von Martin Stief[1]

Dass die DDR zu den größten Umweltsündern in Europa zählte, galt schon in den 1980er-Jahren als offenes Geheimnis. Im Oktober 1980 konnte man im Magazin „Der Spiegel“ zum Beispiel Folgendes lesen: „Wenn die Bürger von Halle an der Saale […] die Fenster öffnen, nehmen ihnen zuweilen beißende Schwaden den Atem. […] Die Saale-Schiffer sehen ihren Fluss streckenweise überhaupt nicht mehr: In Bernburg müssen sie oft genug ihre Fahrt unterbrechen, weil der Schaum aus den Abwässern des Chemiekombinates Buna Wasser und Ufer verbirgt.“[2]

Was für Nachgeborene befremdlich klingt, war in den 1980er-Jahren Alltag im DDR-Chemierevier. Viele Bewohnerinnen und Bewohner konnten anhand des vorherrschenden Geruchs die aktuelle Windrichtung bestimmen und den Verursacherbetrieb benennen. Die Beseitigung des Kohlestaubs gehörte zum Alltag, „[t]rotzdem sind kaum Beschwerden laut geworden“, wusste „Der Spiegel“ zehn Jahre später zu berichten.[3]

In zeitgenössischen Berichten sowie in der Rückschau betonen Beobachter und Beobachterinnen immer wieder eine Diskrepanz zwischen den objektiven Umweltbelastungen und den Reaktionen der Bevölkerung in industriellen Ballungsgebieten der DDR. Bereits im wohl bekanntesten „Umweltroman“ über die DDR, „Flugasche“, schildert Monika Maron ihre Eindrücke von den Bewohnerinnen und Bewohnern Bitterfelds wie folgt: „Und wie die Leute hier Fenster putzen. Jede Woche, jeden Tag am besten. Überall saubere Fenster bei diesem gottserbärmlichen Dreck. […] Die Leute in B. haben sich eingerichtet, haben sich gewöhnt, Einwohner von B. zu sein und vom Dreck berieselt zu werden.“[4]

Die Beschreibung einer Bevölkerung, die sich stillschweigend mit den sie umgebenden Umweltproblemen abgefunden hat, hat sich zu einem Narrativ entwickelt, das lange Zeit unkritisch reproduziert wurde. Zur Erklärung, weshalb der Großteil der Einwohnerschaft sich nicht für Umweltprobleme interessiert habe, werden meist eine Gewöhnung an die lebensweltliche Umwelt, finanzielle und soziale Kompensationen sowie die Geheimhaltung und Vertuschung von Umweltgefahren durch den Staat und die Verursacher ins Feld geführt.[5]

Dieser Wahrnehmung stehen jedoch Einschätzungen des Ministeriums für Staatssicherheit gegenüber, in denen ein konträres Bild gezeichnet wird: So finden sich in Stasi-Berichten Passagen, in denen eine Sensibilisierung breiter Bevölkerungskreise hervorgehoben wird. Die Hauptabteilung XVIII (Überwachung der Volkswirtschaft) schätzte im Hinblick auf die ökologischen Schwerpunktgebiete in der DDR zum Beispiel bereits 1981 ein: „Bei Unterschätzung der dort bestehenden Umweltprobleme durch die staatlichen Organe kann sich aufgrund der bereits jetzt schon erkennbaren Reaktion der Bevölkerung ein unkontrollierbarer Zündstoff herausbilden, der allein mit der bisherigen Argumentation zu derartigen Problemen kaum eingedämmt werden kann.“[6] Im Chemiebezirk Halle kam die Stasi zu ähnlichen Lageeinschätzungen. Die „Einwohner reagierten auf alle Umweltbelastungen äußerst sensibel“[7] hieß es, oder auch die Bevölkerung nehme die „Situation bei der Umweltbelastung […] als nicht mehr zumutbar“ wahr.[8]

Wie sind diese gegensätzlichen Einschätzungen zu erklären? Übertrieb die Stasi an dieser Stelle? Oder nahmen die Geheimpolizisten hier Reaktionen der Bevölkerung wahr, die anderen Beobachtern verborgen blieben? Welche Möglichkeiten gibt es überhaupt, die Wahrnehmung von Umweltproblemen durch die DDR-Bevölkerung zu rekonstruieren? Bevor auf diese Fragen eingegangen wird, soll ein kurzer Blick auf die Geschichte von Stasi und Umweltzerstörung geworfen und die Frage geklärt werden, seit wann und aus welchen Gründen sich die politische Geheimpolizei der SED überhaupt mit Umweltfragen befasste.

