Angekommen-Ausgesperrt: Exil

von Sabine Auerbach

Wenn du nach zehn oder fünfzwölf Jahren Exil in das Land deiner Geburt, wo du einst zu Hause warst, zurückkommst, darfst du nicht erwarten, dass du erwartest wirst.

Menschen, mit denen du im Geiste gelebt hast, sind gestorben. Du weißt das, aber du hast weiter mit ihnen im Geiste gelebt. Nun überrollt dich die Realität.

In der Geschichte von Günter Kunert „Straßengeschichte“ nimmt ein Exilant, bevor er sein Land verlassen muss, seine Straße mit. Er rollt sie einfach zusammen, knickt sie und trägt sie unter dem Mantel von einem Ort zum anderen, von einem Land in das andere und rollt sie jeden Abend, wenn er eine Bleibe gefunden hat, aus und begegnet in dieser abendlichen Situation allen, die in seiner Straße wohnen und die dort das Ewiggleiche tun. Als er nach Jahren aus dem Exil zurückkehrt und seine Straße an ihrem Ursprungsort ausrollen will, da passt sie dort nicht mehr hin.

Tante Erna winkt nicht mehr aus dem dritten Stock des gegenüberliegenden Hauses, wenn du zurückkommst. Im Haus deiner Kindheit und Jugend wohnen jetzt Fremde. Einige sind auch hier gestorben, andere erkennen dich nicht mehr. Oder sie bleiben auf der Straße stehen und erzählen sofort von ihren Problemen oder sie sagen: deine Geschichten wollen wir nicht hören. Die brauchen wir hier nicht oder es passiert auch, dass du beschimpft wirst. Die einen sind mit der Realität überfordert, die anderen nehmen dir deinen Weg übel, ohne ihn zu kennen. Er war anders als der ihrige, so viel steht fest. Wer weiß, was die gemacht hat, dass sie dann abhauen musste.

Einige wenige schaffen einen Besuch bei dir im Exil, was nun kein Exil mehr ist. Nun kann jedersehen, wie sie lebt. Das Entsetzen steht ihnen in den Augen: keine Schrankwand, kein Couchtisch, keine Sofalandschaft.  Eine Matratze, ein selbstgebautes Bücherregal mit für den Besucher fremden Büchern, ein Schreibtisch, ein kleiner tragbarer Fernseher, das ist alles. Eine spricht es aus: Du warst doch immer so gut in der Schule, ich dachte immer, du wirst es einmal sehr weit bringen! Ihre Frage: Hat sich das alles gelohnt? Die Antwort: ein Lächeln.

Es weit zu bringen war ihr nicht möglich gewesen. Sie sollte sich von einem Kommilitonen an der Hochschule distanzieren, den sie kaum kannte. Er hatte zwar immer mal neben ihr gesessen, aber ihr nie Guten Morgen gesagt. Er war exmatrikuliert worden, weil er den Marxismus-Leninismus- Unterricht kritisiert hatte. Als sie mit anderen eine Liste für seine Wiederaufnahme zum Studium unterschrieb, begann das System zu rattern. Ein Schreiben von der Regierung ging nach unten an die Hochschulleitung, es forderte, die 83 Studenten, die unterschrieben hatten, sollten sich nun distanzieren von ihren Unterschriften.

Es begannen Tage und Wochen psychischer Gewalt. Der verbliebene Rest von 8 Studentinnen bekam ein Tribunal mit Hochschulleitung und etwa vierzig zuverlässigen Studenten.  Eine von den acht Unterzeichnerinnen wurde noch am Tag des Tribunals exmatrikuliert, es verblieben am Ende des Tribunalsnur noch zwei von 83, also insgesamtblieben drei übrig. Am Tag nach ihrer Exmatrikulation, mit Studien- und Berufsverbot,sie mussten sich überall abmelden, rief ein Chor von Blauhemden hinter ihnen her: Haut endlich ab ihr Verräter, wir wollen euch hier nicht mehr sehen! Buhhh-Rufe folgten. Sie wurden als exmatrikuliert von Studenten der Hochschule vom Hof gejagt. Das sozialistische System, angefangen vom Zentralkomitee bis hin zum Pförtner,hatte bestens funktioniert.

Danach:  Eine vorübergehende Notgemeinschaft der drei. Es folgten private Probleme, Scheidung, Arbeit als Ungelernte bei der Kirche für einen Hungerlohn, Ausreiseantrag.
Ausreise, Exil.
Ein Freund, mit dem sie nach der Biermannausbürgerung schriftlich protestiert hatte, holte sie nach seiner Stasi-Gefängniszeit mit ihrer kleinen Tochter nach Westberlin.

Bücher, Musik, Konzerte,Studium, erste kleineReisen-innerhalb Europas- das war das neue Leben.

