Greenpeace und die Umweltbewegung in der DDR

von Uwe Bastian[1]

Die Organisation Greenpeace suchte für ihre Aktionen in der DDR Partner. Man orientierte sich auf die in den 80er Jahren entstandenen Umweltgruppen "unter dem Dach" der evangelischen Kirche und die Gesellschaft für Natur und Umwelt innerhalb des Kulturbundes der DDR. Dabei ergaben sich bestimmte Schwierigkeiten und Differenzen, wie aus den Darstellungen seitens Greenpeace und den angefügten Dokumenten zu entnehmen ist. Es scheint nicht nur deshalb angebracht, hier in einem Exkurs auf die Entwicklung der ostdeutschen Umweltbewegung und ihre Bedingungen einzugehen.

1. Greenpeace goes East

Am 28. August 1983 überflog ein Heißluftballon von West-Berlin aus die Mauer und landete auf dem Territorium der DDR. Die Insassen der Gondel waren die Greenpeace-Mitarbeiter Dr. Gerhard Leipold und John Sprang. Kurz zuvor, am 6.8.83, war Matthias Hessel, Mitar­beiter der Berliner Kontaktgruppe von Greenpeace Deutschland e.V., am Grenzübergang Friedrichstraße von DDR-Grenzern festgehalten worden. Er wollte dem Ministerrat der DDR öffentlich einen Protestbrief überreichen. Eine dritte Aktion  erfolgte im September gleichen Jahres, als der Kanadier Swami Vishnudevananda mit einem Leichtflugzeug die DDR-Grenze überflog und damit SED- und MfS-Kommandostellen in Alarmzustand versetzte. Der Überflug war vorher von Caroline Fetscher aus der Greenpeace-Zentrale in Hamburg angekündigt worden, so daß die Weltöffentlichkeit das Ereignis verfolgen konnte. Verbunden mit diesen Aktionen versuchte Greenpeace, die Forderung nach Einstellung der Kernwaffentests international deutlich zu machen. Die DDR wurde aufgefordert, sich bei der UdSSR für einen Kernwaffenteststop einzusetzen. Zu diesen Zusammenhängen heute befragt, erklärten die Mitarbeiter, bzw. ehemaligen Mitarbeiter der Berliner Kontaktgruppe von Greenpeace, Klaus Schnurpheil., Rainer Oertwig und Klaus Noack., daß Greenpeace damit deutlich machen wollte, Protestaktionen ihrer Organisation gegen Atomrüstung und Umweltzerstörung würden vor dem "Eisernen Vorhang" nicht haltmachen.

Für die SED-Führung und ihre Sicherheitsorgane war damit eine neue Situation entstanden. Bisher hatte man die 1971 in Kanada gegründete Umweltschutzorganisation weidlich für eigene Interessen nutzen können, weil sie sich auf Protestaktionen gegen Atomrüstung, Atomwaffentests und Umweltzerstörung in den westlichen Ländern beschränkte. Die DDR-Medien kommentierten dann auf Weisung des Politbüromitgliedes und SED-Pressechefs, Joachim Herrmann, die Greenpeace-Aktionen mit dem Verweis auf die vielfältigen Gefahren, die vom Westen drohten. Von den eigenen Umweltproblemen und der Aufrüstung des Warschauer Pakts versuchte man damit abzulenken. Im hier angefügten Dokument 23 (Information zur operativen Abwehrarbeit und Aufklärung bezüglich Greenpeace Deutschland) heißt es entsprechend auf S. 2: "Seit Anfang der 80er Jahre wurde deutlich, daß 'Greenpeace International' zunehmend ihre Aktivitäten auch in sozialistischen Ländern realisiert". Ungeachtet der hier verwendeten merkwürdigen Grammatik war mit diesem Dokument eine Zusammenfassung aller Stasi-Erkenntnisse über Struktur und Aktionsformen von Greenpeace entstanden, um damit andere Institutionen des SED-Apparates zu informieren. Dieses Papier ist unterzeichnet von Generalmajor Alfred Kleine, Chef der MfS-Wirtschaftsabteilung (HA XVIII). Die direkte Zuständigkeit lag bei der Unterabteilung HA XVIII/6, Verantwortungsbereich Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Umweltschutz und Wasserwirtschaft. Damit ist die institutionelle Zuständigkeit für die Bearbeitung der Umweltschutzorganisation Greenpeace in der DDR ausgewiesen. [...]

Die Greenpeace-Aktionen im Osten wurden wie im Westen seit Gründung der Organisation nach dem Grundmuster des Kampfes David gegen Goliath arrangiert. Das kann natürlich nur wirkungsvoll werden, wenn die öffentlichen Medien durch anwesende Journalisten beteiligt werden. Außerdem gab und gibt es Verbindungen zur Menschenrechtsorganisation amnesty international, um gemeinsam Rechtsverletzungen anzuprangern.

Weitere, auch öffentlich bekannte Protestaktionen im Ostblock bis zu dessen Zusammenbruch waren außerhalb der DDR die Besetzung eines tschechischen Kraftwerksschornsteins am 2.4.1984, der Protest auf der Budapester Herbstmesse im September 1986 gegen ein geplantes Donaukraftwerk, der Protest am Prager Nationalmuseum im April 1987 gegen die Atomkraftnutzung sowie die Aktivitäten im Sommer 1988 in der damaligen Sowjetunion, Ungarn und Polen zur Gründung von Länderbüros. Im gleichen Jahr wurden bei der Durchfahrt durch diese Ländern Schadstoffmessungen mit dem Greenpeace-Laborbus vorgenommen.

2. Der Kampf des 'preußischen' SED-Goliath gegen David Greenpeace- Die Stasi in Aktion

Wie es in einer ordentlichen Bürokratendiktatur für alle anzunehmenden widrigen Fälle, - die es vorauszusehen gilt - eine detaillierte Handlungsanweisung zu geben hat, ihnen zu begegnen, so existierte in der DDR für das Erscheinen einer Umweltschutzorganisation von außen, die u.a. hierfür bestimmte Geheime Verschlußsache GVS-o008, MfS-Nr. 4/85 des Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke (Dokument 1). Diese Anweisung aus dem Jahre 1985 trägt den Titel "Bekämpfung feindlicher Stellen und Kräfte im Operationsgebiet, die subversiv gegen die DDR und andere sozialistische Staaten tätig sind (außer imperialistische Geheimdienste und kriminelle Menschenhändlerbanden)". Spätestens im Oktober 1988 wurde Greenpeace MfS-intern auf diese Liste gesetzt. In der Fassung dieses Mielke-Befehls vom 15.2.85 ist die Organisation Greenpeace noch nicht aufgeführt. Erst mit der Anweisung vom 14.10.88 (Dokument 3) forderte Mielke, die bisherigen Anlagen 1 und 2 durch die nun aktualisierten Listen von Feindorganisationen auszutauschen. Wie aus Dokument 2 ersichtlich ist, sollte Greenpeace auch auf der Liste erscheinen. Dieses Dokument vom 16. Mai 1988 beinhaltet auch den Befehl zur Übernahme der Federführung bei der Bearbeitung von Greenpeace durch die Hauptabteilung XVIII/6, die zuletzt von Oberstleutnant Hans-Dieter Nawrath geleitet wurde. Um den peniblen Umgang mit derartigen Dienstanweisungen durch den Geheimdienst der SED noch deutlicher zu machen, wurde ein Schreiben der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) vom August 1989 (Dokument 4) beigefügt. Die ZAIG war Mielke direkt unterstellt und wurde zuletzt von Generalleutnant Dr. Werner Irmler geleitet. Ihren 422 Mitarbeitern[2] war die Aufgabe gestellt, die durch die verschiedenen Diensteinheiten zur Verfügung gestellten Informationen zu erfassen, auszuwerten und zu analysieren. Dabei galt es, auch westliche Massenmedien auszuwerten, die Informationsflüsse innerhalb der Stasi-Hierarchie und ihren vielfältigen Dienstabteilungen zu kontrollieren und möglichst zweckmäßig - so die eigene Zielstellung - zu koordinieren. Aus der riesigen Informationsflut des aus ungefähr 100.000 hauptamtlichen und 250.000 hobbymäßigen Mitarbeitern bestehenden Spitzelsystems sollten die wesentlichen Daten herausgefiltert werden und zweckdienlich und zuständigkeitshalber weitergeleitet werden.[...]

