„Muß das nicht wie ein Gefängnis auf sie wirken?“

Kinder und Jugendliche in sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen in den DDR-Nordbezirken

Von Falk Bersch[1]

„Während meines Praktikums [auf der psychiatrischen Kinderpflegestation 14 b im Bezirksfachkrankenhaus (BFKH) Ueckermünde] hat die Mehrzahl der Kinder diese Räumlichkeiten nicht verlassen. […] Ich muß annehmen, daß die Mehrzahl dieser Kinder ihre kleine Welt selten oder nie verlassen [hat]. Muß das nicht wie ein Gefängnis auf sie wirken?“[2]

Diese Worte schrieb eine junge Frau im November 1979 nach vier Wochen Praktikum in ihren Bericht. Die genannte Kinderpflegestation war eine geschlossene Station für 40 psychisch und teilweise auch physisch behinderte Kinder im Alter zwischen drei und 14 Jahren. Die Praktikantin forderte: „Die Menschenwürde dieser Kinder verlangt, daß wir nach Mitteln und Wegen suchen, dass hier anstehende Problem des Mitarbeitermangels und der fehlenden Beschäftigung und Förderung zu lösen!“[3]

Vergittertes Zimmer in der ehemaligen kinderpsychiatrischen Pflegestation P 9
im BKH Stralsund-West
, um 1987. Fotograf, Quelle: Michael Gillner 1987

Berichte wie diese bestätigen die Erfahrungen, über die Betroffene in der bei der Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur angegliederten Anlauf- und Beratungsstelle der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ erzählten, die aber oft im Detail kaum belegbar sind. Wie will ein Mensch mit einer geistigen Behinderung belegen, dass er vor 35 oder 55 Jahren eingesperrt, fixiert, sediertoder geschlagen wurde? „Unrecht schreibt man nicht auf!“, so hat es der Leiter einer heutigen Behinderteneinrichtung formuliert. Es ist also schwierig, im Falle von Menschen mit Behinderungen Unrecht konkret nachzuweisen: eine Fixierung ohne ärztliche Anordnung, eine Bestrafung mit drastischen Mitteln – all dies wurde nicht dokumentiert und man kann es in den ärztlichen Dokumenten allenfalls zwischen den Zeilen lesen.[4]

Was für einen großen Teil der sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen in den drei DDR-Nordbezirken Rostock, Schwerin und Neubrandenburg jedoch nachzuweisen ist, sind die Bedingungen, die letztlich zu dem Leid und Unrecht geführt haben. Die oben genannte Praktikantin aus Ueckermünde erwähnte den Personalmangel und die fehlenden Förder- und Beschäftigungsmöglichkeiten. Hinzuzufügen sind grundlegend auch weitere Faktoren, wie die Unterbringungsverhältnisse mit ihren hygienischen Bedingungen, die Überbelegung und die mangelnde Qualifizierung des Personals.

Kategorisierung von Menschen mit Behinderungen

In den 1980er Jahren wurden in der DDR Menschen mit Behinderungen, sogenannte „physisch-psychisch Geschädigte“, in acht Kategorien eingeteilt. Zunächst in 1. Körperbehinderte, 2. Hörgeschädigte, 3. Sehgeschädigte und 4. Sprachgeschädigte. Die diesen Kategorien zugeordneten Personen konnten in der DDRvielfach ein relativ selbstständiges Leben führen und sich im Sinne der politischen Vorgaben organisieren. So gab es den Allgemeinen Deutschen Gehörlosenverband, den Allgemeinen Deutschen Blinden-Verband und den Deutschen Verband für Versehrtensport.[5] Eine fünfte Kategorie nennt die „Verhaltensgeschädigten“, die zunächst in Hilfsschulen und „Verhaltensgestörtenschulen“ und ab 1964 ab der 5. Klasse nur noch in Spezialheimen oder dem „Kombinat der Sonderheime für Psychodiagnostik und pädagogisch-psychologische Therapie“ mit Sitz in Ost-Berlin beschult wurden.[6] Die folgenden Kategorien benennen 6. „schulbildungsfähige Intelligenzgeschädigte“, 7. „schulbildungsunfähige förderungsfähige Intelligenzgeschädigte“ sowie 8. „schulbildungsunfähige, förderungsunfähige Intelligenzgeschädigte“.[7]