Rückblick: Staatssicherheit und Umwelt

Auslöser für das geheimpolizeiliche Interesse an Umweltfragen war der eingangs zitierte „Spiegel“-Artikel aus dem Oktober 1980 mit dem Titel „Schuld ist der Kapitalismus“. Dieser Artikel war der erste größere westliche Medienbeitrag zur Umweltzerstörung in der DDR und wurde von der Stasi sehr ernst genommen. Denn eine ihrer Kernaufgaben war es, die sogenannte politisch-ideologische Diversion, also die vermeintliche psychologische Beeinflussung der eigenen Bevölkerung durch westliche Institutionen zu bekämpfen. Dabei spielten die „Westmedien“ eine herausragende Rolle, denn sie wirkten als Parallelöffentlichkeit in die DDR hinein und beeinträchtigten durch das Aufdecken von Missständen und dem Erzeugen von Aufsehen und Empörung wiederholt die Herrschaftslegitimation der SED.[9]

Die Offiziere der Bezirksverwaltung Halle gingen daher den im „Spiegel“ aufgeführten Umweltskandalen nach, um sie als „forcierte Hetze“ des Feindes zu entlarven. Doch schon nach kurzer Zeit mussten sie einräumen, dass die Situation nicht nur den Tatsachen entsprach, sondern eigentlich noch viel gravierender war als im „Spiegel“ geschildert. Anfang 1981 unterrichtete die BV Halle den Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung Werner Felfe und die Hauptabteilung XVIII des MfS in Berlin, welche nun ihrerseits eine „Erste Bestandsaufnahme zu den bedeutendsten Umweltproblemen in der DDR“ fertigte. Dabei kam sie zu der bereits zitierten Einschätzung, dass sich „ein unkontrollierbarer Zündstoff“ in der Bevölkerungsstimmung herausbilden könne.

Diesen Stasi-Bericht nahm der Ministerrat schließlich zum Anlass, um im November 1982 Umweltdaten weitgehend zu Staatsgeheimnissen zu erklären.[10] Die Geheimhaltung wurde einerseits außenpolitisch begründet, man wollte Diffamierungskampagnen und politische Forderungen des (westlichen) Auslands verhindern. Vor allem lagen den Überlegungen aber innenpolitische Implikationen zugrunde: Es sollte der „Schürung von Umweltängsten“ vorgebeugt werden. Mit anderen Worten, sollten die Umweltprobleme des Landes unter den Teppich gekehrt werden, in der Hoffnung, dass sich das Interesse der Bevölkerung mit der Zeit zerstreuen werde. Das Gegenteil war der Fall, denn es kann gezeigt werden, dass sich die Bevölkerung zunehmend intensiver mit Umweltfragen beschäftigte, was sich nicht zuletzt an den entstehenden kirchlichen Umweltgruppen ab den frühen 1980er-Jahren zeigte.

Reaktion auf Umweltbelastungen

Doch zurück zur Ausgangsfrage: Welche Quellen können zur Rekonstruktion von umweltbezogenen Bevölkerungsstimmungen in der DDR herangezogen werden? Wichtige Quellengruppen, wie z. B. kritische Medienberichte fehlen für die DDR der 1980er-Jahre zwar völlig; doch im Bereich der Meinungsforschung liegen durchaus interessante Studien und Erhebungen des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig vor.

