Gefangen in Belarus

Auszug aus einer Rede am 9.10.2024 in Leipzig von Marianne Birthler

 

[…] Das Gefühl der Freiheit war überwältigend, niemand von denen, die in Leipzig oder Berlin dabei waren, wird es vergessen.

Um diese Hoffnung auf Freiheit ging es vor vier Jahren auch in Minsk. Doch es kam anders. Sie erinnern sich gewiss an die Frauen, die in ihren weißen Kleidern selbstbewusst und friedlich gegen die Scheinwahlen in Belarus demonstrierten. Unter ihnen die blonde, hochgewachsene Musikerin Maryja Kalesnikawa, ein Ausbund an Energie und Fröhlichkeit.

Sie ist Opfer des so genannten Inkommunicadoregimes – einer grausamen Isolationshaft, die jeden Kontakt zur Außenwelt verbietet. Ihre Familie hat seit 578 Tagen keinerlei Kontakt zu ihr. Es heißt, dass sie nur noch 45 kg wiegt und dass Briefe, die an sie gerichtet waren, vor ihren Augen zerrissen wurden.[1]

Auch die Familie von Maxim Znak hat seit 585 Tagen nichts von ihm gehört. Er ist Anwalt, Dichter und Musiker. Sein Buch »Zekamerone« mit Kurzgeschichten über das Leben in den belarusischen Lagern hat auch in Deutschland viele Leser erschüttert.

Ales Bialiatski, Friedensnobelpreisträger und Gründer des Menschenrechtszentrums Viasna, ist zum wiederholten Mal in Haft. Ein Mithäftling berichtete, dass er stark abgemagert und ständigen Schikanen ausgesetzt sei. Immer wieder würde er unter lächerlichen Vorwänden tagelang in die Strafzelle gesperrt. Auch er hat schon lange keinen Kontakt zu seinen Angehörigen.

Palina Sharenda-Panasyuk wird auch die »Jeanne d‘Arc« aus Brest genannt. Sie wurde berühmt für ihr letztes Wort vor Gericht, als sie dem Richter jegliche Legitimität absprach. Mehrfach wurde ihre Haft verlängert - jeweils wenige Tage bevor sie freikommen sollte. Sie ist sehr krank, leidet an chronischer Pankreatitis, aber es gibt keine angemessene medizinische Versorgung. Niemand weiß, wie lange ihr Körper noch durchhält, die Schmerzen müssen schrecklich sein.

Stepan Latypov ist Baumpfleger und Aktivist eines Wohnviertels in Minsk, das 2020 für seinen friedlichen Protest und fröhliche Hoffeste landesweit berühmt wurde. Er versuchte im Gerichtssaal vergebens, sich das Leben zu nehmen, man konnte an ihm die Spuren schwerer Misshandlungen sehen. Im letzten Winter ist er im Lager an Skorbut erkrankt.

Nur fünf Schicksale von etwa 1.400 politischen Gefangenen in den Lagern und Gefängnissen Lukaschenkas.

Wir können nicht viel für sie tun. Aber wir können von ihnen erzählen und öffentlich ihre Namen nennen, gerade weil das Regime will, dass sie vergessen werden. Ich bin dankbar, dies heute vor so vielen Menschen tun zu können.

Belarus befindet sich nicht im Krieg. Aber auch nicht im Frieden, denn das belarusische Volk ist schon seit Generationen seiner Freiheit beraubt. Das Regime geht mit gnadenloser Gewalt gegen die Zivilgesellschaft und unabhängige Medien vor. Zivilgesellschaftliche Organisationen wurden größtenteils verboten. Tausende Menschen, die sich an friedlichen Protesten beteiligt hatten, wurden verhaftet und leiden unter menschenunwürdigen Haftbedingungen.

Im Nachbarland von Belarus, in der Ukraine, herrscht ein grausamer Krieg.Putin lässt Städte in Schutt und Asche legen, Kinder entführen, Gefangene foltern und ermorden, und denkt überhaupt nicht daran, das Zerstören und Morden zu beenden. Längst führt er auch gegen uns und andere demokratische Länder Krieg, noch nicht mit Panzern, Raketen und Drohnen, aber mit Desinformation, Anschlägen auf die Infrastruktur und gezielten Morden. Er will die Ukraine bezwingen, Gossensprache und Vergewaltigungsphantasien eingeschlossen: »Ob es dir gefällt oder nicht, meine Schöne, du musst es erdulden.«

Und wir, die freien Bürgerinnen und Bürger eines freien Landes? Die noch dazu in einer der wohlhabendsten Regionen der Welt leben?

»Nicht unser Krieg« sagen hierzulande viele. Und die Mehrheit (53 Prozent) der Ostdeutschen stimmt dem Satz zu: »Deutschland sollte sich bemühen, die Kontakte zu Russland wiederaufzubauen und zu stärken.« Vielleicht, um Putin gnädig zu stimmen? Ungefähr genauso viele fordern, dass die Ukraine keine Waffen mehr aus Deutschland bekommt.

Und das alles angeblich aus Liebe zum Frieden. Mich erinnert das daran, wie der Friedensbegriff in der DDR missbraucht wurde. Am Rande der so genannten Friedensdemo vom 3. Oktober in Berlin hielt eine Ukrainerin ein Transparent hoch: »Euer Frieden ist unser Todesurteil!«

Die Menschen in der Ukraine verteidigen ihre Freiheit, weil sie nicht so leben wollen wie ihre Nachbarn in Belarus oder, noch schlimmer, wie in den von Russland besetzten Gebieten, in denen viele Tote noch in Massengräbern liegen und in denen Männer zwangsrekrutiert werden, um gegen ihr eigenes Land zu kämpfen.

Alles keine schönen Themen für einen Feiertag, ich gebe es zu. Aber der Weg in die Freiheit führt oft auch über die bittere Erkenntnis von Tatsachen. »In der Wahrheit leben« nannte Václav Havel das. Augen aufmachen, nicht wegschauen, wahrhaftig sein. Die Dinge beim Namen nennen.

Zur Wahrheit gehört, dass wir uns längst mitten in einem harten Kampf befinden: Nicht zwischen Ost und West, nicht zwischen links und rechts, nicht zwischen oben und unten. Der Kampf, in dem wir bestehen müssen, ist der zwischen autoritären und liberalen Systemen, zwischen offenen Gesellschaften und Diktaturen, zwischen Menschen, die die Freiheit lieben und denen, die sie zwar im Munde führen, in Wahrheit aber verachten und bekämpfen. Putin hat keine Angst vor der NATO, sondern vor der Freiheit – denn sie würde seine Macht beenden. Und die Feinde der Freiheit in unserem Land müssen Angst, Lügen und üble Stimmung verbreiten – sonst verlieren sie ihre Gefolgschaft. […]

[1]     Anmerkung der Redaktion: Wenige Tage nach Marianne Birthlers Rede durfte der Vater von Maryja Kalesnikawa sie in Haft besuchen.