Aber die benachbarte Diktatur war immer da. In Westberlin-In Kreuzberg die Grenze in Sichtweite z.B. die Oberbaumbrücke. Keine Einreise in das verlassene Land, wenn die Mutter krank war. Kein Besuch bei Freunden oder von Freunden.  Treffen mit ihnen waren nur in Drittländern wie Polen oder die Tschechoslowakei möglich. Wie sich später erwies, die Tschechen hatten immer gut mitgehört und Gehörtes weitergeleitet. Reisen nur Transit oder mit dem Flugzeug.

Vom Tag der Ausreise nach Westberlin 1979 bis in das Jahr 1988 wurde sie in Westberlin von der Staatssicherheit observiert. Diskret. Freunde erlebten Schlimmeres. Die Stasi kannte ihren gesamten Freundeskreis im Westen wie im Osten, sie wusste, mit wem sie in den Urlaub fuhr, wen sie Transit mitnahm und mit wem sie im Bett lag. Briefe an Freunde in den Osten wurden in beide Richtungen geöffnet. Ebenso Päckchen und Pakete, Inhalte wurden zerstört. Telefonate waren kaum möglich.

Mit Exilanten, die vor ihr aus dem Osten nach Westberlin gekommen waren, konnte sieim Vertrauen reden. Das war hilfreich und neu. Und zugleich auch belastend. Das Ausmaß der Stasi – Verbrechen an den Oppositionellen war erschütternd. Ihr hatte lediglich ein Rauswurf von der Hochschule das Leben zum Kippen gebracht. Aber sie konnte jetzt Studieren.

Das Hauptthema der Oppositionellen war die Stasi und die von der Stasi erlittenen Verbrechen und ihre Folgen. Sie waren von der Straße weg verhaftet worden oder von der Arbeit, an unbekanntem Ort in ein Gefängnis gesperrt, über Monate verhört, bedroht, erpresst, der Ausreise ins Exil zuzustimmen. Nach zehn Monaten Terror und Ungewissheit Ankommen im fremden Westen nur mit der Kleidung von vor Monaten, mit einem Kamm und einer Zahnbürste.

Sie hörte den Erzählungen der Oppositionellenlange zu, konnte ihnen aber kaum helfen. Sie war alleinerziehend, musste arbeiten, um über die Runden zu kommen,sie hatte keinen Beruf, nahm fast jede Arbeit an, wollte studieren, sie musste ihren eigenen Weg finden.

Ihre erste Begegnung mit der Uni ein Schock:  Auf den Fluren der Freien Universität wedelten Marxistische Gruppen mit ihren Pamphleten, boten Bücher und Broschüren von Marx, Engels, Mao, anlautstark und aufdringlich. Sie huschte an ihnen vorbei. Das hatte sie jagerade hinter sich gebracht. Keine Wiederholungen! Die Seminarräume waren voll, viele saßen auf der Erde. Sie stellte sich in den Türrahmen, um den Dozenten wenigstens sehen und etwas hören zu können. Es wurde viel debattiert, sie konnte dem kaum folgen und verließ den Ort nach einer  Stunde. Die Studenten im Institut für Kunstgeschichte waren jünger, mindestens sechs Jahre und sprachen zwei bis drei Fremdsprachen fließend. Gelernt schon in der Grundschule.  Mit Russisch konnte man die Quellen der Romanik, Gotik, Renaissance nicht analysieren. 
Sie wusste, dass sie das nie aufholen konnte.Der Dozent, ein Schweizer Professor, kam schnell zur Sache, stellte die Themen vor. Sie hatte sich für die Frühgotik eingeschrieben, entschied sich für das erste Referat. Zwei Wochen später fuhr sie mit ihrem Freund für fünf Tage nach Nordfrankreich. Zunächst nach Metz, wo sie die von Chagall angefertigten Fenster in der Cathédrale Saint-Étienne bewunderte. Den nächsten und übernächsten Tag verbrachten sie in Paris, besuchten die Notre Dame und fuhren weiter nach Saint Denis nördlich von Paris, wo der Gründungsbau der Gotik stand. Den vierten Tag verbrachten sie in Chartre. Sie fotografierte, machte Aufzeichnungen, nahm Prospekte mit und schließlich fand sie nach längerer Recherche eine Doktorarbeit über die Frühgotik in deutscher Sprache.
Der Dozent prophezeite ihr nach ihrem Vortrag eine Karriere als Kunsthistorikerin. Sie wusste es besser. Die Defizite waren zu groß, ebenfalls die momentanen Belastungen:  dreimal in der Woche in wechselnde Jobs,Kind. Fürs Studium blieben kaum fünfzig Prozent.

Aber sie war in diesem Land angekommen und aufgenommen, sie konnte studieren und ein selbstbestimmtes Leben leben.