Dieses Institut hat sich ab 1983 dezidiert mit Fragen zum Umweltbewusstsein junger Menschen beschäftigt und kam zu dem Ergebnis, dass die Jugend der DDR ein zunehmend ausgeprägtes Umweltproblembewusstsein besessen und die Reflexion über ökologische Fragen in den 1980er-Jahren stetig an Bedeutung gewonnen habe. Elenor Volprich meint gar, dass die Wahrung des Friedens als drängendste Zukunftsfrage Ende der 1980er-Jahre von der Umweltbewahrung abgelöst worden sei.[11]Laut Thomas Gensicke ging der „revolutionäre Unmut“ im Hinblick auf die „Friedliche Revolution“ hauptsächlich von zwei Lebensbereichen aus: Umweltschutz und Konsumprobleme.[12]

Diese Erkenntnisse sind bemerkenswert, müssen aber ähnlich kritisch bewertet werden, wie die Aussagen zur desinteressierten Bevölkerung. Denn wenn das Umweltbewusstsein so stark ausgeprägt war, wieso resultierten daraus keine sichtbaren Reaktionen oder Aktionen?

Eine Antwort darauf ist, dass häufig die spezifischen Rahmenbedingungen der SED-Diktatur zu wenig berücksichtigt werden. Denn erst vor diesem Hintergrund können signifikante Reaktionsmuster herausgearbeitet bzw. die entsprechenden Quellen befragt werden. Abseits von den in der Forschung umfangreich besprochenen Reaktionsmustern, wie die stillschweigende Hinnahme und der organisierte Protest, also die unabhängigen und kirchlichen Umweltgruppen samt ihrer Aktionen,[13] sollen zwei Handlungsmuster vorgestellt werden, die auf individuelles Handeln abgestellt waren, in der Summe jedoch ein klares Signal an die staatlichen Autoritäten gaben.

Eine Reaktion der Betroffenen war die Abwanderung: Trotz der teilweise gravierenden Arbeits- und Umweltbedingungen in den Chemiekombinaten des Bezirkes Halle finden sich nur äußerst selten Hinweise auf kollektiven Widerspruch oder kollektive Beschwerden seitens der Belegschaften. Berichte der Stasi, wie 1983, als Chloremissionen des Bitterfelder Kombinates zahlreiche Beschwerden nach sich zogen, sind absolute Ausnahmen.[14]Renate Hürtgen erklärt diese „Konfliktarmut“ in den Betrieben mit einem grundlegenden Wandel des Konfliktverhaltens hin zu »individuelle[n], unpolitische[n] und in der Tendenz außerbetriebliche[n] Handlungsstrategien«.[15]

Mit Blick auf unser Umweltthema lässt sich dies auch empirisch belegen: das Umweltministerium machte Anfang der 1980er-Jahre darauf aufmerksam, dass eine „Folge der Belastungen […] eine starke Abwanderung von Arbeitskräften“ sei;[16] die Stasi hatte in ihren ersten Einschätzungen ebenfalls konstatiert, dass Beschäftigte aufgrund von Schadstoffbelastungen vermehrt kündigten. Auch das „Zentrum für Umweltgestaltung“ hatte im Jahr 1982 informiert, dass die Bevölkerungszahl im Chemiebezirk zwischen 1975 und 1981 um 3 Prozent zurückgegangen war – im Kreis Bitterfeld lag der Rückgang sogar bei 6 Prozent. Und als Grund wurde festgehalten: „Die Abwanderungstendenzen haben eine wesentliche Ursache in der schlechten Umweltsituation. So bestehen in den Kreisen Bitterfeld, Merseburg und Stadtkreis Halle erwiesene Zusammenhänge zwischen der hohen Abwanderungsquote und dem negativen Umweltzustand.“[17] Untersuchungen des Zentralinstituts für Jugendforschung bestätigten ebenfalls einen Zusammenhang von Umweltbelastungen und Wohnwortwechsel: So war für fast ein Viertel aller Jugendlichen, die den Bezirk Halle verlassen hatten, die „Umweltverschmutzung das entscheidende Motiv“.[18] Auch Befragungen in den Chemiekombinaten ergaben, wie 1984 in den Buna-Werken, dass für die Kündigungen von Mitarbeitern „in erster Linie die Umweltprobleme“ ursächlich waren.[19]

