Sauberer Strom? Das Kernkraftwerk Rheinsberg

Von Sebastian Stude[1]

„Atomenergie – das war Leben oder Tod.“[2] Die Formulierung stammt aus Werner Bräunigs großem Wismut-Roman „Rummelplatz“ über die Aufbaujahre der DDR. Dieses Zitat steht für die große Bedeutung, die SED-Führung und DDR-Regierung dem Einstieg in die industrielle Nutzung der Kernenergie Mitte der 1950er Jahre zuschrieben. Der Aufbau einer eigenen Kernenergiewirtschaft sollte in ihren Augen die bis dahin ungelöste Energiefrage beantworten. Mit dem Neubeginn des gesellschaftlichen Lebens nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Wiederaufbau der Wirtschaft und auch einer steigenden Zahl elektrischer Haushaltsgeräte nahm der in Ostdeutschland ohnehin nicht gedeckte Strombedarf weiter zu. Eine Prognose im Vorfeld der 3. SED-Parteikonferenz im März 1956 meinte beispielsweise, bei jährlichem Anstieg des Stromverbrauchs um angenommene 7 Prozent werde sich der ostdeutsche Energiebedarf bis 1970 verfünffachen.

Mit dem Einstieg in die Kernenergiewirtschaft verbanden Partei- und Staatsführung zugleich die Hoffnung auf die energiepolitische Quadratur des Kreises. Hatten sich die großen energiepolitischen Ziele – die Produktion von billigem, sicherem und sauberem Strom – bis dahin widersprochen, sollten Kernkraftwerke diese Widersprüchezukünftig in Einklang bringen. Mit ihren Schwärmereien vom Eintritt ins „Atomzeitalter“ griffen ostdeutsche Politiker, Verwaltungsleute, Wissenschaftler und Publizisten Mitte der 1950er Jahre dabei einen weltweiten Trend auf. Kritisch betrachtet, erwies sich die industrielle Nutzung der Kernenergie jedoch als bloße Hoffnung. Ihre Rentabilität, Sicherheit und Sauberkeit waren alles andere als gewiss. Die Geschichte des ersten Kernkraftwerkes der DDR bei Rheinsberg zeigt, dass beispielsweise die ostdeutsche Hoffnung auf sauberen Strom unerfüllt blieb.

Braunkohle und Uran

Der ostdeutsche Einstieg in die Kernenergiewirtschaft durchaus von plausiblen Argumenten geleitet. Einem steigenden Energieverbrauch standen in der frühen DDR eine ungünstige Rohstoffsituation, die Abkopplung vom früheren gesamtdeutschen Stromverbundnetz (infolge des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Teilung) und eine Vielzahl älterer, ineffizienter Kraftwerke gegenüber. Zu den wichtigsten Rohstoffen zählte in Ostdeutschland nach 1945 das zunehmend erkundete Uranerz im Süden des Landes. Für größtmögliche Autarkie setzten SED-Führung und DDR-Regierung auf diesen Rohstoff, zumal die Verwendung von aufbereitetem Uran in Kernkraftwerken entscheidende Vorteile im Vergleich zur Braunkohlenverstromung zu bieten schien: Eine höhere Effizienz bei der Energieumwandlung, relative Standortunabhängigkeit der Kraftwerke von den Lagerstätten des benötigten Rohstoffes, verbunden mit geringen Übertragungsverlusten zu den Verbrauchern sowie die geringe Witterungsanfälligkeit der Rohstofflagerstätten – eingefrorene Braunkohle war ein dauerhafter Begleitumstand im „Winterkampf“ der ostdeutschen Energiewirtschaft.

Der Einstieg in die Kernenergiewirtschaft erschien auch deshalb attraktiv, weil sich die Nachteile von Förderung und Verstromung der Braunkohle im Laufe der Jahre sehr deutlich zeigten. Technischer Aufwand, wirtschaftliche Kosten und ökologische Schäden stiegen ins Extreme.