In der Liste der Feindorganisationen, die immerhin 30 Seiten umfaßt, finden sich neben Greenpeace beispielsweise die Alternative Liste, Amnesty International, der Bund Westdeutscher Kommunisten gemeinsam mit den Grauen Wölfen, der Deutschen Volksunion und der NSDAP. In einer Aufstellung über die Feindobjekte des MfS aus dem Jahre 1986[3] findet sich ebenfalls die Eintragung: Greenpeace Deutschland e.V., Berlin, Hamburg; bearbeitende Einheit XVIII/6.

Es waren jedoch auch andere MfS-Abteilungen als die Linie XVIII/6 mit der Bearbeitung von Greenpeace befaßt, wie den Dokumenten zu entnehmen ist […]

Die Auslandspionage, (Hauptverwaltung Aufklärung-HVA) hat offensichtlich Informationen bei Greenpeace-Veranstaltungen im sogenannten Operationsgebiet, u.a. an der Freien Universität Berlin gesammelt. Aus Prospektmaterial konnten beispielsweise Informationen über strukturelle und personelle Zusammenhänge sowie über Zielsetzung und Arbeitsweise erschlossen werden. Personendaten wurden vor allem durch die Linie VI bei Grenzpassagen ermittelt.

Durch die Linie VIII konnten, z.B. ausgehend von der Grenzpassage Zielpersonen in Ost- oder Westberlin weiterverfolgt werden und somit Kontaktpersonen und Absichten aufgeklärt werden. Die in DDR-Oppositionkreise einge­schleusten IM der Linie XX hatten die Aufgabe, vorhandene Kontakte und Absichten bezüglich Greenpeace oder zur AL auszuspitzeln. Aber die Informationen des MfS waren nicht immer zutreffend: So war z.B. Monika Grieffahn, die jetzige niedersächsische Umwelt­ministerin, 1989 nicht mehr Vorsitzende der BRD-Sektion[4], sondern die Hamburgerin Ulrike Klose. Außerdem hat das MfS Greenpeace, Angehörige der Westberliner Alternativszene und Angehörige des Lehrkörpers der Freien Universität Berlin in die Nähe zum Linksterrorismus gebracht.[5] Der Autor konnte nach seinen konkreten Recherchen diesen Zusammenhang nicht bestätigen. Es handelte sich offenbar um Fehlbewertungen von Aussagen der damals Beteiligten durch den IM Volker Schleicher. Über die Rolle dieses IM und eines weiteren der Linie VI des MfS soll weiter unten berichtet werden.

Die bisher gesichteten Dokumente erwecken nicht den Eindruck, daß es dem MfS gelungen ist, IM direkt in die Organisation einzuschleusen. Inwieweit das so ist, müßte speziell untersucht werden. Das MfS hatte erklärtermaßen die Absicht, in linken und Umweltgruppen und - organisationen, vor allem in West-Berlin, Schlüsselpositionen zu besetzen, um so eine, den Interessen der DDR genehme Steuerung oder zumindest Beeinflussung übernehmen zu können. So heißt es beispielsweise in einer Dissertation an der Juristischen Hochschule Potsdam[6] zum Thema Grüne Partei/AL sinngemäß, daß hier die Möglichkeit bestünde, auf Grund des Fehlens von genügend Fachpersonal und Organisationstalenten, Stasi-Agenten in Füh­rungs­positionen zu bringen.[7] Die Aufarbeitung nach dem Zusammenbruch hat bereits gezeigt, daß diese Pläne in einigen Fällen Realität geworden waren.

Die damals leitende Greenpeace-Mitarbeiterin, Ingrid Jütting, erklärte im hier beigefügten Interview, daß Greenpeace vor der Umweltverschmutzung im Osten nicht die Augen verschließen wollte. Es sollte also einerseits die Informationslage über die Wasser- und Luftverschmutzung verbessert werden und andererseits sollten diese Zustände angeprangert und öffentlich gemacht werden.

Das MfS ging von folgendem aus: "Dabei werden neben öffentlichkeitswirk­samen/spek­takulären Aktionen in diesen Ländern verstärkt Versuche unternommen zur Etablierung staatlich sanktionierter 'Greenpeace'-Büros. (...) Einen besonderen Stellenwert mißt 'Greenpeace' der UdSSR bei (Errichtung eines Bankkontos; Durchführung von Werbekampagnen; Vertrieb des Schallplattenalbums über sowjetische Plattenfirma 'Melodija'). Für die Leitung dieser Aktion, die auch auf weitere sozialistische Staaten ausgedehnt werden soll, wurde seitens 'Greenpeace International' Karum Kate, Wasted Telent Office, London/Großbritannien eingesetzt":[8] Die heute befragten ehemaligen Beteiligten vertreten übereinstimmend die Meinung, daß die Berliner Kontaktgruppe innerhalb von Greenpeace einen Sonderstatus besaß und die Spielräume für Aktivitäten und Kontakte gegenüber der Zentrale weitgehend selbst bestimmen konnte. Man ging ebenfalls davon aus, in der DDR ähnlich wie in Moskau und Budapest, ein offizielles Büro eröffnen zu können. Ein offizieller Stand bei einer Umwelt­veranstaltung zu Jahresbeginn 1987 in Moskau und das Entgegenkommen Gorbatschows waren Ausgangspunkt für diese Hoffnungen.[9] Jedoch die Verhältnisse in der DDR ließen die Arbeit von Greenpeace nicht zu. Ingrid Jütting sagte allerdings, wie im Interview zu lesen, daß die Berliner Gruppe ihre Aktivitäten immer mit Hamburg absprach und, daß ein "offizielles" Büro in der DDR sowieso nicht lange gehalten hätte, weil man sicher nicht so hätte arbeiten können, wie man wollte.

Entsprechend der oben geschilderten Aufgabenstellung, hatte die ZAIG des MfS die SED-Führung über geplante oder stattgefundene Greenpeace-Aktionen in der DDR in Kenntnis zu setzten. Nachdem im August 1984 das Greenpeace-Schiff "Sirius" im Rostocker Hafen gegen die Anwendung der Atomenergie in der DDR protestieren wollte und dabei von DDR-Marineschiffen abgedrängt worden war[10], kam es am 17.12.1985 zu einer erneuten Protestaktion mit dem Greenpeace-Schiff "Beluga" in der Elbemündung.