Die Menschen im Chemierevier suchten im Hinblick auf die Umweltbelastungen aber nicht nur die Flucht – oder wie es Albert O. Hirschmann bezeichnen würde, die „exit-Option“, sondern sie nutzen auch die „voice-Option“also die Kritik bzw. den Widerspruch.[20] Und dazu bedienten sie sich eines legalen Instrumentes – nämlich der Eingabe. Eingaben sind eine Quelle von hohem historischem Wert, wurden aber in der Forschung lange Zeit ausgeblendet, ebenso wie die individuelle Reaktion der Abwanderung. Und dies ist ein wichtiges Indiz für die unterschiedliche Wahrnehmung der Bevölkerungsreaktion: Während die Staats- und Sicherheitsorgane quasi täglich mit Eingaben und Beschwerden konfrontiert wurden, blieb dieser Umstand, außenstehenden Beobachterinnen und Beobachtern weitgehend verschlossen und verstärkte den Eindruck einer ignoranten bzw. stillschweigenden Mehrheitsbevölkerung.

Dabei zeigt bereits ein Blick auf das Eingabeaufkommen eine bemerkenswerte Entwicklung. Bis Anfang der 1980er-Jahre liefen im Umweltministerium etwa 400 Eingaben zu Umweltproblem im Jahr auf, 1987/88 hatte sich das Aufkommen bereits verdoppelt und hätte 1989 einen erneuten Höhepunkt erreicht, denn bereits im ersten Halbjahr waren fast 800 Eingaben gezählt worden. Das Umweltministerium war aber nur ein Empfänger von vielen. Allein im Chemiekombinat Bitterfeld liefen zur selben Zeit an die 800 Beschwerden pro Jahr auf, während es in den 1970er-Jahren „nur“ um die 400 waren. Auch die staatlichen Organe im Bezirk Halle zählten in den 1980er-Jahren etwa drei Mal soviele Eingaben zu Umweltproblemen wie das Umweltministerium. Ohne dies an dieser Stelle eingehend darlegen zu können,[21] ist festzustellen, dass Eingaben zu Umweltproblemen in den 1980er-Jahren dynamisch zunahmen – wenngleich sie nie auch nur annähernd das Niveau von Eingaben erreichten, die sich mit Wohnraum-, Ausreise- und Versorgungsfragen befassten.

Auffallend ist der Wandel der angegebenen Gründe der Beschwerdeschreiben: Bis in die späten 1970er-Jahre beklagten sich die Menschen in der Regel immer dann, wenn Belastungen infolge von Unfällen, abgeschalteten Filteranlagen oder Havarien besonders extrem ausgefallen waren. In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre änderte sich dies dahingehend, dass nun zunehmend die schlechte Gesamtsituation bemängelt wurde und vor allem die staatlichen und politischen Instanzen in den Fokus rückten.

Funktionäre der Hygieneinspektionen, der Umweltinspektionen der Abteilungen für Umweltschutz und Wasserwirtschaft wurden nun gefragt, ob Emissionen gemessen würden und welche Umweltschutzmaßnahmen geplant seien. Ein Bewohner beklagte im März 1984 die allgemein schlechte Umweltsituation in Halle, aber insbesondere die durch Buna verursachten Belastungen. Ein neuer Schornstein der Karbidfabrik hatte zur Folge, dass es „zum Himmel stinkt“. Er forderte aber nicht, dass diese Anlage stillgelegt wird, sondern er wollte Auskunft zum Verhalten der staatlichen Institutionen: „War bei[m] Bau keine Filteranlage vorgesehen?“ Wie verträgt sich der „Ausstoß der beiden Abgasschlote“ mit den „doch sicherlich vorhandenen Emissions-Grenzwerten“? Die Antworten auf seine Fragen empfand der Petent als überaus unbefriedigend und erwiderte in einem Antwortschreiben: Nach „23 Jahren Geduld, Glaube und Hoffnung“ ist es von „Ihnen als Volksvertreter“ nicht zu viel verlangt, dass konkrete Maßnahmen zur Verringerung der Luftverschmutzung ergriffen werden.[22]