Die letztgenannten drei Gruppen waren Menschen mit psychischen Erkrankungen, geistigen Behinderungen oder Mehrfachbehinderungen. Seit dem Anfang der 1950er Jahre wurden Minderjährige als „schulbildungsfähig bzw. -unfähig“ und „förderungsfähig bzw. -unfähig“ eingestuft. Diese Etikettierungen waren zu einem erheblichen Teil schlicht Zuschreibungen, die vorgenommen wurden, um ein Kind in eine vorhandene Einrichtung zu bringen, statt für vorhandene Kinder eine ihren Bedürfnissen entsprechende Einrichtung zu schaffen.[8]

„Schulbildungsfähige Intelligenzgeschädigte“ wurden in Sonderschulen unterrichtet und in vielen Fällen dort in Internaten untergebracht. „Schulbildungsunfähige förderungsfähige Intelligenzgeschädigte“ hatte man aus dem Bildungssystem herausgenommen und in die Verantwortung des Gesundheitswesens übergeben. Dies ist ein Beleg dafür, dass Behinderung als Krankheit gesehen wurde. Dabei orientierte man sich noch am Reichsschulpflichtgesetz von 1938 § 11, nach welchem „bildungsunfähige“ Kinder von der Schulpflicht ausgenommen waren. Ab den 1970er Jahren bekamen diese Minderjährigen vermehrt eine Förderung in Tages- und Wochenförderstätten. Für die so bezeichneten „schulbildungsunfähigen, förderungsunfähigen Intelligenzgeschädigten“ wurde in den Akten des Gesundheitswesens auch häufig das Synonym „Pflegebedürftige“ verwendet. Der größte Teil dieser geistig behinderten Kinder und Jugendlichen war – wenn nicht zu Hause betreut – in Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebracht. Dort waren sie in der Regel von rehabilitativer Förderung ausgeschlossen und wurden lediglich verwahrt. Erst in den 1980er Jahren setzte sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass es eine „Förderunfähigkeit“ nicht gab, der Begriff wurde manchmal durch „elementar förderfähig“ ersetzt und eine rehabilitative Förderung dieser Kinder und Jugendlichen begann vereinzelt stattzufinden.[9]

Diese Einstufungen hatten nicht nur für den Bildungsweg der Kinder und Jugendlichen weitreichende Folgen, sondern schon für das Infragekommen einer rehabilitativen Förderung. Die Grundlagen für eine Einstufung als „förderungsfähig“ oder „förderungsunfähig“ waren reine Nützlichkeitserwägungen. Als „förderungsfähig“ galt dabei nicht der Minderjährige, dem durch Fördermaßnahmen etwas beigebracht werden konnte, sondern der, von dem angenommen werden konnte, dass er später in der Lage sei, eine Arbeitstätigkeit aufzunehmen.[10] Das bedeutete, dass viele Kindern und Jugendliche, die als „förderungsunfähig“ eingestuft wurden, ab diesem Zeitpunkt kaum mehr eine Chance hatten, in ihrer Entwicklung Fortschritte zu machen. Zwar gab es jährliche Überprüfungen, aber da keine Förderung erfolgte, scheint es hier kaum Umstufungen gegeben zu haben.

„Daraus folgt, daß der Begriff ‚förderungsfähig‘ nicht schlechthin einen Menschen bezeichnet, dem durch Fördermaßnahmen etwas beigebracht werden kann“. Schreiben zur Einstufung der minderjährigen Heimbewohner des Michaelshofes in „schulbildungsunfähige, förderungsfähige“ und „förderungsunfähige, pflegebedürftige“ Kinder und Jugendliche vom 11. September 1984. Quelle: Archiv Michaelshof, Nr. 167.

Die Zahl der Kinder und Jugendliche in den drei Nordbezirken, die dies betraf, ist nicht ermittelbar und kann nur geschätzt werden. 1989 gab es in der DDR 162.949 Kinder und Jugendliche im Schulbesuchsalter mit „geistigen Störungen“, mehr als die Hälfte von ihnen galt als geistig behindert. 1970/71 lebten in den Bezirken Neubrandenburg, Schwerin und Rostock insgesamt 679.227 Kinder und Jugendliche. Davon hatten 20.058 „geistige Störungen“, ohne dass der Begriff in den statistischen Angabendefiniert wurde. Von diesen Minderjährigen waren 1.400 stationär untergebracht. Man kann also davon ausgehen, dass sich ab den 1970er Jahren in den drei DDR-Nordbezirken im Schnitt 1.400 Kinder und Jugendliche in psychiatrischen Großkliniken bzw. deren Außenstationen, in staatlichen und konfessionellen psychiatrischen Pflegeheimen, aber auch in Feierabendheimen und in normalen Krankenhäusern befanden. Ein großer Teil von ihnen dürfte als „förderungsunfähig“ bzw. “Pflegefall“ eingestuft worden sein.[11]

