bezirksamt zusammenzufassen.

Diese Gutachten fielen teilweise noch drastischer und detailreicher als die Vorkenntnisse aus. Das SMT 48240 war in der Sowjetischen Besatzungszone auch noch als Reisegericht tätig gewesen, so dass eigentlich Hunderte weitere fragwürdige Todesurteile auf das Konto dieses in Berlin ansässigen Gerichtes gingen, die durch Erschießen in Moskau vollstreckt wurden. Dazu gehörten auch Urteile bezüglich des Volksaufstands vom 17. Juni 1953. Die UHA II in der Magdalenenstraße war zu Stasi-Zeiten von deutlich mehr Häftlingen belegt als zunächst angenommen. Auch wenn die Verweilzeiten meist nur kurz waren, waren dort fast so viele Personen wie in der bekannteren UHA I in Berlin-Hohenschönhausen eingesperrt. Die Magdalenenstraße fungierte als Komplementär für diesen geheimen Haftanstaltskomplex insbesondere bei Erstvernehmungen und (raren) Besucherkontakten der Häftlinge, wenn Verwandte, Anwälte oder bei Ausländern diplomatische Vertreter zu »Sprechern« vorgelassen wurden. Beide Haftanstalten bildeten - was vorher nicht im Bewusstsein war - eine Einheit im System der politischen Strafjustiz der Stasi-Zentrale in Berlin. Auch als sogenannter Zuführungspunkt bei Massenfestnahmen, wie sie im Herbst 1989 exekutiert wurden, war die »Magdalena« vorgesehen.

Trotz eindeutiger Befunde kam nun Gegenwind aus der Bezirksverordnetenversammlung auf, wo die Linkspartei die größte Gruppierung stellte. Vielleicht wäre alles zerredet worden, wenn nicht glückliche Umstände zu Hilfe gekommen wären. Plötzlich war genügend Geld vorhanden, um einen aufwändigen Konsensprozess in die Wege zu leiten: Die sogenannten PMO-Mittel (Parteien und Massenorganisationen der DDR) - Gelder aus dem von der SED veruntreuten Parteivermögen - wurden über die Stadt verteilt, nachdem ein Gericht festgestellt hatte, dass die österreichische Bankerin mit Spitznamen »Rote Fini« SED-Millionen widerrechtlich im Alpenstaat geparkt hatte. Derartige Finanzen sollten im weiteren Sinne für Zwecke der deutschen Einheit verwendet werden.

Dass heute vor allem mentale Gräben die Einheit infrage stellen, machen Konflikte wie der in Lichtenberg deutlich. Insofern war das Geld im Grundsatz richtig angelegt. Konsense dauern. Und Zeit kostet Geld. Ein weiteres günstiges Moment war, dass der bald etablierte »Runde Tisch Roedelisuplatz« von dem erfahrenen ehemaligen Berliner Gedenkstättenverantwortlichen in der Kulturverwaltung, Rainer Klemke, kompetent und geduldig moderiert wurde. Zudem stand das Konsensmöbel dank der konstruktiven Beteiligung des dortigen Gerichtspräsidenten würdevoll im Amtsgericht am Roedeliusplatz, was die Ernsthaftigkeit des Bemühens unterstrich. Dennoch schlugen die Wogen der Diskussion oft hoch. Die »Ehemaligen«, also Stasi-Mitarbeiter, ließen sich anders als beim seinerzeitigen Hohenschönhausenskandal zwar nicht blicken. Es ist zu vermuten, dass die Linkspartei an dieser Stelle für Ruhe sorgte, da sie sich in der Bundeshauptstadt unter Politikern wie dem ehemaligen Kultursenator Klaus Lederer eher reumütig-einsichtsvoll und rundumerneuert präsentieren wollte. Allerdings schickte sie zwei Vertreter alter Zeiten an den Runden Tisch: einen Professor eines ehemaligen Institutes des Zentralkomitees der SED, also der Parteiführung, und einen ehemaligen höheren Funktionär des FDJ-Zentralrates, bei dem eine Überprüfung eine Stasi-Akte als Gesellschaftlicher Mitarbeiter zutage gefördert hatte. Diesen saßen am Runden Tisch - neben einem Mittelfeld aus benachbarten Institutionen und der evangelischen Kirche - Vertreter von Aufarbeitungs- und SED-Opfervereinigungen sowie Historiker gegenüber. Darunter war auch Rainer Buchwald als Vertreter der Vereinigung der Opfer des Stalinimus (VOS), die zumeist Kontakte mit ehemaligen SED-Funktionären ablehnt. Buchwald war selbst wegen einer Fluchtvorbereitung im Gericht von Lichtenberg verurteilt worden. Wie bei dieser Konstellation zu erwarten war, »knallte« es mehrfach in dieser Runde. Es wurde bestritten, dass der Platz mit der Repression in Verbindung gebracht werden dürfe. Wenn überhaupt, dann solle die Erinnerung in den Nebenstraßen stattfinden. Da man das Jahr 2019 schrieb und die Linkspartei damals an ihren kommunistischen Gründungsmythos in der Novemberrevolution erinnerte, sollte auf einmal auch an den »Schießbefehl« des Sozialdemokraten Gutav Noske erinnert werden, dem Lichtenberger Aufständische zum Opfer gefallen waren. Dass 1919 zuvor Polizisten des Lichtenberger Polizeireviers von der Bevölkerung massakriert worden waren (was die zeitgenössische konservative Propaganda übermäßig aufgebauscht hatte), fiel bei diesem Argument unter den Tisch. Allein der historische Begriff »Schießbefehl«, der ganz offenkundig auf die Schüsse an der DDR-Grenze anspielte, ließ erkennen, dass hier einzelne Lichtenberger Linke das DDR-Unrecht mit Verweis auf Untaten der Sozialdemokraten relativieren wollten.

