Die Staatssicherheit und die Grünen

Zitat aus Sehepunkte von Heike Amos[1

Die Autoren stellen gleich zu Beginn der Studie, die von den Führungsgremien von Bündnis 90/Die Grünen in Auftrag gegeben wurde, klar, dass Enthüllungen über spektakuläre Einzelfälle zu Stasi-Agenten in den Reihen der Grünen nach 25 Jahren intensivster Archivrecherchen durch Wissenschaftler und Medienvertreter nicht zu erwarten sind. Sie wollen vielmehr die MfS-Tätigkeit gegen die Grünen stärker in die Geschichte der Staatssicherheit und in die politischen Rahmenbedingungen der deutsch-deutschen Beziehungen im letzten Jahrzehnt der DDR-Existenz einbetten. Zudem untersuchen sie, wie tief der DDR-Geheimdienst in die Reihen der Grünen eindringen konnte, welchen Nutzen seine Erkundungen für die SED-Politik brachte und ob bzw. wo er den Kurs der Partei manipulierte. Im Zentrum der Untersuchung stehen die Aktivitäten des Bundesverbandes der Grünen, die Arbeit der Bundestagsfraktion (1983-1990) sowie die Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz (AL) in West-Berlin.

Die sich etablierende Grünen-Doppelstrategie - Kontakte zu staatlichen Stellen der DDR zu unterhalten, aber gleichzeitig direkte Basisbeziehungen zu den ostdeutschen oppositionellen Gruppen zu suchen - forderte SED und MfS in doppelter Hinsicht heraus: Sie versuchten jene Grünen-Kräfte zu unterstützen, die für die völkerrechtliche Anerkennung der DDR eintraten und Gespräche mit DDR-Offiziellen favorisierten. Zudem hoffte die SED, die Grünen als möglichen Koalitionspartner einer künftigen SPD-geführten Bonner Regierung zu stärken. Zurückgedrängt werden sollten jedoch jene Grünen-Gruppierungen, die Kontakte zu DDR-Oppositionellen unterhielten und diese ideell, materiell und öffentlich unterstützten.

Die Studie beginnt mit der wechselvollen und widersprüchlichen Geschichte der MfS-Strategien und den daraus resultierenden Aktivitäten in Bezug auf die Grünen. Dabei werden geheimdienstliche Handlungsebenen wie Rekrutierung und Informantentätigkeit, Auswertung und Politikberatung sowie aktive Einflussnahme unterschieden.[…]Insgesamt seien es, so die Autoren, "ein gutes Dutzend Offiziere" gewesen, "die als Grünen-Spezialisten des MfS bezeichnet werden können, und viele Hundert, die sich in der aufgeblähten Überwachungsbürokratie [...] routinemäßig auch mit den Grünen befassten" (128).

In sechs einzelnen Fallstudien beschreiben die Autoren Ergiebigkeit und Nutzen der MfS-Quellen. Der bekannteste und schwerwiegendste Fall der Tätigkeit eines Grünen als MfS-Spitzel war der 1975 angeworbene Dirk Schneider, der zeitweilig Bundestagsabgeordneter und später dann Pressesprecher der AL in West-Berlin war. […]

Danach gehen die Autoren der Frage nach, in welchem Umfang gewonnene Geheimdienstinformationen an die SED-Führung weitergeleitet wurden. Hier gibt es eine dichte Überlieferung von HVA-Informationen an die Parteiführung. Sie gingen an die SED-Politbüromitglieder Axen, Honecker, Häber, Schabowski, Krenz und Hager. Das MfS und die SED-Spitze interessierten sich erwartungsgemäß vor allem für Petra Kelly, Otto Schily, Dirk Schneider, Lukas Beckmann, Rudolf Bahro und Gert Bastian. Im Anschluss daran wird das wichtigste und öffentlich wohl auch bekannteste Instrument der SED im Umgang mit Grünen-Politiker und -Politikerinnen - die Einreisepolitik - analysiert. Diese Praxis wurde durch Entscheidungen der MfS-Führung und oftmals Erich Honeckers persönlich umgesetzt.

Der Versuch, die westliche Friedensbewegung der frühen 1980er Jahre zu lenken, war die letzte große geheimdienstliche Operation des MfS. In relativ offener Weise wurde über DKP und KOFAZ Einfluss ausgeübt. Letztlich scheiterte die SED-MfS-Strategie, die im NATO-Doppelbeschluss vorgesehene Stationierung von neuen Atomwaffen in der Bundesrepublik zu verhindern. Der ostdeutsche Geheimdienst war jedoch nicht in der Lage, den Misserfolg intern einzugestehen oder gar eine systematische Analyse des Scheiterns seiner Kampagnen zu betreiben. […]

Die Arbeit ist sehr gut strukturiert und gegliedert; sie ist gut geschrieben und wartet immer wieder mit einzelnen überraschenden neuen Erkenntnissen auf. Jeder, der sich mit dem geheimdienstlichen Wirken des MfS auf westliche Parteien und Organisationen in Zukunft befasst, wird sich am wissenschaftlichen Niveau dieser Studie messen lassen müssen.


[1] Zitat aus einer Rezension über ein Buch von Jens Gieseke / Andrea Bahr. https://sehepunkte.de/2017/03/29634.html (Zugriff 6.10.2023)