Die Situation von Kindern und Jugendlichen in sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen der DDR kann nicht nur anhand der dramatischen Zustände in der Ueckermünder Kinderpsychiatrie aufgezeigt werden. Es gab in vielen konfessionellen wie auch staatlichen Einrichtungen Einzelpersonen oder ein Kollektive, welche mit großem Engagement für die ihnen anvertrauten Kinder da waren. Es existierten Tagesförderstätten, in denen Kinder gut aufgehoben waren. Viele Kinder mit Körperbehinderungen oder Sinnesschädigungen sind mit ihrer Betreuung, Förderung und Bildung im Nachhinein zufrieden. Aber die Arbeit der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ zeigte deutlich: Ein großer Teil von Kindern und Jugendlichen mussten in den sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen Leid und Unrecht erleben. Die Frage, welche Gruppen von Minderjährigen dies besonders betraf, lässt sich – neben dem individuellen Empfinden – vor allem durch folgende Faktoren erklären: der Zeitpunkt; die Art der Behinderung oder Erkrankung und ihr Schweregrad; eine Einstufung als „schulbildungsfähig“, „schulbildungsunfähig“, „förderungsfähig“ oder „förderungsunfähig“; die familiäre Situation; die Art der Einrichtung; die Lage der Einrichtung.[12]

Gemeldete Kinder und Jugendliche mit Körperbehinderungen und „geistigen Störungen“ sowie deren stationäre Unterbringung sowie Gesamtzahl aller Kinder und Jugendlichen bis zum Alter von 18 Jahren in den DDR-Nordbezirken. Quelle: Bersch, Falk (2020): Kinder und Jugendliche in sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen in den DDR-Nordbezirken, Teil 1: Die historische Entwicklung. Hgg. v. Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Schwerin, S. 269.

Sonderpädagogische, psychiatrische und Behinderteneinrichtungen

Ministerium für Volksbildung
1. Kindergärten    
2. Hilfsvorschulheime 
3. Sonderschulen (z. T. mit Internat und angegliederten Berufsschulen) 
3.1 Blindenschule 
3.2 Sehschwachenschule 
3.3 Gehörlosenschule – ab hier Stand 1977 
3.4 Schwerhörigenschule 
3.5 Sprachheilschule 
3.6 Sonderschule für Körperbehinderte 
3.7 Verhaltensgestörtenschule 
3.8 Hilfsschule[1]

Bei sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen handelt es sich um völlig verschiedene Institutionen, die unterschiedliche Gruppen von Minderjährigen betreuten, behandelten, beschulten oder förderten. Dies waren sowohl staatliche als auch konfessionelle Einrichtungen.[13]Die staatlichen Einrichtungen unterstanden dem Ministerium für Volksbildung, dem Ministerium für Gesundheitswesen und den Ministerien der Wirtschaftszweige bzw. mehreren Ministerien gleichzeitig. Die folgenden Übersichten listen verschiedene Typen von Einrichtungen auf, in denen sich Kinder und Jugendliche mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen befanden, egal ob diese Einrichtungen für sie vorgesehen waren oder nicht.

MINISTERIUM FÜR GESUNDHEITSWESEN
Einrichtungen auf Bezirksebene 
1. Universitätskliniken          
2. Heil- und Pflegeanstalten, Bezirksnervenkliniken 
2.1 Außenstationen 
2.2 Arbeitstherapeutische Außenstationen

3. Bezirksrehabilitationszentren

Einrichtungen auf Kreisebene 
1. Dauerheime für Säuglinge und Kleinkinder 
2. Kinderkrippen 
3. Allgemeine Krankenhäuser (z.B.Kreiskrankenh.)
3.1 Psychiatrische Pflegestationen 
4. Psychiatrische Krankenpflegeheime & -stationen 
5. Tages- und Wochenförderstätten  
6. Geschützte Wohneinrichtungen 
7. Kreisrehabilitationszentren 
8. Feierabend- und Pflegeheime[1]

