Die 90er Jahre und die Umweltbewegung im Osten

Ein kritischer Kommentar zum Erreichten

Von Ralf-Uwe Beck[1]

Im Herbst 1989 wurde um die wirklichen Mangelwaren des Ostens gekämpft: um Recht und Gerechtigkeit, Presse- und Meinungsfreiheit, Rede- und Versammlungsfreiheit. Und auch um saubere Luft, die Bekämpfung des Pseudokrupp bei unseren Kindern, um trinkbares Wasser, darum, dass Gülle nicht länger in Seen gepumpt wird, um ein Ende des Uranbergbaus, um bessere Deponien und gegen die Ursachen der niedrigeren Lebenserwartung im Chemiedreieck. „Die DDR braucht die SED wie der Wald die Abgase.“ Das war eine der Losungen, die die Menschen auf Bettlaken schrieben und bei den Montagsdemos vor sich hertrugen. Den ökonomischen Zwängen nicht mehr länger den Vortritt gegenüber den ökologischen Notwendigkeiten zu lassen, war eine zentrale Forderung, die während der Revolutionstage laut wurde.

Der Mauerfall änderte die Sehnsuchtsrichtung

Dann fiel die Mauer. Der 9. November war einer der glücklichsten Tage in diesem Herbst ‘89. Allerdings: Bis dahin waren wir ins Landesinnere unterwegs, wir wollten uns unser Land wieder aneignen. Es war, als schlüpften wir aus einem Kokon, um uns als Bürgerin und Bürger zu entdecken, bereit, für das Land zu bürgen, Verantwortung zu übernehmen. Bis zum Mauerfall. Von da an änderte sich die Sehnsuchtsrichtung. Aus dem „Wir sind das Volk“ wurde „Wir sind ein Volk“. Das muss nicht verwundern. Die Anziehungskraft des Westens war sprichwörtlich. Es ist nur menschlich, dass die Menschen im Osten, jetzt wo der West-Kuchen erreichbar schien, ein Stück abhaben wollten. Nur ging es dann nicht mehr nur um die demokratische Wurst, sondern eben auch um die Bananen. Ein Großteil der revolutionären Kraft ist in den Supermarktregalen des Westens hängengeblieben. Aus dem ex oriente lux wurde ein ex occidente luxus. Das schmälert nicht Wunder und Wahnsinn der Grenzöffnung.

Die beste DDR der Welt

Auch haben wir immerhin im Frühling 1990 noch die beste DDR erlebt, die es je gegeben hatte – ein Land unbegrenzter Möglichkeiten. Das war die DDR des Rundes Tisches, ein Land, in dem sich die Menschen des Geheimdienstes entledigt hatten. Die ersten freien Wahlen, kein Verteidigungs-, sondern ein  Abrüstungsminister. Diese DDR ging schonungslos mit sich um, hat aufgedeckt hat, was Jahrzehnte bekannt war, aber nicht bekannt gemacht werden durfte. Der Geheimnisschutz für Umweltdaten – eine DDR-Verordnung – war aufgehoben: Die 11.000 wilden Mülldeponien durften endlich so auch genannt werden. Der Uranabbau war nicht mehr Ruhm des Bergbaus und Ausweis deutsch-sowjetischer Freundschaft, sondern Zerstörung der Superlative. Die Schweinemastanlage im Plothener-Teichgebiet mit 180.000 Tieren war nicht mehr der vorbildliche Exportbetrieb, sondern nur noch eine große Sauerei. Und gleichzeitig kam das erhebende Gefühl auf, plötzlich für etwas eintreten, an Modellen arbeiten zu können. Wir haben diskutiert, ob die DDR eine Automobilindustrie braucht, wir wollten stattdessen Blockheizkraftwerke und Solaranlagen bauen. Wir sind mit Planungsbüros (aus dem Westen) Dorfränder abgeschritten und haben nach Flächen für Wurzelraumkläranlagen gesucht. Diesen Aufbrüchen hat die eilige Deutsche Einheit ein Ende gemacht – und damit auch der Auseinandersetzung mit den Idealen aus dem Herbst ’89.