Spätestens Mitte der 1970er Jahre griffen SED-Führung und DDR-Regierung das wachsende gesellschaftliche Bewusstsein für die Umweltzerstörungen in der DDR verstärkt zur Rechtfertigung der Kernenergiewirtschaft auf. Mit „alternativer Energie“ meinten sie bis zuletzt nicht erneuerbare Energien aus Sonne, Wind und Wasserkraft. Vielmehr meinten sie damit den Ersatz fossiler Brennstoffe durch die industrielle Nutzung der Kernenergie. Dafür verwiesen sie unter anderem auf die vermeintlich geringere Umweltzerstörung im Umfeld der Kernkraftwerke. Deren Standorte schienen die verbreitete Wahrnehmung von der industriellen Kernenergienutzung als umweltschonender Stromproduktion zu befördern. Denn die ostdeutschen Kernkraftwerke befanden sich in Regionen ohne große industrielle Belastungen und mit weitgehend intakter Umwelt am Stechlinsee bei Rheinsberg und an der Ostsee bei Greifswald.

Die Umweltverträglichkeit von Kernkraftwerken war jedoch ein Scheinargument, das in der DDR seine Überzeugungskraft insbesondere vor dem Hintergrund der ausufernden Braunkohlenverstromung gewann. Das Argument unterschlug Störfalle in den Kernkraftwerken, den üblichen Auswurf radioaktiver Edelgase über deren Schornsteine, Umweltbelastungen durch die Abgabe radioaktiver Nuklide über Abwässer und konventionelle Abprodukte;  nicht zuletzt die Umweltbelastungen bei der Förderung und Aufbereitung von Uran. Doch vor dem Hintergrund der massenhaften Braunkohlenverstromung und daraus resultierender Umweltzerstörungen genoss die industrielle Kernenergienutzung in der DDR eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz, galten Kernkraftwerke bei Politikern, Verwaltungsleuten und der Bevölkerungsmehrheit als saubere Zukunftstechnologie. Im Ministerium für Kohle und Energie sprach man den 1980er Jahren etwa vom Braunkohlekombinat als dem „schwarzen“ und dem Kernkraftwerkskombinat als dem „weißen“ Kraftwerksverbund.[3] Und der DDR-Ministerrat knüpfte mit seinem  1983 beschlossenen Kernenergieprogramm die Hoffnung auf eine energie- und umweltpolitische Wende, um mit der Errichtung von Kernkraftwerken ein Drittel aller Schwefeldioxid-Emissionen der Kohleverstromung einsparen zu können. Ein solcher politischer Ansatz konnte nicht zuletzt deswegen überzeugend erscheinen, weil die industrielle Kernenergienutzung angesichts zweier Ölpreis-Krisen Anfang und Ende der 1970er Jahre die verbliebene Alternative zu sein schien.[4]

Kernkraftwerk inmitten eines Naturschutzgebietes

Schon die Standortwahl für das Kernkraftwerk bei Rheinsberg stellte die Hoffnungen auf sauberen Strom in Frage, dessen Produktion Umwelt und Natur nicht belastete. Der an der Planung beteiligte VEB Energieprojektierung monierte gegenüber dem Mitglied des SED-Zentralkomitees und stellvertretenden Ministerratsvorsitzenden, Fritz Selbmann, und dem Amt für Kernforschung und Kerntechnik die „ungeschickte“ Standortwahl des Kernkraftwerkes inmitten eines Naturschutzgebietes.[5] Der Staatssekretär im Ministerium für Land- und Forstwirtschaft versagte seine Zustimmung zunächst ebenso wie der Vorsitzende der Staatlichen Naturschutzverwaltung. Ebenso brachten der Direktor des Instituts für Landesforschung und Naturschutz bei der Deutschen Akademie der Landwirtschaftswissenschaften und der Präsident der Deutschen Akademie der Landwirtschaftswissenschaften gegenüber Otto Grotewohl, Walter Ulbricht und den Mitgliedern des Ministerrates Sorgen um das örtliche Naturschutzgebiet zum Ausdruck.[6]

All das umfasste keine prinzipielle Kritik an der industriellen Kernenergienutzung. Der Unmut richtete sich gegen das eigenmächtige Handeln des Amtes für Kernforschung und Kerntechnik, das zwischenzeitlich als das zukünftige „Atomministerium“ der DDR galt und als Standort für das Kernkraftwerk einen Platz inmitten des 1938 geschaffenen „Naturschutzgebietes Großer Stechlin-, Nehmitzsee und Großer Krukowsee“ ausgesucht hatte, wenige Kilometer vom beliebten Kurort Neuglobsow gelegen. Die Errichtung eines Kernkraftwerkes inmitten geschützter Natur stellte aus der Perspektiveder zuständigen Planer und Ingenieure jedoch keinen derart krassen Widerspruch dar, als den ihn kritische Beobachter damals und später wahrnahmen. Nicht wenige Wissenschaftler und Ingenieure betrachteten den Standort sogar als technologische Notwendigkeit und als reizvolle Herausforderung für die Errichtung eines Kraftwerkes, das seine Umgebung weniger belasten sollte als Kohlekraftwerke.[7]