Konfessionelle Einrichtungen 
1. Dauerheime für Säuglinge und Kleinkinder / Kinderkrippen 
2. Kindergärten 
3. Krankenhäuser 
4. Traditionelle Einrichtungen / Diakonische Anstalten 
5. Kleinere Pflege- und Fördereinrichtungen 
6. Arbeitstherapeutische Heime / Geschützte Arbeitsplätze 
7. Moderne Behinderteneinrichtungen und -projekte[1]

 
   

Bezirksfachkrankenhaus Ueckermünde

Nach dem Zweiten Weltkrieg sollten aus den Heil- und Pflegeanstalten psychiatrische Kliniken werden. Nach der Gebietsreform von 1952 und der damit verbundenen Einführung von Bezirken kam es zu Umstrukturierungen der psychiatrischen Großkrankenhäuser bzw. ihrer territorialen Versorgungsaufträge. Sie wurden in der Folge zu Bezirkskrankenhäusern (BKH) bzw. Bezirksfachkrankenhäusern (BFKH). Die Umwandlung der Heil- und Pflegeanstalten in moderne psychiatrische Kliniken war jedoch zum Ende der 1980er Jahre noch lange nicht beendet. In den psychiatrischen Großkrankenhäusern gab es bis zuletzt Stationen, auf denen Patienten lediglich verwahrt wurden. Die Lebens- und Unterbringungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen im BFKH Ueckermünde werden nun näher erläutert.[14]

Das AMEOS Klinikum Ueckermünde, 2024. Foto: Falk Bersch.

Die 1875 eröffnete „Provinzial-Irrenanstalt bei Ueckermünde“ wurde in der ersten Hälfte des 20: Jahrhunderts als „Landesheil- und Pflegeanstalt“ bezeichnet. 1949 bekam die Anstalt eine Kinder- und Jugendpsychiatrische Abteilung mit zwei Stationen für pflegebedürftige Kinder und einer Station für geistig behinderte, verhaltensgestörte Kinder. 1961 änderte sich die Krankenhausbezeichnung in „Neuropsychiatrisches Bezirkskrankenhaus“, sie wurde in der Regel jedoch Bezirksfachkrankenhaus (BFKH) genannt.  In den 1970er und 1980er Jahren gab es in Ueckermünde über 500 Betten für Kinder und Jugendliche, wovon viele mit überalterten Patienten belegt waren.[15]

In der Einrichtung in Ueckermünde haben Kinder und Jugendliche nach den Angaben der Anlauf- und Beratungsstelle der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ besonders vielfach Leid und Unrecht erfahren. Neben den Aussagen der Betroffenen lassen sich die schlimmen Zustände im BFKH durch weitere Zeugen belegen:

Der Rehabilitationspädagoge Volker Keßling war in den 1970er und 80er Jahren als Fachberater beim Brandenburger Bezirksarzt tätig. 1980 erschien sein „Tagebuch eines Erziehers“[16], worin Keßling die Probleme der Kinderpsychiatrie in der DDR beklagt. Darin beschreibt er einen Besuch im BFKH Ueckermünde im August 1974. Auf der Kinderstation sah „zwanzigjährige Kinder“ dort liegen und kommentiert dies mit den Worten: „Es ist ein Jammer […] wir sind voll, verstopft.“[17] Auf der Pflegestation für geistig behinderte Kinder „[…] liegen, stehen, krauchen Kinder umher, zum Teil nackt mit ausgerissenen Haaren. Ich nehme an, die Kinder werden zwischen acht und fünfzehn Jahre alt sein. Das ist schwer zu schätzen. Manche drehen sich unaufhörlich im Kreis, stoßen Laute aus. Es riecht fürchterlich nach Exkrementen und Desinfektionsmitteln. Zwei Schwestern kommen mit einem Essenskübel voll breiiger Nahrung und einigen Plasteschüsseln. Sie […] beginnen zu füttern. Wie im Zoo.“[18]Keßling resümiert am Ende des Rundganges: „Das nennt sich also Krankenhaus. […] Die Kliniken sollen der Gesellschaft nicht das Problem verstecken helfen! Wird das Leid geringer, wenn man es hinter eine Tür sperrt?“[19] Und er erklärt in einer privaten Tagebuchnotiz, dass viele der Kinder und Jugendlichen ebenso in einer Tagesförderstätte untergebracht werden könnten.[20]Keßlings Buch hatte in der DDR eine hohe Auflage und erreichte so einen großen Teil der im pflegerischen und sonderpädagogischen Bereich tätigen Mitarbeiter. Der Autor ist heute noch darüber verwundert, dass seine Beschreibung der Zustände im BFKH unzensiert veröffentlicht wurde.[21]

Gitterbetten im BFKH Ueckermünde, o. D. Fotograf: Hans Eichhorn;
Quelle: HAUe, Nachlass Hans Eichhorn, unsortiert.