Die Stasi erfuhr von der geplanten Aktion durch ein Interview mit dem festangestellten Greenpeace-Mitarbeiter, Dr. Michael Braungart, im Norddeutschen Rundfunk am 10.12.85. Braungart hatte damals angekündigt, daß mit dem Binnenschiff "Beluga" im Dezember 1985 in den Elbgewässern der DDR Wasserproben genommen werden sollten. Die ZAIG stellte davon ausgehend eine umfassende Information für die SED- und MfS-Führung bereit.[11] Es konnte also ein ausgewähltes Empfangskomitee bereitgestellt werden. Im Schreiben heißt es unter anderem: "Im Zusammenhang mit der Durchführung dieser 'gewaltfreien' Aktion in der DDR kalkuliere man auch 'nicht vermeidbare Auseinandersetzungen' ein, da Umweltverschmutzung 'keine Grenzen' kenne, was für die Arbeit von Greenpeace von maßgeblicher Bedeutung sei". Das MfS schlägt dann konkrete Maßnahmen zur "Unterbindung diesbezüglicher Aktivitäten" bis hin zur Einschaltung des Bundeskanzleramtes durch das Außenministerium der DDR vor. Als Anlage werden genaue technische Daten über die "Beluga" mitgeliefert. Das war natürlich zur Planung von materiellen Abwehrmaßnahmen auch erforderlich.

Eine in der Form gleiche Information der ZAIG an Honecker und Krenz (ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen) und verschiedene Stasi-Führungsstellen erfolgte im September 1986. Wieder hatte Greenpeace in der DDR zugeschlagen. Diesmal auch noch unverhofft und in der Höhle des Löwen, auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz. Fünf Greenpeace-Aktivisten, Joachim Löhndorf, Silke Dingwort, Ingrid Reinecke, Dr. Gerhard Leipold und Peter Gurld, protestierten vor dem DDR-Umweltministerium mit einem Transparent, auf dem zu lesen war: "DDR-Salz vergiftet Werra und Weser". Wie die Stasi auch feststellte, hielten sich die ARD-Hörfunk-Korrespondenten, Fritz König, Hartwig Heber und Hartmut Jennerjahn am Ereignisort auf.

Die Dokumente 8 und 9 stammen aus der Zentralen Materialablage (ZMA) Nr. 10421, die eigens zum Fall Greenpeace bei der HA XVIII/6 angelegt worden war. Dabei handelt es sich um eine Kopie eines Artikels aus der Hamburger Wochenzeitschrift Stern, der das Ereignis und seine Hintergründe beschreibt. Auch der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst der DDR (ADN) brachte eine Meldung über die Proteste gegen die Werra-Versalzung. Greenpeace hatte am 17.9.86, also zwei Tage nach der Aktion in Ost-Berlin, am Grenzübergang Herleshausen Schachteln mit Werra-Salz an in die DDR einreisende Autofahrer verteilt. Die Autofahrer wurden dabei aufgefordert, die Schachteln dem DDR-Umweltminister Hans Reichelt zu schicken. Die ADN-Meldung war jedoch nur eine interne Dienstmeldung, also der Inhalt nicht für die Veröffentlichung in DDR-Medien vorgesehen (Dokument 8). Dokument 9 beschreibt detailliert die Polizeiaktion gegen den Werra-Salz-Protest vor dem Umweltministerium. In der Anlage zu diesem Dokument fanden sich in der ZMA Kopien vom Brief an Umweltminister Reichelt, in dem Greenpeace gegen die Salzeinleitung durch die DDR-Kalibergwerke in die Werra protestierte, und eines Flugblattes, bestimmt zum Verteilen in der DDR.

Wenn man in Hamburg am Elbestrand sitzt und noch dazu Umweltschützer ist, kommt einem sicher schnell die Frage, woher der Dreck eigentlich stammt, der da mit den Fluten vorbeitransportiert wird zur Nordsee. Wahrscheinlich kamen so Greenpeace-Leute auf die Idee, einmal den Strom zurück, nach Dresden zu fahren. Im November 1987 reisten die "Freunde der Semper-Oper", Ingrid Jütting, Birgit Siemen, Ralf Blohm, Theodor Niemeyer und Harald Garzke mit einem Touristenbus nach Dresden. Bei einem Spaziergang über die Dimitroff-Brücke entfalteten sie ein weithin sichtbares Transparent (30x2m, laut Dokument 23, Anl. 2, S. 4). Auf dem Tuch stand: "Schadstoffe sind grenzenlos, Dresden - Hamburg - Nordsee, Wasser ist Leben". Die Dresdner VoPo, die sächsische Stasi, SED-Stadt- und -Bezirksleitung und Modrow[12], alle konnten mit diesem Verhalten nicht gleich etwas anfangen oder besser gesagt, sie wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten, standen gebannt durch das Banner, wie die Karnickel vor der Schlange. Ein Kriminalfall ohne Beispiel und guter Rat teuer. Erst als man den hohen Rat in Berlin befragt hatte, man sich vergewissert hatte, daß hier keine Übung höherer Gewalten stattfand, kamen die Fäden der Marionetten wieder in Bewegung, und es ging ans Festnehmen und Verhören. Jedoch sah man wohl der unvorhergesehenen Situation auch in Berlin nicht gleich gefaßt ins Auge, denn es dauerte einen Tag und eine Nacht bis der Apparat sich vom Schock erholt hatte (siehe dazu Interview mit Ingrid Jütting). Die Stasi-Bezirksverwaltung Dresden, Abteilung XX eröffnete danach gegen Ingrid Jütting, die Greenpeace-Planerin aus Hamburg den Operativvorgang "Organisator".

Und was sagte das Politbüro dazu? Am 17.11.87 fand eine Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands statt[13]. Vielfältige Tagesordnungspunkte wurden behandelt. Im diesbezüglichen Protokoll Nr. 46 wurde nach der Berichterstattung Erich Honeckers zum Sachverhalt in Dresden folgende Festlegung getroffen: "Genosse H. Dohlus wird beauftragt, das Vorkommnis über die Bezirksbeauftragten mit den 1. Sekretären der Bezirksleitungen auszuwerten, um zu sichern, daß bei ähnlichen Vorfällen durch die Bezirksleitungen sofort reagiert wird". Na also, der "Goliath" hatte gesprochen, aber ob damit die Ursachen für den Protest beseitigt waren?[14] Jedenfalls hatte man für einen potentiell widrigen Fall wieder eine Handlungsvorschrift geschaffen. Die Funktionäre waren mit einer Art Software ausgerüstet worden, die beim Auftreten der entsprechenden Schlüsselmerkmale abgerufen werden mußte. Man war sich damit vielleicht wieder etwas sicherer, daß die Funktionäre auch richtig funktionierten.

Doch zurück ins Jahr 1984. Im März diesen Jahres begann in der Terrorabwehr der Staatssicherheit innerhalb der MfS-Bezirksverwaltung Berlin die Vorbereitung eines Agenten für den gleichzeitigen Einsatz in Oppositiongruppen Ostberlins und in der Alternativszene in West-Berlin. Die Terrorabwehr des MfS war ähnlich gegliedert wie alle operativen Abteilungen der Staatssicherheit. Die Zentrale, also die Hauptabteilung XXII, hatte ihren Dienstsitz in Berlin-Hohenschönhausen, Ferdinand-Schultze-Straße. Es gab mehrere Ausbil­dungszentren in Berlin und Umgebung für die 540 hauptamtlichen Mitarbeiter. Ihr Chef war zuletzt Oberst Dr. Horst Franz[15]. Entsprechend der hierarchischen Linienführung gab es entsprechende Abteilungen in jeder Bezirksverwaltung und spezielle Mitarbeiter in den Kreisdienststellen. Die Zahl der Mitarbeiter der Bezirksverwaltungen betrug insgesamt 120, wobei die AG XXII der BV Karl-Marx-Stadt mit 23 Mitarbeitern die stärkste war[16]. Die relativ große Mitarbeiterzahl lag offenbar in der Zuständigkeit dieser Bezirksverwaltung für den Uranabbau durch die SDAG Wismut in und um Aue. Die Anzahl der inoffiziellen Mitarbeiter der gesamten Linie XXII konnte bisher nicht ermittelt werden. Es kann jedoch mit Sicherheit davon ausgegangen werden, daß die Zahl ein Vielfaches der Anzahl der Hauptamtlichen war.