Über die inneren Einstellungen der Kraftwerksbauer gab der Leiter des Ost-Berliner Reaktorbau-Büros, das die Projektierung des Kernkraftwerkes auf ostdeutscher Seite leitete, Max Steenbeck, interessante Einblicke. Er meinte, „dass gerade die Anwesenheit des Kernkraftwerkes (…) eine weitere Störung der Natur durch Anlagen irgendwelcher Art verbiete; auch beeinträchtige das Werk die Umgebung weder durch Geräusche noch durch Geruch oder Rauch“.[8] Auch später verwies Steenbeck darauf, dass die Erwärmung des Stechlinsees durch den Kraftwerksbetrieb „für das Baden nicht gerade unwillkommen“ sei. Und der spätere Direktor des Kernkraftwerkes Karl Rambusch meinte Ende der 1950er Jahre, die Erwärmung des Stechlinsees wäre doch günstig für die örtliche Fischereiwirtschaft.[9]

Solche Einstellungen erklärten sich aus technokratischen Betrachtungen, dem sozialistischen „Realismus“, unkritischer Fortschrittsgläubigkeit sowie der Zeit einer weltweiten „Atomeuphorie“. Das weitverbreitete Vertrauen in die Wissenschaftler und Ingenieure sowie fehlende Erfahrungen erklären auch, dass unmittelbar neben das Rheinsberger Kernkraftwerk inmitten des Naturschutzgebietes ein sogenannter „Friedhof“ als kleines oberirdisches Endlager für radioaktive Abfälle gesetzt wurde. Die veröffentlichte Meinung Anfang der 1960er Jahre dazu lautete, die Abfälle seien hier für die Ewigkeit „absolut strahlensicher“ gelagert.[10] Dieses Versprechen absoluter Sicherheit und Sauberkeit konnten die Wissenschaftler und Ingenieure allerdings nicht einhalten.

Störfall am Stechlinsee

Dass das Versprechen absoluter Sicherheit und Sauberkeit nicht einzuhalten war, galt für den Betrieb des Kraftwerkes insgesamt. Das Kernkraftwerk selbst dokumentierte zwischen 1966 und 1990 insgesamt 484 Störungen und Störfälle mit einem Produktionsausfall von etwa 833 Gigawattstunden, etwa 9 Prozent der gesamten Stromproduktion. Der betriebliche Kommentar, die meisten Störfälle wären kaum beeinflussbare „Zufallsereignisse“ gewesen, liest sich als Hinweis auf die unausgereifte Technologie des Kernkraftwerkes. Die Zahl kleinerer Störungen und größerer Störfälle mit Bezug auf die nukleare Sicherheit lag mit 511 Ereignissen noch etwas höher. Nachträglich wurden diese Ereignisse einer siebenstufigen internationalen Störfallskala zugeordnet. Demnach fielen 37 Ereignisse in die beiden untersten Störfallstufen. Alle übrigen Störungen lagen unterhalb dessen, was die Skala erfasste. Die Kraftwerksleitung brachte dazu regelmäßig das technokratische Argument vor, die an die Umwelt abgegebene Radioaktivität bewege sich im Bereich der staatlichen Grenzwerte – das Kernkraftwerk würde „nuklear und strahlenschutztechnisch sicher betrieben“ und Mensch und Umwelt wären keiner „unzulässigen Strahlenbelastung“ ausgesetzt.[11]

Ein besonderes Ereignis tauchte in der Störfallstatistik des Kernkraftwerkes jedoch nicht auf. Im August 1976 wurde Wirklichkeit, was Fachleute aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft sowie die staatlichen Einrichtungen zur technischen Überwachung und geheimpolizeilichen Absicherung bis dahin als unmöglich erachtet hatten. Nach einjährigem Stillstand zur Reparatur ging das Kraftwerk gerade wieder in Betrieb, als ein Maschinist das unkontrollierte Ausströmen radioaktiv verschmutzten Wassers in den Stechlinsee entdeckte. Unklar blieb, wie lange, wie viel und wie stark radioaktiv verschmutztes Wasser in den Stechlinsee entwichen war. Schlimmstenfalls, so eine nachträgliche Annahme, seien zwischen Frühjahr 1973 und Sommer 1976 mehr als 750 Tonnen radioaktiv verschmutztes Wasser in den See gelangt.