Die in der Einleitung angeführte namentlich ungenannt bleibende Praktikantin war im November 1979 auf der psychiatrischen Kinderpflegestation 14 b im BFKH Ueckermünde tätig. Die Kinderpflegestation war eine geschlossene Station für 40 psychisch und teilweise auch physisch behinderte Kinder im Alter zwischen drei und 14 Jahren. Ihr Bericht ist sachlich, detailliert und voller Empathie. Sie erklärte, dass die Arbeit auf der Kinderpflegestation 14b für das Pflegepersonal mit hoher physischer und psychischer Belastung verbunden sei und aufgrund der Mehrbelastung durch Personalmangel könne nur das Notwendigste zur Betreuung geschehen. Es sei keine ausgewogene Beschäftigung mit den Kindern möglich und eine Überprüfung, inwieweit gezielte Beschäftigung die Kinder fördern könne, erfolge nicht. Aber der Wunsch nach Beschäftigung sei bei den Kindern vorhanden: Sie führte ein Mädchen, das im Schlafsaal nach und nach große Teile des Fußbodenbelags zerfetzte, als Beispiel dafür an, wie schlechte sozialpsychologische Bedingungen zu Hospitalismus, Apathie und Aggressivität führten. Sie vermisste während ihrer Arbeit „stark jegliches Gefühl emotionaler Zuwendung vom Pflegepersonal zu den Kindern. Das Fehlen dieser Grundvoraussetzung jeglichen menschenwürdigen Handelns machte die Atmosphäre oft gespannt, so daß es auch nicht ausblieb, daß Kinder hin und wieder geschlagen wurden.“[22] Zudem war die räumliche Situation nicht den Bedürfnissen angemessen. Für 40 Kinder gab es drei Schlafsäle, einen Aufenthaltsraum und ein Bad, für das Personal ein Stations- und ein Dienstzimmer. Das Inventar des Aufenthaltsraumes bestand aus Tischen, Stühlen, Wandschränken und zwei Matratzen auf dem Boden. Das kalte und unfreundliche Raumgefühl wirkte sich auf die Kinder negativ aus. Die hygienischen Zustände machten die Praktikantin„betroffen“.[23] Die Kinder waren unvollständig angezogen, die meisten waren ohne Strümpfe und Schuhe. Dabei war es in den Räumen nie sehr warm, was sie als Ursache des Schnupfens vieler Kinder sah. Andere Kinder waren völlig nackt. Die persönliche Hygiene kam „sehr zu kurz […:] Lediglich das Gesicht und die Hände der Kinder wurden am Vormittag bzw. nach den Mahlzeiten mit dem gleichen Waschlappen im gleichen Wachwasser abgewaschen. In der Regel wurde einmal die Woche gebadet.“[24] Auch hier nutzten 40 Kinder das gleiche Badewasser. Das Abtöpfen der Kinder dauerte oft zwei Stunden, des Öfteren wurden die Kinder beim Abtöpfen gleichzeitig gefüttert: „Beim Füttern selbst war es üblich, daß mehrere Kinder nacheinander mit dem gleichen Löffel und aus der gleichen Schüssel ihr Essen erhielten.“[25] Nicht jedes Kind hatte ein eigenes Bett, die Betten wurden des Öfteren getauscht, jedoch dabei nicht immer frisch bezogen. „Besonders abstoßend“ fand die Praktikantin ein Gitterbett: „Jenes Mädchen, daß den Fußbodenbelag zerfetzte, schlief jede Nacht in diesem Gitterbett. Das Gitterbett ist ein verschließbarer Käfig aus Metallstäben, mit einer Holzpritsche als Matratze und einer Decke oder Laken als Zudecke. Im Gitterbett, das auch am Tage stundenweise als Karzer diente, können die Kinder nicht stehen, die z.B. besonders laut waren, wurden – menschenunwürdig – in dieses Stationsgefängnis gesteckt und mussten dort stundenlang ausharren.“[26] Ihr Resümee im Schreiben lautete: „Die Menschenwürde dieser Kinder verlangt, daß wir nach Mitteln und Wegen suchen, dass hier anstehende Problem des Mitarbeitermangels und der fehlenden Beschäftigung und Förderung zu lösen!“[27]