Durch die AG XXII der BV Berlin wurden u.a. Greenpeace und weitere Organisationen in West-Berlin bearbeitet, wie aus den beigefügten Dokumenten 11 - 15 ersichtlich ist. Es gab 12 hauptamtliche Mitarbeiter und eine Mitarbeiterin. Die Abteilung wurde von Oberstleutnant Hans-Dietrich Zielske geleitet. Der später für den Greenpeace-Einsatz ausgewählte IM wurde 1984 auf "der Basis der politischen Überzeugung" angeworben. Laut seiner handschriftlichen Verpflichtungserklärung[17] vom 26.3.84 wählte er selbst den Decknamen "Robert". Er erhielt vom MfS die Registriernummer XX 696/84. Führungsoffizier war zunächst Major Peter Brehmer, später Hauptmann Werner Quapis. Der tatsächliche bürgerliche Name des IMS, danach IMB, ist Volker Schleicher. Er verpflichtete sich "zu einer Zusammenarbeit mit dem MfS für die Dauer von 2 Jahren". Doch dabei sollte es nicht bleiben. Die letzte der insgesamt einige Zehntausend Mark umfassenden Belohnungen[18] durch die Staatssicherheit kassierte IMB "Robert" am 17.11.89: 300,- M, die handschriftliche Bestätigung durch den Führungsoffizier, Hauptmann Werner Quapis erfolgte noch am 7.12.89.

Dem Autor ist Volker Schleicher seit 1986 durch die Vorbereitung jährlicher Umweltseminare der Ökologiekreise in Ost-Berlin persönlich bekannt. Dabei trat der IM offensiv als Mitorganisator in Erscheinung. Die Mitarbeiter der Ökologiekreise wußten nicht, daß sein Lamento über eine Krankheit und die diesbezügliche vorzeitige Berentung eine Legende des MfS war, um den IM durch seine Ost-West-Reisemöglichkeit als Kurier interessant zu machen. Auch ehemalige Mitarbeiter in West-Berliner Umweltgruppen (siehe den Beitrag von Karin Wolski), zu denen er Kontakte hergestellt hatte, sagen heute, daß Schleicher immer so tat, als wäre er das letzte Mal gekommen. Der Führungsoffizier, Herr Quapis, sah das so: "Günstige Voraussetzungen für den weiteren Einsatz des IM ergeben sich daraus, daß er an einer (Krankheit)[19] leidet, die klinisch geheilt wurde und sein physisches und psychisches Leistungsvermögen nicht beeinträchtigt. Wegen dieser Erkrankung ist durch die behandelnden Ärzte eine zeitweilige Berentung des IMS, vorerst bis 1988, beantragt worden. Daraus ergibt sich für den IMS die Möglichkeit, aufgrund eines objektiv vorhandenen und bei den operativ interessierenden Personen bekannten Krankheitsverlaufs, als Invalidenrentner in das Operationsgebiet reisen zu können"[20]. Da es in der DDR auffiel, wenn jüngere Menschen die Grenze passieren durften, wurden spezielle Ärzte verpflichtet, entsprechende medizinische Atteste im Auftrag des MfS zu erstellen.[21] Der Begriff "Operationsgebiet" wird nicht im medizinischen Sinne benutzt, sondern bedeutet in diesem Fall West-Berlin. Das MfS lobte sich im nächsten Absatz gleich selbst für die großartige konspirative Kombination: "Bereits die Mitteilung über die mögliche Berentung und die sich daraus ergebenden Reisemöglichkeiten führten zu einer weiteren erheblichen Aufwertung des IMS bei den interessierenden Personen, die im Interesse der weiteren operativen Arbeit genutzt werden kann. (...) Dabei steht im Mittelpunkt, ausgehend von den in der DDR bestehenden Kontakten, zielgerichtet entsprechende Verbindungen zu Personen und Gruppierungen in WB/BRD herstellen zu können. Ziel dabei ist es, unter Nutzung dieser Verbindungen Kontakte zu operativ interessierenden Gruppierungen im Operationsgebiet herzustellen, diese in ihrer personellen Zusammensetzung aufzuklären und zugleich auch Informationen über ihre Pläne und Absichten zu gewinnen[22]. (...) Es ist vorgesehen, unter Nutzung der aktuellen Veröffentlichungen in der maßgeblich von der AL gesteuerten Westberliner Tageszeitung "TAZ" den IM in das in Westberlin existierende 'Bildungswerk für Demokratie und Umweltschutz' einzuschleusen. (...) Mit der Kontaktaufnahme zu dieser Organisation, die der IM mit Interesse an Materialien für seine ökologische Tätigkeit in der DDR und den hier existierenden überprüfbaren Kontakten auf diesem Gebiet glaubhaft begründen kann, soll "ein Sprungbrett" für das Eindringen des IM in die trotzkistische Internationale Arbeiterorganisation (ISA) geschaffen werden, von der bekannt ist, daß sie damit begonnen hat, Rückverbindungen übergesiedelter ehemaliger DDR-Bürger zu nutzen, um feindliche Stützpunkte in der DDR aufzubauen"[23] Wie man in den weiteren Dokumenten sehen kann, ging es vor allem um die Herstellung eines Kontaktes zum "Mehringhof" in Kreuzberg, wovon man sich Zugang zu verschiedenen Gruppen der West-Berliner Alternativszene versprach.

Ein Kontakt des IMB "Robert" zu Greenpeace-Mitarbeitern bestand seit September 1986[24] Wie kam es dazu? Die ersten unabhängigen Veröffentlichungen zu ökologischen Problemen in der DDR erschienen im Kirchlichen Forschungsheim Wittenberg. Nachdem das in der Berliner Greenpeace-Kontaktgruppe bekannt geworden war, wandte sich der Mitarbeiter der Nordsee-Gruppe, Klaus N., an das Forschungsheim Wittenberg und lernte dort Dr. Hans-Peter Gensichen kennen[25]. Von ihm erhielt er Adressen von zwei Mitarbeitern des Ökologiekreises Berlin-Friedrichsfelde: Wahrscheinlich Carlo Jordan und Ulli Klotzek. Daraufhin wurden Vorträge über die Verschmutzung von Nord- und Ostsee gemeinsam durch die West-Berlin Gruppe von Greenpeace und die Ost-Berliner Umweltbibliothek organisiert. Diese fanden im Herbst und Winter 1987 in der "Galerie" der Umweltbibliothek in der Griebenowstraße 16 und im "Café Schalom" der evangelischen Samaritergemeinde statt. Klaus N. von der West-Berliner Greenpeace-Kontaktgruppe, der die Vorträge hielt, lernte bei den Veranstaltungen auch Lutz Nagorski, ebenfalls im Öko-Kreis Friedrichsfelde, kennen. Dieser hatte jedoch vom MfS noch einen zweiten Namen erhalten: IMB "Christian"[26]. Nagorski machte Klaus N. mit Volker Schleicher bekannt. Das MfS registrierte: "Eine Quelle unserer Diensteinheit erhielt im März 1987 durch Vermittlung eines führenden Akteurs des politischen Untergrundes in der Hauptstadt der DDR Kontakt zu dem Akteur der West-Berliner Gruppe von 'Greenpeace' N., Klaus".[27] N. äußerte hierzu, Schleicher wäre für Greenpeace interessant gewesen, weil er von Beruf Chemiker war und reisen durfte. Schleicher hatte persönliche Kontakte nach West-Berlin hergestellt, die von verschiedenen ehemaligen Greenpeace-Mitarbeitern im Nachhinein als "freundschaftlich bis aufdringlich" eingeschätzt werden. Gleichzeitig - so betonen sie - habe man Vermutungen über mögliche Verbindungen Schleichers zum MfS angestellt. Weil sich derartige Anzeichen verdichteten, arbeitete Greenpeace ab dem Sommer 1988 nicht mehr mit ihm zusammen. Die letzte Information Schleichers über Greenpeace datiert vom 14.9.88 über die Vorbereitung eines Vortrages zur Antarktis in der Ost-Berliner Samaritergemeinde (Dokument 21). Eine Zurückhaltung seitens Greenpeace ist zwischen den Zeilen spürbar. Als ein Beleg dafür, wie in diesem Zusammenhang Telefongespräche abgehört wurden, soll das Abhörprotokoll eines Telefonats zwischen Rainer O. und Volker Schleicher dienen.[28]