Gebrochenes Versprechen

Dieser Beitritt der DDR an die Bundesrepublik Deutschland nach Paragraf 23 Grundgesetz war eine „brutal vollzogene Staatsaktion, Pfusch“, wie Günter Grass meinte. Der Traum von einem eigenen Weg, einem sozial gerechten, pazifistisch und ökologisch orientierten Land, in dem Ideen mehr zählen als Ideologie, war ausgeträumt. Das Versprechen der Mütter und Väter des Grundgesetzes, bei Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, an einer gesamtdeutschen Verfassung zu arbeiten und sie dem Volk zur Entscheidung vorzulegen, wurde gebrochen: der Kardinalfehler der Deutschen Einheit. Oder positiv formuliert: Es hätte ihr Edelstein werden können, geeignet, eine gesamtdeutsche Identität zu begründen, mindestens die ostdeutsche Identität nicht in einer Verliererrolle aufgehen zu lassen. Damit war auch die von einer Arbeitsgruppe des Zentralen Runden Tisches ausgearbeitete und einstimmig beschlossene Verfassung für eine DDR 2.0 obsolet. Sie hat in der Volkskammer schon keinerlei Rolle mehr gespielt. Die später eingesetzte Verfassungskommission der Länder hat immerhin einen entscheidenden Ansatz, der in Artikel 33 Abs. 1 formuliert war („Der Schutz der natürlichen Umwelt als Lebensgrundlage gegenwärtiger und künftiger Generationen ist Pflicht des Staates und aller Bürger.“) aufgenommen und 1994 bei der Reform des Grundgesetzes als Art. 20a eingeführt. Das spektakuläre Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von Ende April 2021, auf das hin die Bundesregierung ihr Klimaschutzgesetz nachbessern musste, geht darauf zurück.

Umweltbewegung muss sich neu finden

In dieser Umbruchzeit, in der die Weichen in Richtung Deutsche Einheit gestellt wurden, musste sich die Umweltbewegung im Osten neu finden. Hier gab es aus DDR-Zeiten den staatlich organisierten Naturschutz in der Gesellschaft für Natur und Umwelt beim Kulturbund der DDR, der einen „schmerzarmen“  Naturschutz betrieben hatte; er war umweltpolitisch völlig harmlos und kam dem Staat nicht in die Quere. Anders die kirchlichen Umweltgruppen, die umweltpolitisch gearbeitet und sich mit dem Staat angelegt hatten. Sie waren unter das Dach der Kirche geschlüpft, definierten sich aber – im Unterschied zu kirchlichen Umweltgruppen im Westen – weniger über den Glauben, mehr über den Umweltweltschutz. Als sie den kirchlichen Schutzraum nicht mehr brauchten, verließen sie die Kirchen, was manche kirchliche Leitung ehrlich bedauerte, die meisten aber aufatmend zur Kenntnis nahmen. So gab es beispielsweise in Thüringen 1989/90 unter dem Dach der evangelischen Kirche 17 Umweltgruppen, bald nur noch eine. Und schließlich gab es einige freie, private Initiativen, die sich nirgendwo angeschlossen hatten.
ie einen setzten auf einen eigenen ostdeutschen Weg und schlossen sich der Grünen Liga an, andere suchten die Zusammenarbeit mit bestehenden Umweltverbänden im Westen. So war beispielsweise die Gründung des Thüringer Landesverbandes des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) im Mai 1990 von daher motiviert, dass mit der absehbaren Deutschen Einheit dem Osten neben den Altlasten nun auch die Umweltprobleme des Westens ins Haus stehen würden, auf die man nicht eingestellt war.

Falsch beraten

Das Ziel war, die Lebensverhältnisse Ost an West anzugleichen, nicht Ost und West anzugleichen. Dies bedeutete also nicht, aufeinander zuzugehen, sondern den Osten auf das Wohlstandsniveau des Westens zu heben, ohne zu diskutieren, was Wohlstand überhaupt ausmacht und mit welchen Konsequenzen zu rechnen ist. Ja, im Osten offenbarten sich zerstörte Landschaften und Umweltbelastungen der Superlative. Aber es gab auch ökologisch ausbaufähige Ansätze. Manche ostdeutsche Stadt war zu 50 Prozent mit Fernwärmeversorgt, eine hervorragende Voraussetzung für den Ausbau von Kraft-Wärme-Kopplung. 1989 wurden in der DDR 71,5 Prozent der Güter von der Bahn bewegt, in den Altbundesländern nur 21,6 Prozent. Von den Personenkilometern entfielen 35 Prozent auf Bahn, im Westen nur 15 Prozent. Es gab ein Tempolimit auch auf Autobahnen. Bei der Erfassung und Trennung der sogenannten Sekundärrohstoffe waren die Ossis Europameister. Die Mehrwegquote war so hoch, dass es kaum verwunderlich gewesen wäre, den Wodka in einer früheren Bohnerwachsflasche im Regal zu finden. – Das sind nur Beispiele für vertane Chancen. Das Land stand davor, umgekrempelt zu werden. Wie Vieles hätte konsequent zukunftsfähig gestaltet werden können. Aber die Umweltpolitik der Bundesrepublik war fixiert auf die Hinterlassenschaften der DDR-Wirtschaft, auf die Altlasten. Die Umweltpolitik ging davon aus, dass westdeutsches Niveau durchweg auf einer höheren ökologischen Stufe rangiert, an das auch hier der Osten anzugleichen ist. Das war falsch. Falsch beraten auch von denen, die losgeschickt worden waren, die Ämter im Osten zu besetzen. Sie waren nicht gekommen, zu prüfen, welche Ansätze im Osten für eine zukunftsfähige Entwicklung vorhanden waren. Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht, schon gar nicht, wenn es im Osten gewachsen ist und der Bauer verbeamtet ist.