Die Praktikantin erbat die Weiterleitung ihres Berichts zusammen mit einem Dienstablaufplan an zuständige Organe des Gesundheitswesens. Ihre Aufzeichnungen erreichten den Leiter der Hauptabteilung (HA) Medizinische Betreuung im Ministerium für Gesundheitswesen Christian Münter (*1926), der am 20. Mai 1980 von Bezirksarzt Möwius einen ausführlichen Bericht forderte. Der Bezirksarzt leitete daraufhin eine „inoffizielle Nachprüfung“ ein, eine „offizielle Bearbeitung und Beantwortung“ des Schreibens der Praktikantin sollte nicht erfolgen. Die Formulierung deutet an, dass bereits eine Prüfung stattgefunden hatte, welche aber anscheinend völlig unzureichend war. Denn nun erst sollte vor Ort geklärt werden, ob die Darstellungen der Realität entsprachen und welche Maßnahmen zur Veränderung für erforderlich gehalten wurden. Bei der Begehung vor Ort sollte die Informationsquelle nicht preisgegeben werden. Ob es unmittelbar darauf zu konkreten Verbesserungen auf der Kinderpflegestation kam, geht aus den eingesehenen Unterlagen nicht hervor.[28]

Zwei Jahre später, 1981, übernahm Hans Eichhorn (1942–2016) als neuer Ärztlicher Direktor die Leitung des BFKH Ueckermünde und leitete sofort Reformen ein. Mit seinen teils drastischen Maßnahmen und seinem autoritären Stil machte er sich innerhalb und außerhalb der Einrichtung viele Feinde. Dennoch gelangen ihm Verbesserungen zugunsten von Patienten. Er bekam durch Verlegungen von Langzeitpatienten dringend benötigte Betten zu Diagnostik und Einstufung behinderter Kinder frei, strukturierte verschiedene Klinikbereiche neu und schaffte Zwangsmaßnahmen ab. 

„Ich muß annehmen, daß die Mehrzahl dieser Kinder ihre kleine Welt selten oder nie verlassen [hat].“ Erste Seite des Berichts von G. T. über ihr Praktikum auf der Kinderpflegestation 14b des BFKH Ueckermünde vom 30. November 1979.
Quelle: LHAS, 7.21-1-2, Z 108/1991, Nr. 28735.

Eichhorn dokumentierte selbst die Zustände, die er in Ueckermünde bei seinem Dienstantritt vorfand, und die er zu bessern suchte.1985 und 1988 entstanden unter der (Mit-)Autorschaft von Eichhorn zwei Lehrfilme, die sich kritisch mit der Situation in Ueckermünde vor 1981 auseinandersetzen und die positiven Auswirkungen der von Eichhorn durchgeführten Reformen in den Mittelpunkt rückten.Die weiter bestehenden Probleme im BFKH wurden dabei allerdings fast ausgeblendet. Dennoch, Eichhorn machte mit diesen Filmen, die natürlich nicht für eine breite Öffentlichkeit bestimmt waren, auf eklatante Missstände einer psychiatrischen Großklinik der DDR aufmerksam.[29]Eichhorn ließ in den Filmen viele Szenen nachstellen, die er bei seinem Antritt in Ueckermünde vorgefunden hatte, etwa wie zwei Pfleger gewaltsam einen Patienten in einem Netzbett verschnüren[30] oder wie ein Junge auf einem Stuhl sitzend und an einem Pfeiler festgebunden ist[31]

Andere Aufnahmen scheinen nicht nachgestellt zu sein, so die Fotos von geistig behinderten Kindern, die in gefliesten Räumen eng zusammensitzen und gefüttert werden.[32] Im Film von 1988 wird eine Patientin vor einem Gitterbett gezeigt, an dem auf einem Schild zu lesen ist: „In diesem ‚Bett‘ (ohne Matratze) befand sich bis 1981 die Patientin P. (geb. 1965)“. Der Kommentar von Hans Eichhorn dazu lautet: „Bis in das Jahr 1982 hinein, waren solche Käfige als Wohnstätten für geistig Behinderte üblich. Diese Patientin, die heute in einem normalen Bett liegt, galt als besonders aggressiv und musste lange Zeit, bis 1981, in diesem Käfig vegetieren.“[33] Viele der großen Probleme der Einrichtung konnte jedoch auch Eichhorn nicht lösen.