Ein anderer Bürger Halles fragte im März 1987, ob die „Erfüllung der Pläne wichtiger als die Gesundheit der Bevölkerung“ sei. Beim Rat der Stadt Halle sei ihm mitgeteilt worden, dass Schadstoffmesswerte „geheim gehalten“ werden. Er frage sich, warum das so gehandhabt würde. Schließlich seien ja die Bürger die „Betroffenen“. Nach einer Aussprache beim Rat des Bezirkes, notierte der zuständige Mitarbeiter der Umweltabteilung anschließend, dass dem Bürger erklärt wurde, „dass allein sein geringes Verständnis zu den Fragen der Luftreinhaltung Anlass ist, ihm keine Werte mitzuteilen.“[23]

Zu dieser Zeit zeigte sich immer deutlicher, dass die Vertuschung und Geheimhaltung kritische Diskussionen nicht im Keim erstickten, sondern kritische Diskussionen beförderte. Die Stasi stellte 1985 fest, dass durch die Geheimhaltungsanordnung die „Glaubwürdigkeit der Staatsorgane leidet“. Umweltminister Hans Reichelt unternahm in diesem Wissen zwar wiederholt Vorstöße, SED-Wirtschaftssekretär Günter Mittag davon zu überzeugen, die Sprachlosigkeit in Umweltfragen zu beenden, jedoch ohne Erfolg. Auch in anderen staatlichen Organen und im Sicherheitsapparat reifte die Einsicht, dass es größerer umweltpolitischer Anstrengungen bedürfe. Der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Halle Alfred Kolodniak schrieb im Februar 1989 an die Vorsitzenden der Kreisräte: „Die Diskussion unserer Bürger zur Umweltpolitik im Bezirk Halle nimmt zu!“ Und verlangte, dass sich alle Kandidaten eingehend über regionale Umweltprobleme informieren, zeitnah entsprechende Beschlüsse fassen sowie auf deren „abstrichlose Verwirklichung und Umsetzung“ hinwirken sollten.[24] In Anbetracht der Fülle der Herausforderungen und Probleme der späten Jahre der DDR ist es bemerkenswert, dass der Ratsvorsitzende explizit auf die Lösung von Umweltproblemen drängte. Doch dieser Vorstoß kam ebenso zu spät, wie der offenere Umgang mit Umweltdaten. Zwar arbeiteten Umweltministerium und die Staatssicherheit schon ab Sommer 1988 an einer Liberalisierung der Geheimhaltung, doch der Beschluss folgte erst im November 1989 – als der Umweltschutz bereits zu einer Forderung der Friedlichen Revolution geworden war.

Schluss

Wer Umweltsensibilität oder Umweltbewusstsein nur an organisierten Protesthandlungen misst, wird im ehemaligen SED-Staat kaum fündig werden. Die Mehrheit der Ostdeutschen scheute im repressiven System der DDR eine offene Austragung von Konflikten und suchte nach individuellen Auswegen, die sie in Abwanderung und Eingaben fand. Es wurde gemeckert, aber kein kollektiver Protest organisiert. Und wenn die Lage unerträglich wurde, versuchte man Arbeitsstelle oder Wohnort zu wechseln. Auf diese individuellen, aber in ihrer Summe spürbaren Entscheidungen reagierte die SED-Führung weitgehend mit Ignoranz und nahm nicht wahr, wie ihr Verhalten zur schleichenden Politisierung der Umweltfrage beitrug.