Die Staatssicherheit erfuhr durch einen Informanten von dem Störfall. Die Annahme, die Angelegenheit könne „eine bewusst herbeigeführte feindliche Handlung“[12] gewesen sein, alarmierte die Geheimpolizei. Sie legte den Operativen Vorgang „Steckscheibe“ an und machte sich daran, einen Verantwortlichen aufzuspüren und den Nachweis einer vorsätzlichen Straftat zu erbringen (lt. DDR-Strafgesetzbuch: Paragraf 103 – Diversion; Paragraf 193 – Verletzung der Bestimmungen des Gesundheits- und Arbeitsschutzes; Paragraf 194 – Gefährdung der Gebrauchssicherheit). Mit Blick auf die Verschmutzung des Stechlinsees fürchtete die Staatssicherheit vor allem, der Störfall könne öffentlich werden und einen unabsehbaren Imageschaden für das Kernkraftwerk bei Rheinsberg und die Kernenergiewirtschaft in der DDR nach sich ziehen. Drei ungünstige Umstände konstatierte die Geheimpolizei zu Beginn ihrer Untersuchungen: Erstens den erhöhten Instandhaltungsaufwand des Kraftwerkes aufgrund fortschreitender Alterung und Verschleiß, zweitens die schwierige Versorgung des Betriebes mit Ersatzteilen und drittens durch das Verhalten der Kernkraftwerker verursachte Störungen.

Die genauen Umstände des im Sommer 1976 entdeckten Störfalls aufzuklären und einen Verantwortlichen für die Verschmutzung des Stechlinsees zu ermitteln, gelang der Staatssicherheit nicht. Eine Version der Geheimpolizei – zu der sie keinerlei Beweise vorlegen konnte – lautete, Kernkraftwerker hätten vorsätzlich eine angebohrte Steckscheibe im Rohrsystem platzieren und die Rohrleitung gen Stechlinsee öffnen können. Auf diesem Wege hätte der Betrieb einen Teil seiner radioaktiv verschmutzten Wässer an die Umwelt abgeben können. Diese traten im Kraftwerk vermehrt auf, ihre Zwischenlagerung und Aufbereitung waren allerdings nur im begrenzten Umfang möglich gewesen. Kurios mutete das Urteil der Geheimpolizei an, das Einströmen mehrerer hundert Tonnen radioaktiv verschmutzten Wassers hätte keine Verschmutzung des Stechlinsees zur Folge gehabt.[13]

Vom Umweltkreis zum Neuen Forum

Bis zuletzt hinterfragten nur Wenige in der DDR die industrielle Nutzung der Kernenergie. Allen voran Mitglieder der nichtstaatlichen Umweltgruppen im Umfeld der evangelischen Kirche zweifelten daran, dass Kernkraftwerke billigen, sicheren und sauberen Strom produzierten. Seit 1985 gab es auch in unmittelbarer Nähe des Kernkraftwerkes bei Rheinsberg in der Ortschaft Menz einen Umweltkreis bei der evangelischen Kirche. Seine Mitglieder betrachteten die industrielle Kernenergienutzung aus einer kritischen Perspektive jenseits des gesellschaftlichen Mainstreams. Zum Umweltkreis Menz gehörten kaum mehr als zwei Dutzend aktiver Leute unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher sozialer Herkunft.[14]