1992 drehte der Journalist Ernst Klee in der nun vom Christophorus-Diakoniewerk übernommenen Einrichtung seinen Film „Die Hölle von Ueckermünde“.[34]Die Reportage wurde 1993 in der ARD gesendet und erreichte Millionen Zuschauer.Klee schuf damit das eindringlichste Zeugnis über die Zustände in der ehemaligen Psychiatrieanstalt.Die schwer zu ertragenden Bilder zeigen, was aus den Kindern, die Keßling 1974 und die Praktikantin 1979 in Ueckermünde vorfanden, die nie Zuwendung und Förderung erfuhren, geworden ist.[35]

„Das möchten wir anklagen.“ Beschwerde von Patienten an den Gesundheitsminister der DDR vom 5. Dezember 1988 über eigenmächtig erhöhte Medikamentendosis zum Zweck der Ruhigstellung von Patienten im BFK Ueckermünde. Quelle: LHAS, 7.21-1-2, Z 108/1991, Nr. 28698 B.

Schlussbemerkungen

Die Gründe, weshalb es in der DDR nicht gelang, für alle Menschen mit Behinderungen Voraussetzungen für ein sinnerfülltes Leben, ja für menschenwürdige Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen, sind vielfältig.Im Oktober 1990 nahmen Mitarbeiter der Abteilung Gesundheitswesen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe eine Bestandsaufnahme der psychiatrischen Versorgung des zukünftigen Landes Mecklenburg-Vorpommern vor. Sie hatten die Versorgung behinderter und chronisch kranker Langzeitpatienten in verschiedenen Großkrankenhäusern und psychiatrischen Pflegestationen der Kreiskrankenhäuser in den ehemaligen DDR-Nordbezirken Rostock, Schwerin und Neubrandenburg untersucht und kamen zu dem Schluss: „Zum großen Teil kann die Situation nur als katastrophal und menschenunwürdig bezeichnet werden: Großstationen, Überbelegung, mangelnde Tagesstrukturierung, bauliche Mängel, unzureichendes Personal.“[36]

In der Bundesrepublik war mit der Psychiatriereform 1975 eine Umstrukturierung der psychiatrischen Versorgung und Betreuung eingeleitet worden, in deren Verlauf sich die Verhältnisse für Menschen mit Behinderungen nach und nach verbesserten. In der DDR konnten die seit den 1960er Jahren erarbeiteten Reformen auf dem Gebiet der Psychiatrie nicht oder nur sehr mangelhaft umgesetzt werden. Die Experten aus Westfalen-Lippe mahnten für das neue Gesundheitssystem dringliche Veränderungen an: „Erste Priorität muß es sein, ‚humane‘ Lebensbedingungen für die chronisch psychisch Kranken und Behinderten zu schaffen.“[37]

 

Anmerkungen

[1] Falk Bersch, geb. 1972, forscht u.a. zum DDR-Strafvollzug, zur Situation von Minderjährigen mit Behinderungen in der DDR, zur Verfolgung der Zeugen Jehovas unter beiden deutschen Diktaturen und zur jüdischen Emigration nach Shanghai in der Zeit des Nationalsozialismus.

[2]Zitiert nach: Bersch, Falk (2022): Kinder und Jugendliche in sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen in den DDR-Nordbezirken, Teil 2: Die Institutionen I – Gesundheitswesen. Hgg. v. Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Schwerin, S. 60.

[3]Zitiert nach: Ebd., S. 59.

[4] Vgl. ebd., S. 12.

[5]Vgl. Becker, Klaus-Peter/Autorenkollektiv (1984): Rehabilitationspädagogik. 2. und erw. Auflage. Verlag Volk und Gesundheit, Berlin, S. 193 ff. Bersch 2022, S. 11.

[6] In den drei DDR-Nordbezirken gab es keine Einrichtung des Kombinates der Sonderheime. Das Konzept des Kombinates wurde 1987 aufgegeben und die Einrichtungen in ein Pädagogisch-Medizinisches Zentrum umgewandelt. Sie galten fortan als „Sonderschulheime für Verhaltensgestörte“, blieben unter der Regie der Jugendhilfe und glichen in der Unterstellung einem Spezialheim. Vgl. Methner, Andreas (2015): „Diagnose: verhaltensgestört“. Das Kombinat der Sonderheime in der DDR. Metropol-Verlag, Berlin, S. 49 ff., 220.

[7] Vgl. Becker 1984, S. 193 ff. Der Begriff „Intelligenzgeschädigte“ hatte den Begriff „Schwachsinnige“ abgelöst.