Am 20. Oktober 1989 sprach Umweltminister Reichelt mit einem Offizier der Staatssicherheit und führte aus, dass bei den Massenprotesten in der DDR „mit hoher Sicherheit mehrere 10 000 Bürger aus ökologischen Gründen dabei“ seien[25] und auf den Leipziger Montagsdemonstrationen sollen überdurchschnittlich häufig Plakate mit umweltpolitischen Forderungen gezählt worden sein.[26] Auch im Chemiedreieck der DDR, Halle, Merseburg und Bitterfeld, wurde im Zuge der „Friedlichen Revolution“ die Offenlegung von Umweltdaten gefordert, in Merseburg fand im Januar 1990 sogar eine Umweltdemonstration statt, an der etwa 8 000 Menschen teilnahmen. Auf einem mitgeführten Plakat war zu lesen „Ein Volk kann man betrügen – die Natur nicht“. Diese geradezu banale Feststellung bringt nicht nur das umweltpolitische Versagen des SED-Staates prägnant auf den Punkt, sondern verweist ganz allgemein auf ein Grundproblem der späten SED-Herrschaft: Die Bürgerinnen und Bürger störten sich nicht nur an den vielen offenkundigen Problemen des Landes, sondern vor allem an der Ignoranz der politischen Führung und der Staatsorgane. Das Leugnen von Schieflagen, das zynische Kleinreden von Gefahren und der oftmals autoritäre und überhebliche Umgang mit den Ängsten und Sorgen der Menschen waren es, welche die führende Partei, die ihren Herrschaftsanspruch wesentlich auf die Gewährleistung von Fürsorge und Sicherheit gründete, delegitimierten.

 

 


[1]

[2] Schuld ist der Kapitalismus. In: Der Spiegel 41/1980.

[3] Kohl, Christiane: Die Leute werden dun im Kopf. »Spiegel«-Report über Bitterfeld, die dreckigste Stadt Europas. In: Der Spiegel 2/90.

[4] Maron, Monika: Flugasche. 20. Aufl., Frankfurt/M. 2009 [Erstausgabe 1981], S. 16 u. 34.

[5] Beleites, Michael: Konspirative Abschirmung der Umweltschäden durch die SED-Führung und das Ministerium für Staatssicherheit und die Versuche zur Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit. In: Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit«, Bd. III/2, Deutscher Bundestag (13. Wahlperiode). Baden-Baden 1999, S. 1585–1622; Dix, Andreas; Gudermann, Rita: Naturschutz in der DDR: Idealisiert, ideologisiert, instrumentalisiert? In: Frohn, Hans-Werner; Schmoll, Friedemann (Berarb.): Natur und Staat. Staatlicher Naturschutz in Deutschland 1906–2006, hg. v. Bundesamt für Naturschutz. Bonn 2006, S. 535–624; Hegewald, Helmar; Schwenk, Herbert: Umweltkrisenbewusstsein ehemaliger DDR-Bewohner. In: Utopie kreativ 6/1991, S. 80–86; Knabe, Hubertus: Umweltkonflikte im Sozialismus. Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher Problemartikulation in sozialistischen Systemen. Eine vergleichende Analyse der Umweltdiskussion in der DDR und Ungarn. Köln 1993., S. 260 ff.

[6] HA XVIII: Erste Bestandsaufnahme zu den bedeutendsten Umweltproblemen in der

DDR (nach Medien, Territorien, institutionellen Einrichtungen, grenzüberschreitenden Problemen

und bereits erkannten Aktivitäten feindlich-negativer bzw. oppositioneller Kräfte), o. D.

[April 1981]; Bundesarchiv (BArch), MfS, HA XVIII Nr. 19276, Bl. 69–96, hier 76.

[7] BV Halle: Einschätzung der operativen Lage und der Wirksamkeit der politisch-operativen

Sicherungsmaßnahmen auf dem Gebiet des Umweltschutzes v. 12.10.1989; BArch, MfS, BV Halle,

Abt. XX Nr. 1989, Bl. 1–22, hier 11.

[8] BV Halle: Einschätzung des aktuellen Stimmungsbildes unter breiten Teilen der Bevölkerung

des Kreises Merseburg v. 3.3.1988; BArch, MfS, BV Halle, Abt. XX Nr. 2727, Bl. 2.

[9] Sabrow, Martin: Die Wiedergeburt des klassischen Skandals. Öffentliche Empörung in der späten Diktatur. In: ders. (Hg.): Skandal und Diktatur. Formen öffentlicher Empörung im NS-Staat und in der DDR. Göttingen 2004, S. 231–265.

[10] Ausführlich hierzu Stief, Martin: „Stellt die Bürger ruhig“. Staatssicherheit und Umweltzerstörung im Chemierevier Halle-Bitterfeld. Göttingen 2019, S. 96–106.