Der Umweltkreis machte die Kritik an der industriellen Kernenergienutzung beispielsweise anlässlich des „Umweltsonntages“ im Juni 1988 zum Gegenstand seiner Tätigkeit. Damals berichtete der Physiker Sebastian Pflugbeil über den sorglosen Energieverbrauch in den ostdeutschen Privathaushalten, über energieintensive Industriezweige und ineffiziente Kohlekraftwerke in der DDR. Die unverblümte Darstellung von Energiewirtschaft und Umweltproblemen war ungewöhnlich, denn das eine galt als Teil der sakrosankten Politik von Partei und Staat und das andere seit November 1982 als geheime Verschlusssache. Beunruhigt zeigten sich die etwa 80 Zuhörer in Menz, als Sebastian Pflugbeil über das Kernkraftwerk vor ihrer Haustür berichtete. Mit Verweis auf die ständige Abgabe von Radioaktivität an ihre Umgebung widersprach der Physiker dem veröffentlichten Bild von Kernkraftwerken als sauberen Stromproduzenten. Und mit Verweis auf das hohe Alter des Rheinsberger Kraftwerkes forderte er dessen Stilllegung. Ohnehin sah Pflugbeil im Gegensatz zum damaligen Zeitgeist in der DDR die industrielle Nutzung der Kernenergie nicht als Alternative zur massenhaften Verstromung von Braunkohle an. Was Sebastian Pflugbeil im Sommer 1988 in Menz vortrug, war eine Totalkritik an Kernenergiepolitik und Kernenergiewirtschaft in der DDR. Stattdessen regte er einen Perspektivwechsel zu einem sparsamen und effizienten Stromverbrauch sowie zur Stromproduktion aus erneuerbaren Energien an.[15]

Ungeachtet solcher und ähnlicher Kritik formierte sich unter den Vorzeichen der SED-Diktatur weder in Rheinsberg noch in der DDR insgesamt eine politisch wirksame Anti-Kernkraftwerksbewegung. Ende der 1970er Jahre entstand bei der evangelischen Kirche zwar eine Friedensbewegung, die Grundlagen für eine gewissensbezogene Umweltbewegung schuf, die wiederum Ansatzpunkte für Kritik an der industriellen Kernenergienutzung bereitstellte. Politisch unwirksam blieben die ostdeutschen Kritiker und Gegner der Kernkraftwerke jedoch in dem Sinne, dass Politik und Staat bis zuletzt auf den Ausbau der Kernenergiewirtschaft und die Ablösung der Braunkohlenkraftwerke durch Kernkraftwerke setzten. Das hieß nicht, dass Kritiker und Gegner der Kernkraftwerkekeinerlei Wirkung entfalteten. So musste die Staatssicherheit noch im September 1989 konstatieren, dass Anzahl, Engagement, Intensität und Organisationsgrad von ihnen zugenommen hätten. Das war faktisch das Eingeständnis des  geheimpolizeilichen Versagens zu verstehen. Kritiker und Gegner der industriellen Nutzung der Kernenergie drängten faktisch Partei und Staat, das Thema auf die politische Tagesordnung zu setzen. Dafür übten sie basisdemokratisches Verhalten in ihren Gruppen und friedlichen Protest in der Öffentlichkeit, sie praktizierten eine staatlich unabhängige Informations- und Öffentlichkeitsarbeit und sie schufen regionale und landesweite Netzwerke. Die Einstellungen, Verhaltensweisen und Organisationsstrukturen der Kritiker und Gegner der Kernkraftwerkefanden fanden sich nicht zufällig in der friedlichen Revolution 1989/90 wieder: Akteure wie Sebastian Pflugbeil (Ost-Berlin), Erika Drees (Stendal) und Reinhard Dalchow (Menz) brachten sie aus der Erfahrung ihres vorausgegangenen Engagements mit ins Neue Forum ein.[16]


[1] Zur Person 
Sebastian Stude, 1979 in Halle/Saale geboren, studierte bis 2006 Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und an der Humboldt Universität zu Berlin. Verschiedene Veröffentlichungen und Ausstellungen zur deutsch-deutschen Geschichte. Unter anderem Mitarbeiter in der Abteilung Bildung und Forschung beim Bundesbeauftragen für die Stasi-Unterlagen und der Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße Potsdam. Referent für Ausstellungen und Öffentlichkeitsarbeit der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung.

[2] Werner Bräunig: Rummelplatz, Berlin 2009, S. 12.

[3]Dietrich W. Nagel: Atomingenieur in Ostdeutschland, Berlin 2004, S. 93.

[4]Mike Reichert: Kernenergiewirtschaft in der DDR. Entwicklungsbedingungen, konzeptioneller Anspruch und Realisierungsgrad (1955–1990), St. Katharinen 1999, S. 348. Johannes Abele: Kernkraft in der DDR. Zwischen nationaler Industriepolitik und sozialistischer Zusammenarbeit 1963–1990, Dresden 2000, S. 41–44.