[8] Vgl. Bersch, Falk (2020): Kinder und Jugendliche in sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen in den DDR-Nordbezirken, Teil 1: Die historische Entwicklung. Hgg. v. Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Schwerin, S. 16.

[9] Vgl. ebd., S. 13f., 65, 70.

[10] Vgl.ebd., S. 73–75.

[11] Vgl. ebd., S. 267–269.

[12]Vgl. Bersch 2022, S. 18–29.

[13] In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zudem entsprechende private Einrichtungen.

[14] Vgl. Bersch 2022, S. 41.

[15] Vgl. ebd., S. 41 f.

[16]Vgl. Keßling, Volker (1980): Tagebuch eines Erziehers. Verlag Neues Leben, Berlin.

[17]Ebd., S. 36.

[18]Ebd., S. 36 f.

[19]Ebd.

[20]Vgl. Bersch 2022, S. 59.

[21]Vgl. ebd.

[22]Ebd.

[23] Ebd., S. 60.

[24]Ebd.

[25]Ebd.

[26]Ebd.

[27]Ebd., S. 63.

[28]Vgl. Ebd., S. 61.

[29]Vgl. ebd., S. 48.

[30] Zur Entwicklung psychiatrischer Krankenhäuser am Beispiel des Bezirksfachkrankenhauses Ueckermünde, Lehrfilm der Psychiatrischen Klinik der Karl-Marx-Universität Leipzig, 1985, Autoren: Klaus Weise und Hans Eichhorn.

[31] Psychiatrie im Wandel – Bezirksfachkrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Ueckermünde, Film der Psychiatrischen Klinik der Karl-Marx-Universität Leipzig, 1988, Autor: Hans Eichhorn.

[32]Ebd.

[33]Ebd.

[34] Die Hölle von Ueckermünde. Psychiatrie im Osten, eine Reportage von Ernst Klee, Deutschland 1993, Hessischer Rundfunk.

[35] Vgl. Bersch 2022, S. 67.

[36]Ebd., S. 10 f.

[37]Ebd., S. 11.

Buchcover: Bersch, Falk: Kinder und Jugendliche in sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen in den DDR-Nordbezirken, Teil 1 (2020), Teil 2.1 (2022) und Teil 2.2 (2024).

Autor:

Falk Bersch, geb. 1972, forscht u.a. zum DDR-Strafvollzug, zur Situation von Minderjährigen mit Behinderungen in der DDR, zur Verfolgung der Zeugen Jehovas unter beiden deutschen Diktaturen und zur jüdischen Emigration nach Shanghai in der Zeit des Nationalsozialismus.

Das heutige AMEOS Klinikum Ueckermünde, 2024. Foto: Falk Bersch.

Quellenverzeichnis

Literatur

Becker, Klaus-Peter/Autorenkollektiv (1984): Rehabilitationspädagogik. 2. und erw. Auflage. Verlag Volk und Gesundheit, Berlin.

Bersch, Falk (2020): Kinder und Jugendliche in sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen in den DDR-Nordbezirken, Teil 1: Die historische Entwicklung. Hgg. v. Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Schwerin.

Bersch, Falk (2022): Kinder und Jugendliche in sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen in den DDR-Nordbezirken, Teil 2: Die Institutionen I – Gesundheitswesen. Hgg. v. Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Schwerin.

Bersch, Falk (2024): Kinder und Jugendliche in sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen in den DDR-Nordbezirken, Teil 2: Die Institutionen II – Volksbildung/Kirchen. Hgg. v. Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Schwerin.

Keßling, Volker (1980): Tagebuch eines Erziehers. Verlag Neues Leben, Berlin.

Methner, Andreas (2015): „Diagnose: verhaltensgestört“. Das Kombinat der Sonderheime in der DDR. Metropol-Verlag, Berlin.

Filme

Die Hölle von Ueckermünde. Psychiatrie im Osten, eine Reportage von Ernst Klee, Deutschland 1993, Hessischer Rundfunk.

Psychiatrie im Wandel – Bezirksfachkrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Ueckermünde, Film der Psychiatrischen Klinik der Karl-Marx-Universität Leipzig, 1988, Autor: Hans Eichhorn.

Zur Entwicklung psychiatrischer Krankenhäuser am Beispiel des Bezirksfachkrankenhauses Ueckermünde, Lehrfilm der Psychiatrischen Klinik der Karl-Marx-Universität Leipzig, 1985, Autoren: Klaus Weise und Hans Eichhorn.