Ernster zu nehmen war und ist die Frage, wer eigentlich nach dem Zweiten Weltkrieg rund um den Platz inhaftiert und verurteilt worden war. In den ersten Nachkriegstagen waren es rund zur Hälfte sowjetische oder ehemalige sowjetische Staatsbürger, oft Militärs, die sich nach sowjetischer Rechtsauffassung beispielsweise durch Fahnenflucht strafbar gemacht hatten. Dieses Kapitel ist mangels Quellenzugang bislang nicht erforscht. Außerdem saßen dort anfangs auch mutmaßliche Kriegsverbrecher, Verbrecher gegen die Menschlichkeit und NS-Kollaborateure wie Polizisten und Gefängniswärter ein, also Personen, die im Prinzip auch bei den Westalliierten nach Besatzungsrecht interniert und zum Teil abgeurteilt worden wären. Kein vernünftiger Mensch kann bestreiten, dass die Präsenz der sowjetischen Besatzungsorgane in Berlin eine Folge des verbrecherischen und gerade in Osteuropa verheerenden und brutalen Krieges war, den Hitler im Namen Deutschlands vom Zaum gebrochen hatte. »Ohne Hitler keine stalinistische Besatzung in Lichtenberg« war die knappe Formulierung, die der Aufarbeitungsverein Bürgerkomitee 15. Januar mehrfach wiederholte, um Brücken gegenüber jenen zu bauen, die dem Gedenken an diesem Ort skeptisch gegenüberstanden.

Allerdings unterschied sich die sowjetische stalinistische Praxis deutlich von der der Westalliierten. Zudem kamen im Laufe der Jahre zunehmend Kritiker und Gegner des von Stalin und der ihm hörigen KPD/SED oktroyierten politischen Systems ins Räderwerk dieser politisch motivierten Justiz: neben einfachen Bürgern, Studenten, Liberalen, Christdemokraten, Gewerkschaftern und Sozialdemokraten sogar Kommunisten, die nicht zu 100 Prozent auf Linie waren. Darunter befanden sich durchaus bekannte Namen wie Heinz Brandt, Willy Kreikemeyer, Walter Janka und andere. Viele der sowjetisch Verurteilten sind seit der Zeit des russischen Präsidenten Boris Jelzin von der Moskauer Militärjustiz auf Antrag rehabilitiert worden. Die SED selbst hatte um die Jahreswende 1989/90 unter ihrem Ministerpräsidenten Hans Modrow noch die meisten politischen Gefangenen freigelassen und berühmte Personen wie den Verleger Walter Janka und den Dissidenten Rudolf Bahro, beide ehemalige SED-Genossen, in Kassationsverfahren vor dem Obersten Gericht der DDR rehabilitieren lassen. Von daher war nicht ernstlich zu bestreiten, dass hier allein durch die Art der Verfahren massiv Unrecht stattgefunden und Menschenrechte verletzt worden waren. Selbst die im Grundsatz »richtig« wegen Kriegsverbrechen Angeklagten waren »falsch« verurteilt worden.