[5] Schreiben v. 8.2.1957, BArch, DF 1/859, o. Pag

[6] Schreiben v. 21.1.1957, BArch, DC 20/1428, Bl. 40. Schreiben v. 18.2.1957, ebd., Bl. 42. Schreiben v. 15.2.1957, ebd., Bl. 43–45. Schreiben v. 22.2.1957, BArch, DF 1/859, o. Pag.

[7]Verordnung über das „Naturschutzgebiet Großer Stechlin-, Nehmitz- und Großer Krukowsee“ Preußisches Forstamt Menz, Kreis Neuruppin, in: Amtsblatt der Preußischen Regierung in Potsdam, 23/1938 v. 14. Mai 1938, S. 114.

[8] Max Steenbeck: Energiequelle Atom, in: Die Technik, Heft 9/1958, o. Pag.

[9] Begründung des Standortvorschlages für das Atomkraftwerk I, o. Dat., BArch, DF 1/859, o. Pag.

[10]Karl Böhm/Rolf Dörge: Unsere Welt von Morgen, Ost-Berlin 1961, S. 95f. Max Steenbeck: Voraussetzungen und Aussichten für den Atomkraftwerksbau in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Die Technik, Heft 10/1959, S. 681–686.

[11] Betriebsergebnisse – 24 Jahre Betrieb KKW Rheinsberg, abgedruckt in: Grobkonzept zur Stilllegung des KKW Rheinsberg v. Dezember 1990, EWN KKR, BDA, Restarchiv, o. Sig., o. Pag.

[12]Bericht über Vorkommnis im KKW Rheinsberg v. 18.8.1976, BArch, MfS, BV Pdm, AOP 64/78, Bl. 113.

[13]Operativer Vorgang „Steckscheibe“, BArch, MfS, BV Pdm, AOP 64/78.

[14] Politisch-operative Lageeinschätzung zum Kernkraftwerk Rheinsberg v. 23.9.1987, BArch, MfS, BV Pdm, AKG, Nr. 22, Bl. 34–53.

[15] Einschätzung v. 7.6.1988, BArch, MfS, BV Pdm, KD Gransee, Nr. 196, Bl. 41–45. Schreiben v. 23.6.1988, ebd., Bl. 46–49. O. Tit., o. Dat. [1988], ebd., Bl. 431–435. Bericht v. 6.6.1988, ebd., Bl. 436–437.

[16] Information v. 6.8.1989, BArch, MfS, BV Mbg, KD Stendal, Nr. 735, Bd. 16, Bl. 79–82. OPK „Vertreter“, ebd., KD Gransee, Nr. 196. Bericht über den Stand der politisch-operativen Sicherungsarbeit beim Ausbau der kernenergetischen Basis […] v. 29.9.1981, ebd., HA XVIII, Nr. 21508, Bl. 142–184.

Die Versöhnung von Mensch, Natur und Industrie. Angestellte des Kernkraftwerkes und deren Angehörige verbringen den Sommer in der naturgeschützten Umgebung des Kernkraftwerkes – Maschinenhaus und Reaktorgebäude sind im Hintergrund zu sehen. Aus einer Broschüre anlässlich des fünften Jahrestages zur Inbetriebnahme des KKW Rheinsberg 1971.

Die Blockwarte zur Überwachung und Steuerung des Kernkraftwerkes stand symbolisch für den modernen und sauberen Arbeitsplatz im Kraftwerk, Entsorgungswerk für Nuklearanlagen, Betriebsteil Rheinsberg, Restarchiv.

Ansicht auf das Kernkraftwerk bei Rheinsberg vom Einlaufkanal aus gesehen. Im Vordergrund das Maschinenhaus, im Hintergrund das Reaktorgebäude mit Abluftkamin, Entsorgungswerk für Nuklearanlagen, Betriebsteil Rheinsberg, Restarchiv.

Das Kernkraftwerk Rheinsberg inmitten des Naturschutzgebietes. Unten der Einlauf vom Nehmitzsee, oben Rechts der Auslaufkanal zum Stechlinsee, Entsorgungswerk für Nuklearanlagen, Betriebsteil Rheinsberg, Restarchiv.

Aus der Fotodokumentation des Ministeriums für Staatssicherheit zum Operativen Vorgang „Steckscheibe“, hier die geborstene Steckscheibe durch die eine unbekannte Menge radioaktiv verschmutztes Wasser aus dem Kernkraftwerk in den Stechlinsee abgelassen wurde, BArch, MfS, BV Pdm, AOP 64/78, Bl. 31.
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