Der Stasi-Spitzel informierte seine "Firma" auch über die Aktivitäten der Ost-Berliner Umweltgruppen. Als Beispiel ist hier ein Bericht über die Vorbereitung des 5. Berliner Ökologieseminars (Dokument 14, S. 141/142) angefügt. Diese Umweltseminare wurden seit 1984 unabhängig vom Staat und fast unabhängig von der evangelischen Kirche durch die neuen Öko-Gruppen organisiert, fanden jedoch in kirchlichen Räumen statt. Sie dienten dazu, DDR-weit bestehende Gruppen in Verbindung zu bringen und sich gegenseitig über allgemeine und konkrete Probleme zu informieren. Unter anderem wurde der Autor in diesem Stasibericht benannt, als Referent zum Thema: Betriebskosten und gesellschaftliche Kosten der Produktion, Ökonomische Recyclingwirtschaft der Zukunft. Weil dieser Vortrag nicht mehr vollständig erhalten ist, wurde hier als Dokument 28 das schriftlich festgehaltene Referat des Autors über alternative Energiewirtschaft, gehalten u.a. auf dem 4. Ökologieseminar 1987 in Ost-Berlin, angefügt. Der Text wurde mit Fußnoten versehen, um die Verständlichkeit für den Leser aus heutiger Sicht zu verbessern. Der programmatische Text soll auch Einblick in die Arbeit und Vorstellungen der unabhängigen DDR-Ökologiegruppen, zeitlich vor der Bürgerbewegung des Jahres 1989 geben, obwohl er nur ein kleiner Ausschnitt ist. Obwohl dem IM Volker Schleicher unsere Arbeit an dieser Problematik bekannt war, hat er es selbstverständlich vermieden, eine Verbindung mit dem ihm ebenfalls bekannten Theoretiker zu Fragen regenerativer Energien an der Freien Universität in West-Berlin herzustellen, um eine gemeinsame Diskussion zu verhindern (Dokument 12, S. 238).

Wie aus den Dokumenten und aus dem Interview mit Ingrid Jütting hervorgeht, waren die Kontakte zu den kirchlichen Umweltgruppen eher vorsichtig, da Greenpeace DDR-Bürger nicht unnötig der Verfolgung aussetzen wollte, die wenigen angesprochenen Personen differente Vorstellungen hatten und Greenpeace sich auch bemühte, auf offiziellem Wege in der DDR Fuß zu fassen. Man ging davon aus, daß eine offene Zusammenarbeit mit Oppositionsgruppen noch repressivere Reaktionen bei den SED-Oberen ausgelöst hätte. So versuchte Greenpeace einen Stand auf der Leipziger Messe zu bekommen. Das war freilich eine Illusion. Das DDR-Messeamt, selbstverständlich mit MfS-Mitarbeitern durchsetzt, antwortete jedoch nicht gleich abschlägig, sondern hielt Greenpeace aus taktischen Gründen eine Zeitlang hin (siehe Dokumente 13, 14).

Greenpeace unterhielt außerdem seit 1983 Verbindung zur Köpenicker Umweltgruppe innerhalb der Gesellschaft für Natur und Umwelt im Kulturbund der DDR. Die Gruppe hatte ihr Domizil im Klubhaus "Zu den sieben Raben". Beide Kontaktschienen wurden offenbar bis zu einem bestimmten Zeitpunkt durch Greenpeace konspirativ voneinander getrennt. So wußte Schleicher eine Zeitlang nichts von den direkten Beziehungen zwischen Greenpeace und der Köpenicker Gruppe[29] und ihren Mitgliedern Heidi Rottenbach und Dr. Günther Langer. Gemein­sam mit dem Mitglied dieser Gruppe, Peter Grützmacher (heute Mitarbeiter bei Greenpeace), wurden über die Transitstrecke Westberlin/BRD Greenpeace-Prospekte und Mailing-Sendungen zum Ver­schicken in der DDR eingeschleust. Im November 1988 entdeckte das MfS eine Übergabe von 20.000 Briefen in der Nähe der Raststätte Michendorf.[30] Der DDR-Bürger Peter Grützmacher, wurde festgenommen und verhört. Er bekam eine Geldstrafe von 1000,- M auferlegt, sein Wagen wurde konfisziert und die Stasi bearbeitete ihn ab der Zeit in der operativen Personenkontrolle "Brief". Daß die Strafe nicht höher ausgefallen ist, sagt er heute, lag am Bekanntheitsgrad von Greenpeace. Die Greenpeace-Mitglieder Rainer Oertwig und Lutz Dreyer wurden am Grenzübergang Helmstedt festgenommen und zwei Tage lang verhört. Sie bekamen jeder eine Geldstrafe von 600 - 700 DM und Transitreisesperre auferlegt.

Im Mai 1989 gelang die Übergabe von ca. 20.000 Mailing-Sendungen in die DDR. Der Transport wurde von den AL-Mitgliedern Karitas Hensel und Roland Jahn organisiert. Die Verteilung in die Briefkästen der Deutschen Post organisierte Siegbert Schefke (Umweltbibliothek und Arche - ökologisches Netzwerk). Leider war diesmal unter den Verteilern ein Stasimann, der Mitarbeiter der Umweltbibliothek, Falk Zimmermann, oder IMB "Reinhardt Schumann" (siehe die Beiträge von Siegbert Schefke und Matthias Voigt). Seine Tasche mit ca. 1.000 Briefen gelangte direkt zum MfS. Nicht nur die ihm anvertrauten Mailing-Sendungen sondern auch sein Wissen über die geheime Aktion verkaufte er der Stasi. Aus diesen Informationen entstand die MfS-Information vom 7.5.89 (Dokument 25) in der es heißt: "Streng intern wurde bekannt, daß die im Operationsgebiet etablierte Umweltschutzorganisation Greenpeace plant, in der DDR Postsendungen, in denen die Umweltschutzpolitik unseres Staates diffamiert wird, zum Versand über die Deutsche Post zu bringen". Die zwei Tage später durch Mitglieder der Ost-Berliner Umweltbibliothek und der Arche durchgeführte Aktion war trotz des Verrates vom MfS nicht mehr aufzuhalten oder zu verhindern. Viele Briefe erreichten offenbar ihre Adressaten in der DDR. Es gab sogar einige Antwortschreiben von DDR-Bürgern an Greenpeace. Der Abzug eines Greenpeace-Briefes befindet sich in Dokument 25 aus der Zentralen Materialablage Nr. 3332 über Greenpeace bei der MfS Hauptabteilung XX, Auskunfts- und Kontrollgruppe. Dem MfS war die von Greenpeace geplante Aktion jedoch schon im März durch einen ganz anderen Informationskanal angezeigt worden. Ein IM der Stasi Bezirksverwaltung Leipzig, Abteilung zur Kontrolle des Fahrzeug- und Maschinenbaus, war als Handelsreisender getarnt nach Hamburg geschickt worden und hatte dort zufällig durch einen ebenfalls in Hamburg beschäftigten DDR-Monteur erfahren, daß in der Druckerei Deck, in der arbeitete, im Auftrag von Greenpeace Flugblätter gedruckt werden, die für die DDR bestimmt waren (siehe Dokument 24). Nur konnte damit nicht geklärt werden, wo und wie sie zum Einsatz kommen sollten.