Schwierige juristische Gemengelagen wie diese wurden von Vertretern der Linkspartei am Runden Tisch zum Anlass genommen zu sagen, dass das alles so eindeutig nicht sei und man daher keinen Gedenkort, sondern »nur« einen Denkort schaffen solle. Vielleicht hatten sie nicht mit der Reaktion gerechnet, aber alle Historiker und Aufarbeitungsvertreter stimmten schnell und bereitwillig zu. Denn das Nachdenken über vergangenes Unrecht und mögliche Konsequenzen bis heute traf die Grundintention ihrer Initiative. Endgültig besiegelt wurde der Konsens durch die sinngemäße Äußerung des SED-Opfers Rainer Buchwald: »Wir sind doch alle gegen jedes Unrecht, egal in welcher Diktatur.« Buchwald entwaffnete damit auf einfache Art diejenigen, die ihren Antifaschismus gegen die SED-Dikaturaufarbeitung auszuspielen versuchten. Unterstellungen, die gerade damals wieder kursierten, die DDR-Aufarbeiter seien auf dem rechten Auge blind oder sogar selber am »rechten Rand« unterwegs, war damit der Boden entzogen. Der Weg war frei für die gemeinsam formulierte Widmung des Denkortes: »Für Menschenwürde - Gegen Diktatur. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges etablierten die sowjetischen Streitkräfte hier am Roedeliusplatz ihre Militärgerichtsbarkeit, der Haftort wurde später übernommen vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Hier wurden 1945 bis 1989 hundertfach politisch motivierte Todes- und Hafturteile gesprochen. Daran erinnert dieser Denkort.«
Dieser Kompromiss wurde in der Koptischen Gemeinde gefunden, die nunmehr in der Kirche in der Mitte des Roedeliusplatzes ihre Berliner Heimstatt gefunden hat. Die in ihren Herkunftsländern oft massiv bedrohte Glaubensgruppe zeigte auf Grund ihrer Verfolgungsgeschichte großes Verständnis für das Anliegen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft und gab der Schlusssitzung des Runden Tisches Roedeliusplatz einen würdigen und versöhnlichen Rahmen.

Ein künstlerischer Wettbewerb unter Berliner und Brandenburger Künstlern, wiederum finanziert mit PMO-Mitteln, führte zu einem eindeutigen Votum. Unter den zehn vorausgewählten Wettbewerbseinreichungen, die sich dem Thema zumeist abstrakt genähert hatten, wurde von der Jury der Vorschlag von Roland Fuhrmann ausgewählt, der sich am konkretesten auf die Repressionsgeschichte einließ. Vier Gefängnistüren als Grundelemente sollen an die Seiten des Platzes und die verschiedenen einschlägigen Institutionen erinnern. 50 dort eingelassene Linsen sollen mit den geschilderten Bezügen den Betrachtern die menschlichen Schicksale nahebringen.