Aufschwung Ost

Aufschwung Ost war die Losung, unter der all die Konzepte aus den Zeiten der Wirtschaftswunderjahre wieder hervorgekramt werden konnten und im Osten ihre Nachauflage erlebten. Selbst dort, wo tatsächlich bald Besserungen eintraten, schlug das Pendel der Umweltbelastung in die andere Richtung aus. Die Flüsse wurden sauberer, aber gleichzeitig entstanden überdimensionierte Kläranlagen, teuer für die Bürgerinnen und Bürger. Die Luft verlor ihren Schwefelgestank, wurde aber belastet durch Stickoxide aus dem zunehmenden Straßenverkehr. Altlasten wurden zwar erfasst und Flächen saniert. Um Alt-Industriebrachen allerdings wurde oft ein Bogen gemacht, anstatt diese als Alternativen zu den ausufernden Gewerbeansiedlungen und Einkaufszentren vor den Toren der Städte zu nutzen. Der Westen hatte all dies über Jahrzehnte in den 60er und 70er des vorigen Jahrhunderts erlebt, im Osten aber lief dies wie im Zeitraffer ab. In großer Eile ging es darum, den Markt zu erobern und dabei mit Hilfe der Treuhand abzuwickeln, was im Weg stand. Hinter der Fanfare vom Aufschwung Ost und der einschmeichelnden Rede Helmut Kohls von den blühenden Landschaften hat die Umweltbewegung erlebt, wie Landschaften geschliffen und die Grüngürtel der Städte gesprengt wurden. Die beschleunigten Planungen, die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit, der Ausbau der Infrastruktur … Durchgezogen oft mit fahrlässig fadenscheiniger Bürgerbeteiligung ohne echte Abwägungen war dies zugleich die Kollision mit der 89er Forderung nach mehr Demokratie. Ein Beispiel: Anfang 1999 hat der BUND Thüringen auf eigene Kosten eine alternative Planung zum Bau der umstrittenen Autobahnen A71 und A73 zwischen Meiningen und Schweinfurt skizziert und in einer Pressekonferenz vorgestellt. Mit der von einem professionellen Planungsbüro durchgerechneten Alternative hätten der Landschaftsverbrauch und die Kosten halbiert werden können. Noch am selben Vormittag hat das Wirtschaftsministerium verlautbart, die Lösung sei nicht ernst zu nehmen und käme selbstverständlich nicht in Frage. Die Ausarbeitung hatte die Behörde noch gar nicht zur Kenntnis genommen. Jahre später hat eine Untersuchung offenbart, dass sowohl die verkehrlichen Prognosen wie auch die von der staatlich geplanten und realisierten Autobahn erhofften Impulse für die Wirtschaftsentwicklung nicht eingetreten sind.

Und dennoch …

Die 90er Jahre waren für die noch junge Umweltbewegung in Ostdeutschland eine bedrückende Zeit. Die meisten Kämpfe „David gegen Goliath“ gingen verloren. Unter diesem Eindruck verblasst, was durchaus zu würdigen ist: Die Atommeiler in Greifswald und Rheinsberg wurden abgeschaltet, das Atomkraftwerk in Stendal nicht zu Ende gebaut. Der Uranabbau durch die Wismut in Osthüringen und Westsachsen wurde eingestellt, die Region aufwändig saniert. Und nicht zuletzt das Großschutzgebietsprogramm, mit dem es durch den klugen Einsatz von Michael Succow gelungen war, einmalig große und viele Naturschutzflächen handstreichartig Stunden vor der Deutschen Einheit noch unter Schutz zu stellen. Das Grüne Band, um das lange gerungen wurde, um diesen Rückzugsraum für bedrohte Arten zu erhalten, ist in Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Hessen heute als Nationales Naturmonument geschützt. Es ist zugleich Gedenk- und Erinnerungsort für das Leid, das diese Grenze bedeutet hat. Die Umweltbewegung in Ostdeutschland konnte nicht zu der im Westen aufschließen, sie ist zahlenmäßig kleiner, wächst langsamer, hat weniger Mittel zur Verfügung und kann nicht so viele Spenden einwerben. Aber es gibt sie.


[1] Ralf-Uwe Beck, Theologe, Bürgerrechtler und Autor, kommt aus der freien und kirchlichen Umweltbewegung der DDR. Er war das erste ostdeutsche Mitglied im BUND, in den 90er Jahren Landesvorsitzender des BUND Thüringen und stellvertretender BUND-Bundesvorsitzender. Seit 1999 engagiert sich Beck bei Mehr Demokratie e. V., seit zehn Jahren als Bundesvorstandssprecher. Er ist beruflich tätig als Leiter der Öffentlichkeitsarebeit der Evangelischen Kirche in MItteldeutschland.