In einigen Dokumenten ist von Barbara Kanafolski die Rede. Sie war inoffizielle Mitarbeiterin des MfS, BV Berlin, Abteilung XX/4 unter dem Decknamen "Irene". Schleicher übergab sie eine Adressenliste zur Verteilung der WWER 440-Reaktor-Studie[31] (siehe Dokument 13, S 190). Der Zweck lag offenbar darin, daß die MfS-Abteilung XX sich damit die Kontrolle über den weiteren Umgang und die Weitergabe der Studie innerhalb der DDR erleichtern wollte. Eine Kopie der Titelseite dieser Reaktorstudie, wie sie durch den IM Schleicher bei seinem Agentenführer Quapis abgeliefert wurde, befindet sich in Dokument 13, S. 207.

Die erste Zusammenfassung der Erkenntnisse über Greenpeace und die Aktivitäten in der DDR erfolgte im November 1987 durch die Zentrale Auswertungs- und Koordinierungsgruppe des MfS (Dokument 16), anliegend auch eine Aufstellung der Greenpeace-Länderbüros und der Satzung. Das Papier läßt Rückschlüsse auf die Arbeitsweise des MfS zu. Der Absender der Information ist die BV/AG XXII. Das dem Anschreiben hier nicht angefügte Material stammt vom Team Schleicher/Quapis und ist bereits unter den Materialien der IM-Akte Schleicher (Dok. 14, S. 106/109) dokumentiert. Die Information wurde durch den IM vor Ort erarbeitet, daß heißt hier konkret durch Gespräche zwischen Schleicher mit den Greenpeace-Mitarbeitern der West-Berliner Gruppe. Durch den Führungsoffizier Werner Quapis wurden die Informationen aufgenommen und als Bericht einmal der IM-Akte beigelegt und weiterhin dem Leiter der Arbeitsgruppe XXII, Zielske übergeben. Dieser leitete die Information, wie vorgeschrieben, auf dem Dienstweg an die ZAIG weiter, dort hatten die wichtigen Erkenntnisse zusammenzulaufen. Die ZAIG produzierte aus den Berichten der verschiedenen Diensteinheiten und Linien innerhalb des MfS zu bestimmten Sachverhalten zusammenfassende Informationen. Diese Berichte wurden dann vor allem den federführend zur Bearbeitung beauftragten Einheiten zugestellt. In diesem Fall, wie die handschriftliche Bemerkung links oben sagt, an die HA XVIII/6, in die Greenpeace-Materialablage Nr. 10421, wo wir ihn heute fanden.

Auf diese Art kam es auch zum Bericht der ZAIG über die Fahrt des Greenpeace-Laborbusses Juni/Juli 1988 durch die Ostseeanliegerstaaten UdSSR, Polen und DDR an die Politbüromitglieder Krenz und Felfe sowie an den Außenminister Fischer, den Innenminister Dickel, den Umweltminister Reichelt und verschiedene Stasi-Instanzen. Greenpeace wollte durch die Aktion die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die von den genannten Staaten ausgehende Umweltverschmutzung der Ostsee aufmerksam machen. Die in der Information genannten Fakten wurden offensichtlich in der Hauptsache durch den IM Schleicher herausgehört (Dokument 18). Im Zusammenhang der Greenpeace-Busfahrt verdeutlicht das Dokument 19 die Dienstleistungsfunktion der Linie IV der Stasi (Grenzkontrolle). Im Auftrag der operativen Abteilung HA XVIII/6 observierte diese Abteilung die Grenzpassage des Greenpeace-Busses und leitete den Bericht an die beauftragende Abteilung. Deutlich wird im Dokument auch die Zusammenarbeit mit der Linie VIII (Verfolgung), die dem Bus nachgefahren war. In der Anlage des Berichtes (hier auch im Dokument) befindet sich ein Prospekt über die Funktionen des Busses, den die Reisenden den DDR-Grenzern schenkten.

Die Abteilung VI der Stasi-Bezirksverwaltung führte eine eigene operative Personenkontrolle zu Greenpeace mit dem Decknamen "Umwelt", bezogen wahrscheinlich auf den Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Nordsee, Manfred Schulz (Dokument 20). Zu dem Zweck setzte die Grenz-Stasi in West-Berlin einen IMS mit dem Decknamen "Götz" ein. Die Person konnte durch die Gauck-Behörde nicht mit Klarnamen ermittelt werden. Es handelte sich hier wahrscheinlich auch um eine eher unwichtige Erscheinung, etwa jemand, der zu den Veranstaltungen geschickt wurde, um Leute auszufragen und Prospekte zu sammeln. IMS bedeutet inoffizieller Mitarbeiter Sicherheit, also ohne persönliche Kontakte im Gegensatz zum IMB, IM mit Berührung des Feindes. Die genauen Definitionen sind dem über 500 Seiten umfassenden operativen Wörterbuch des MfS (GVS JHS 001 - 400/81) zu entnehmen: IMS - "Inoffizieller Mitarbeiter zur politisch-operativen Durchdringung und Sicherung des Verantwortungsbereiches. IM, der wesentliche Beiträge zur allseitigen Gewährleistung der inneren Sicherheit im Verantwortungsbereich leistet, in hohem Maße vorbeugend und schadensverhütend wirkt und mithilft, neue Sicherheitserfordernisse rechtzeitig zu erkennen sowie durchzusetzen. Seine Arbeit muß der umfassenden, sicheren Einschätzung und Beherrschung der politisch-operativen Lage im Verantwortungsbereich und der Weiterführung des Klärungsprozesses 'Wer ist wer?' dienen."

IMB - "Inoffizieller Mitarbeiter der Abwehr mit Feindverbindung bzw. zur unmittelbaren Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehenden Personen. IM, der unmittelbar und direkt an feindlich tätigen Personen oder im Verdacht der Feindtätigkeit stehenden Personen arbeitet, deren Vertrauen besitzt, in ihre Konspiration eingedrungen ist und auf dieser Grundlage Kenntnis von deren Plänen, Absichten, Maßnahmen, Mitteln und Methoden erhält, operativ bedeutsame Informationen und Beweise erarbeitet sowie andere Aufgaben zur Bekämpfung subversiver Tätigkeit sowie zum Zurückdrängen der sie begünstigenden Bedingungen und Umstände löst. Der Einsatz des IMB erfolgt vorrangig zum Eindringen in die Konspiration feindlicher Stellen und Kräfte und zur unmittelbaren Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehenden Personen gemäß der Richtlinie 1/76".

Im Dezember des Jahres 1988 erfolgte eine erneute Gesamtkonzeption zum Vorgehen gegen Greenpeace (Dokument 22). Vorgelegt wurde sie von der in der Sache federführenden Abteilung HA XVIII/6 und geprüft durch den Leiter der Auswertungs- und Kontrollgruppe der Stasi-Wirtschaftsabteilung, Siegfried Pulow. Der Chef der HA XVIII, Kleine, bestimmte auf dem Deckblatt handschriftlich die weitere Verteilung: u.a. an die Hauptabteilungen Abwehr II, III, VI, VIII; XX (Spionageabwehr, Funkabwehr, Grenzkontrolle, Observation, Innenpolitik) und an die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA/Stab). Auf der Seite 23 (Konzeption zum weiteren operativen Vorgehen) heißt es u.a.: "Auf der Grundlage vorliegender Einschätzung ist die komplexe Abwehr- und Aufklärungsarbeit des MfS gegenüber der internationalen Umweltschutzorganisation 'Greenpeace', insbesondere der Sektion Deutschland e.V. und seiner Kontaktgruppe Westberlin, auf die Realisierung folgender Zielstellung zu richten:

(...)