Obwohl nach der Juryentscheidung alles nur noch eine handwerkliche Frage der Umsetzung schien, kam es immer wieder zu Querelen, die auch ein Schlaglicht auf den Zustand der Lichtenberger bzw. Berliner Verwaltung werfen. Nachdem der Runde Tisch eine eindeutige Standortempfehlung abgegeben hatte, kamen Vertreter der Lichtenberger Verwaltung, die sich am Runden Tisch weitgehend einen schlanken Fuß gemacht hatten, und kassierten diesen Vorschlag aus scheinbar zwingenden, u. a. denkmalpflegerischen Gründen und verpflanzten die Skulptur in die Nähe der verkehrsreichen Kreuzung, die kaum ein Nachdenken zulässt. Warum Bezirkssatzungen eine systematische Bürgerbeteiligung vorsehen, die Verwaltung dann aber - statt erwägenswerte Sachargumente rechtzeitig dort einzubringen - sich einfach über lange abgewogene Empfehlungen hinwegsetzt, bleibt offen.
Auch der Berliner Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur meinte offenbar, die Tatsache, dass seine Behörde sich um die PMO-Mittel zu kümmern hatte, bevollmächtige ihn, Beschilderungsvorschläge und abgestimmte Tafeltexte des Runden Tisches und seiner Fachexperten zu ignorieren. In Folge wurde eine Tafel nicht an der Haftanstalt aufgestellt, sondern in gehöriger Entfernung; angeblich hatte der Landesverfassungsschutz am Knast radikale Proteste befürchtet. Die Logik dieses Einwandes ist bis heute nicht nachvollziehbar.
Die letzte Kapriole leistete sich der Künstler, der die Skulptur entworfen hatte, im Zusammenspiel mit der Lichtenberger Kulturverwaltung. Obwohl sich alle Wettbewerbsteilnehmer fachlich-inhaltlich an den Ergebnissen des Runden Tisches orientieren sollten und dies auch bei der Beauftragung zur Realisierung der Skulptur bekräftigt worden war, wartete Fuhrmann mit eigenen historisch-fachlichen »Erkenntnissen« auf. Bei der Auswahl der Haft- und Verurteilten-Biographien wollte er sich davon leiten lassen, dass »der Denkort […] in die Zukunft wirken und auch dann noch aktuell sein [soll], wenn irgendwann vielleicht im Geschichtsunterricht STASI aus dem Lehrplan gestrichen wird.«
Auf Beobachter und Teilnehmer des Runden Tisches (auch den Autor) wirkt das so, als wolle Roland Fuhrmann zwischen Justizopfern erster und zweiter Klasse unterscheiden. Obwohl die selektive Auswahl Fuhrmanns, der offenbar davon ausgeht, dass das Thema Stasi-Unrecht zeitnah aus dem Schulunterricht verschwinden könnte, auch bildungspolitisches Skandalpotential in sich trug, störte sich das Bezirksamt Lichtenberg daran nicht und tat diesen historisch gravierenden Mangel als »künstlerische Freiheit« ab. Der Künstler nutzte seine »Freiheit« und eröffnete den Denkort, der sich immerhin im Eigentum des Stadtbezirks Lichtenberg befindet, auf eigene Faust, ohne überhaupt die Beteiligung der zivilgesellschaftlichen Initiatoren und Opfervereinigungen zu suchen. Das Bezirksamt deckte offenbar diese Eigenmächtigkeit. Eine offizielle Eröffnung scheut das Bezirksamt Lichtenberg bis heute, obwohl die Leitung der dortigen Kulturverwaltung inzwischen an die CDU gegangen ist. Was eigentlich nach dem Motto »ein guter Konsens ist mehr wert als ein schlechter Dissens« 33 Jahre nach dem Ende der zweiten Diktatur vom Verein Bürgerkomitee 15. Januar e. V., von dem die Initiative ausgegangen war, angestrebt und auch als zeitgemäß angesehen wurde, ist durch die historische »Tolpatschigkeit« des Künstlers und die Nachlässigkeit des Bezirksamtes wieder in Frage gestellt worden. Geschichte dampft eben immer noch.
Die NGOs beschlossen daher, den Denkort am 7. Oktober 2023 eigenständig zu eröffnen. Dies ist der Jahrestag der Massenfestnahme von Demonstranten, die 1989 anlässlich des Besuches des sowjetischen, reformorientierten Staatschefs Gorbatschow in der DDR demonstrierten, aber zusammengeknüppelt und u. a. in die Haftanstalt am Roedeliusplatz gebracht wurden, um sie einzuschüchtern. Das war etwas anderes als die Todesurteile nach 1945, aber auch eine Facette des Diktaturunrechts, an das der Denkort Roedeliusplatz erinnern soll. Aller Querelen in der Entstehungszeit zum Trotz ist er inzwischen fester Bestandteil von Lichtenberg.


[1] Christian Booß ist promovierter Historiker und Journalist. 2017 war er als Vorsitzender des Vereins Bürgerkomitee 15. Januar e. V. Initiator des Denkorts am Roedeliusplatz in Berlin-Lichtenberg.