  1. Unter zielgerichteter Anwendung geeigneter politisch-operativer Mittel und Methoden ist die Schaffung einer eigenen Sektion in der DDR bzw. die Herstellung stabiler Kontakte zu DDR-Bürgern zu unterbinden. Bei bereits vorhandenen Kontakten sind geeignete Maßnahmen zur Aufweichung, Zersetzung und Verhinderung der Wirksamkeit einzuleiten". Soweit das Zitat, die weiteren Absichten finden sich im genannten Dokument. Aber hier ist auch eine Verbindung zum Dokument 1 des Ministers für Staatssicherheit, in dem es hieß: (...) gemäß (...) meiner Richtlinie Nr. 1/76" sinnvollerweise wieder herzustellen. Diese Richtlinie wurde im Jahre 1976 - dem Jahr der Biermann-Ausweisung - herausgegeben. Die Richtlinie 1/76 (GVS MfS 008 - 100/76) trägt die Unterüberschrift "zur Entwicklung und Bearbeitung operativer Vorgänge" und wurde als ein Mittel geschaffen, gegen politisch Andersdenkende unter den neuen Bedingungen der 70-er Jahre repressiv vorzugehen. Die 70-er Jahre waren für die DDR außenpolitisch geprägt durch den Abschluß von völkerrechtlichen Verträgen mit westlichen Ländern und dem Prozeß der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), der auch von den DDR-Machthabern zu respektierenden Vereinbarungen über die Einhaltung der Menschenrechte führte. Für die Staatsorgane der DDR folgte daraus eine stärkere internationale Kontrolle, d.h. man konnte nicht mehr ganz willkürlich Verhaftungen und Verurteilungen vornehmen. Deshalb wurden jetzt gegen Andersdenkende andere Formen, die der psychischen Repression und der sogenannten „Zersetzung“, verstärkt eingesetzt. [32]

Zersetzungsmaßnahmen gegen die Greenpeacekontakte

Die Einleitung derartiger Methoden wurden im Falle der Greenpeace-Kontaktgruppe West-Berlin über den IMB Volker Schleicher vorgenommen. Ziel war dabei die Wirksamkeit von geplanten Protestaktionen in der DDR, hier die Aktionen gegen den VEB Berlin Chemie und die Müllverbrennungsanlage im Süden von Berlin, in Frage zu stellen und die Gruppe über diese Frage zu spalten. Ausgenutzt wurde der Umstand, daß ein Teil der Gruppe glaubte, einen Informationsstand auf der Leipziger Messe auf offiziellem Wege zu bekommen. Schleicher verbreitete außerdem Fehlinformationen über den Betrieb VEB Berlin Chemie, die besagten, der Schadstoffausstoß wäre sehr gering, so daß Greenpeace sich am Ende unglaubwürdig machen würde. Die heraufbeschworenen unterschiedlichen Positionen führten in der Kontaktgruppe zu starken Differenzen bis hin zu persönlichen Auseinandersetzungen, die Trennungen von der Gruppe zur Folge hatten. In ähnlicher Weise wurden Schadstoffmessungen verhindert (Dokumente 13,14).

Auf Seite 25 des Dokumentes 22 wurde auf die weitere Abstimmung des Einsatzes des IMS "Götz der BV Berlin,  Abt. VI und des IMB Robert" der BV Berlin, Abt. XXII verwiesen. Diese Bemerkung in der allgemeinen Konzeption der federführenden Abteilung berechtigt zur Annahme, daß bis Dezember 1988 keine weiteren IM mit der direkten Bearbeitung von Greenpeace eingesetzt waren.

Die Konzeption wurde unterzeichnet vom Leiter der Hauptabteilung XVIII/6, Oberstleutnant Nawrath, und dem Leiter des Referates 5 der Hauptabteilung XVIII/6, Major Erbert. In den Händen des Letztgenannten lag also die Bearbeitung von Greenpeace ganz konkret. Dem Referat gehörten drei weitere Offiziere und zwei Offiziersschüler an.

Im Vorschlag von 1989 zum Arbeitsplan 1990 der HA XVIII/6 (Dokument 26, S. 25/26) wurde zur Bearbeitung von Greenpeace und anderen Umweltorganisationen die Anlage eines Zentralen Operativvorganges "Regenbogen" vorgesehen. Termin: 30.3.1990. Etwa zu diesem Zeitpunkt wurde offiziell ein Greenpeace-Büro in Ost-Berlin eingerichtet, wie Matthias Voigt in seinem Interview sagte. Das MfS behinderte die Einrichtung nicht mehr. Der Goliath war aus verschiedenen Gründen zwischenzeitlich zusammengebrochen.

Eine weitere Kommentierung der Dokumente erübrigt sich, denn sie geben ausreichend informativ die damaligen Ereignisse wieder. Wie die meisten der konsultierten ehemaligen Greenpeace-Mitarbeiter der West-Berliner Gruppe bestä­tigten, entsprechen sie bis auf einige, eher unwichtige Ungenauigkeiten in den wesentlichen Aussagen über die stattgefundenen Ereignisse der Realität.

Volker Schleicher war nach dem Zusammenbruch der DDR an der Gründung des "Zusammenhalt e.V." im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg beteiligt. In einer Broschüre des Senators für Stadt­entwicklung und Umweltschutz wurde er als Pressesprecher des "Zusammenhalt e.V." vorge­stellt. Der Verein versteht sich als Interessenvertretung der Ladenbesitzer und Gewerbe­treibenden im Prenzlauer Berg und hat u.a. Straßenfeste unter dem Motto "Kauf im Kiez"[33] veranstaltet. Volker Schleicher zu seiner Tätigkeit im Verein befragt, sagte: "Man kann einiges bewegen, z.B. dadurch, daß Ladenbetreiber viele Informationen von den Bürgern erhalten und gleichzeitig Informationen an die Bürger zurück transportieren können. Gleichzeitig könne man für Bekannte aus dem Kiez, die sich hier gewerbsmäßig niederlassen wollen (Läden, Kneipen, Handwerk, usw.) günstige Bedingungen bei den kommunalen Eigentümern (WIP) aushandeln. Zu diesem Zweck gäbe es Gespräche zwischen dem "Zusammenhalt e.V.", der WIP und dem Stadtbezirksbürgermeister. Es darf vermutet werden, daß mit diesen Bekannten nicht zuletzt die SED/MfS-"Genossenschaft" des Prenzlauer Bergs gemeint ist, denen gute Startbe­dingungen für wirtschaftliche Investitionen geschaffen werden sollten und geschaffen worden sind.

Schleicher wurde angefragt, für diese Veröffentlichung einen Beitrag mit seiner Sichtweise auf die Dinge zu schreiben. Das Dokumentenmaterial wurde ihm zur Kenntnis gegeben. Er lehnte in Form eines anonymen Briefes, der jedoch unverkennbar von ihm stammt, mit unflätigen Anschuldigungen ab. Sein ehemaliger Agentenführer der Stasi-Antiterrorabteilung betreibt heute eine Steuer- und Finanzberatung. Er hatte zuerst einem Gespräch telefonisch zugestimmt, sich jedoch später, nachdem ihm die Dokumente bekannt waren, verleugnen lassen. Nachdem dennoch ein Treffen unter einem Vorwand mit ihm zustande kam, erhielt auch er Gelegenheit, seine heutige Position zum Thema in Form eines eigenen Beitrages darzustellen. Mit dem Hinweis, daß ehemalige SED- und Stasi-Funktionäre der zeitgeschichtlichen Forschung heute oft den Vorwurf machen, das Archivmaterial einseitig zu interpretieren, sollte er die Möglichkeit haben, sich zu rechtfertigen und zu verteidigen. Werner Quapis lehnte jedoch aus Zeitgründen ab, er müsse sein Geld jetzt mit eigenen Händen verdienen, sagte er.

 


[1] gekürzter Beitrag aus dem Buch „Greenpeace in der DDR“ Berlin 1996 von  Uwe Bastian im Verlag edition ost erschienen. Mit freundlicher Genehmigung des Autors und von Grenpeace. Die im Text erwähnten Dokumente sind in dem Buch nachlesbar.

[2] nach: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehem. DDR: Die Organisationsstruktur des MfS 1989, Berlin 1993

[3] Diese Feindliste befindet sich nicht in dieser Arbeit. Sie wurde in der Behörde des Bundesbeauftragen eingesehen.

[4] Wie in Dokument 23 zu lesen ist.

[5] Siehe z.B. Dokument 12, S. 235, 238 - 41. Durch den Stellvertreter Mielkes, Generalleutnant Neiber, wurde der Tatbestand offenbar anders eingeschätzt (siehe Dok. 14, S. 105).

[6] MfS-interne Hochschule

[7] BStU, JHS - 243/89

[8] Dokument 23

[9] Dokument 13, S. 124

[10] Siehe Dokument 16, S. 56

[11](Dokument 5). Die handschriftlichen Kürzel im Dokument geben die Adressaten an: 1. Honecker, 2. Stoph (Ministerratsvorsitzender), 3. Fischer (Außenminister), 4. Keßler (Verteidigungsminister), 5. Mittig (Stellvertreter Mielkes, zuständig für die politisch-operativen Abteilungen), 6. Neiber (Stellvertreter Mielkes, zuständig für die Linien mit Polizeifunktion), 7. Leiter der HA I (Militärabwehr), 8. HA II (Spionageabwehr), 9. HA VII (Stasi im Innenministerium, u.a. Wasserschutzpolizei) und andere.

[12] Das hier beschriebene Zögern ist gewiß nicht Ausdruck einer liberaleren Haltung in der Gorbatschow-Ära. Auch Modrow, als 1. Sekretär der SED-Bezirksverwaltung Dresden, war für seine regiden Methoden als oberster Herrscher über Staat und Stasi bekannt, z.B. wurden Jugendliche, weil sie sich einen Punk-Habit gegeben hatten, von der VoPo aus dem Dresdener Stadtzentrum geprügelt und bestraft. Das Zögern ist also viel eher darin begründet, daß sich die Provinzregenten in einer unbekannten Situation sahen, die Verwicklungen - vielleicht sogar diplomatische - nach sich ziehen konnten. Man hätte dann einen "Verantwortlichen" unter ihnen gesucht, der eine falsche und eigenmächtige Entscheidung getroffen hatte. Also wartete man lieber erst ab und ließ die "oben"  in Berlin entscheiden. In makabrer Weise trifft auch in diesem Fall die Systemdefinition des Ungarn Hegedüs zu: Das System der organisierten Verantwortungslosigkeit.

[13] Anwesende Mitglieder: Honecker, Axen, Böhme, Dohlus, Eberlein, Felfe, Hager, Herrmann, Jarowinsky, Keßler, Kleiber, Krenz, Krolikowski, Lorenz, Mielke, Mittag, Mückenberger, Neumann, Schabowski, Sindermann, Stoph, Tisch. Quelle: SAPMO, ZPA, J IV 2/2 - 2248.

[14] Apologeten des stalinistischen Systems werden an der Stelle geneigt sein, anzuführen, daß doch eine Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West stattfand, und aus dem Grunde auch ein Technologie-Embargo seitens des Westens gegenüber dem Osten bestand, also auch im Westen entwickelte Produktions- und Entsorgungstechnologien nicht in den Osten gelangten. Ja, das stimmt. Aber warum hat das sogenannte sozialistische System diese Produktivkräfte nicht selbst entwickeln können? Aus der zur Religion und Rechtfertigung dieser Wirtschafts- und Politdiktatur verkappten Kapitalismuskritik des Karl Marx und Friedrich Engels entspringt doch gerade das Postulat: Die alten Produktionverhältnisse werden aufgehoben, weil sie die Entwicklung moderner Produktivkräfte nicht mehr befördern können. Entweder hatten Marx und Engels Unrecht oder der Osten und sein Wirtschaftssystem waren nicht die antizipierte höhere Gesellschaft. Jedenfalls stimmt da irgendwas nicht.

[15] Siehe zu Struktur und Aufgaben: Die Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit, herausgegeben vom Bundesbeauftragen für die Unterlagen des MfS, Berlin 1993

[16] Die genannten Daten stützen sich auf die Gehaltsliste des MfS aus dem Jahre 1989.

[17] Dokument 11, S. 139

[18] Die Quittungen über die Belohnungen befinden sich in der IM-Akte, Teil I (BStU, ASt. Berlin, AIM 5740/91, Teil I), hier als Beispiel Dokument 12, S.348.

[19] Die Krankheit wurde aus Datenschutzgründen anonymisiert.

[20] Dokument 11, S. 23

[21] Von einem anderen IM ist bekannt, daß er von seinem Führungsoffizier zu einem HIM "Niere" geschickt wurde, wenn er eine "operative Krankschreibung" benötigte. Auch unter den Ärzten und Krankenschwestern der DDR gab es "Doppeleinkünfte".

[22] Dokument 11, S.24

[23] Ebenda. Die ISA hatte auch den Namen Arbeitskreise für Arbeitnehmerpolitik und Demokratie, trat als eine der wenigen linken Gruppen  für die Einheit Deutschlands ein und versorgte die Umweltbibliothek in Ost-Berlin illegal mit Literatur. Der Autor wurde im Sommer 1989 von der Organisation zu einer Konferenz nach Peru eingeladen. Der Visumantrag wurde von den DDR-Organen abgelehnt.

[24] Siehe die handschriftliche Bemerkung auf Dokument 13, S. 124. Der ehemalige Greenpeace-Mitarbeiter Klaus N. hat den Zeitraum bestätigt.

[25] Im Februar wurde durch die Bezirksverwaltung Halle, Abteilung Opposition, Referat für Westverbindungen, ebenfalls festgestellt, daß Greenpeace in West-Berlin Verbindung hält zum Kirchlichen Forschungsheim in Wittenberg. Die Tatsache wurde, wie in Dokument 10 zu sehen, an die Hauptabteilung XX in Berlin weitergeleitet. Dokument 10 ist ein Auszug einer Zentralen Materialablage Nr. 3332, die gesondert durch die HA XX zum Fall Greenpeace angelegt worden war.

[26] Die Aktivitäten des Autors 1985 in Ost-Berlin wurden dem MfS auch durch den IMB "Christian" bekannt.

[27] Dokument 14, S. 106

[28] Dokument 12, S. 441

[29] siehe Dokument 13, S. 206

[30] siehe Dokument 23, Anlage 2, S. 4/5

[31] Beim Reaktor WWER-440 handelt es sich um den im Ostblock am häufigsten eingesetzten Atomreaktor. Greeenpeace wollte mit der Studie auf seine Gefahren aufmerksam machen.

[32]  Die MfS-Richtlinie 1/76 war die direkte Handlungsanweisung zu diesem Zweck.

[33] Die Einwohner des Stadtbezirkes Prenzlauer Berg sollten damit offenkundig angehalten werden, ihr Geld nicht in den westlichen Stadtbezirken auszugeben.