[11] Volprich, Elenor: Umweltbewusstsein von Technikstudenten im Kontext der Wende. In: Schlegel, Uta; Förster, Peter (Hg.): Ostdeutsche Jugendliche. Vom DDR-Bürger zum Bundesbürger. Opladen 1997, S. 293–302, hier 293.

[12] Gensicke, Thomas: Mentalitätsentwicklungen im Osten Deutschlands seit den 70er Jahren. Vorstellung und Erläuterung von Ergebnissen einiger empirischer Untersuchungen in der DDR und in den neuen Bundesländern von 1977 bis 1991. Speyer 1992, S. 46.

[13] Vgl. bspw. Beleites, Michael: Dicke Luft. Zwischen Ruß und Revolte. Die unabhängige Umweltbewegung in der DDR. Leipzig 2016

[14] Vgl. Diskussionen zu zunehmenden Schadstoffbelastungen des Raumes Bitterfeld/Wolfen durch den VEB CKB v. 7.9.1983; BArch, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 610, Bl. 323–329.

[15] Vgl. Hürtgen, Renate: Der DDR-Betrieb als konflikt- und herrschaftsfreie Zone? Zum Konfliktverhalten

von Arbeitern in den siebziger und achtziger Jahren. In: Rupieper, Hermann-Josef; Sattler, Friederike; Wagner-Kyora, Georg (Hg.): Die mitteldeutsche Chemieindustrie und ihre Arbeiter im 20. Jahrhundert. Halle 2005, S. 259–285.

[16] MfUW: Maßnahmen zur Verbesserung der Materialökonomie, zur Abwendung von Havariegefahren, zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Werktätigen, zur Sicherung der Nutzungsfähigkeit der Naturressourcen und zur weiteren Entwicklung der Produktion im Raum Bitterfeld, o. D. [1981]; BArch, DK 5, Nr. 1132, n. p., S. 4.

[17] ZfU, Wittenberg: »Entwicklung der Umweltbedingungen in der DDR 1986–1990 und in den Grundzügen bis 2000 sowie Entscheidungsvorschläge für eine hohe Effektivität der Volkswirtschaft und Sicherung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Bevölkerung«, Oktober 1982; BArch, DK 5, Nr. 2152, n. p.

[18] Kasek, Leonhard: Zum Ökologiebewusstsein junger Werktätiger und Studenten, Leipzig Juni 1983, (unveröffentlicht), S. 8 f.

[19] Direktion Kader und Bildung, Kombinat Buna: Analyse der Arbeitskräftebewegung im Stammbetrieb, per 31.12.1981; (Landesarchiv Sachsen-Anhalt) LASA, Abteilung Merseburg (Mer), I 529, Buna II, Nr. 3379, n. p.

[20] Vgl. Hirschman, Albert O.: Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Essay zur konzeptuellen Geschichte. In: Leviathan 3/1992, S. 330–358, hier 353 ff.

[21] Ausführlich hierzu: Stief, Martin: „Stellt die Bürger ruhig“. Staatssicherheit und Umweltzerstörung im Chemierevier Halle-Bitterfeld. Göttingen 2019, S. 230–242.

[22] Eingabe an Rat des Bezirkes Halle, Abt. Umweltschutz v. 20.3.1984; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6584, n. p.

[23] »Kurze Notiz über das Ergebnis«, auf Vordruck: Bearbeitungsauftrag zur Erledigung der umstehenden Eingabe v. 31.3.1987; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6586, n. p.

[24] Schreiben des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Halle, Alfred Kolodniak, an die Vorsitzenden der Räte der Kreise v. 6.2.1989; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6572, Bl. 486 f.

[25] Information zu einem Gespräch mit Dr. Reichelt (Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft) zur weiteren offensiven Strategie auf dem Gebiet des Umweltschutzes vom 20.10.1989; BArch, MfS, ZAIG Nr. 19791, Bl. 1 f.

[26] Vgl. Leipziger Demontagebuch, zusammengestellt und mit einer Chronik von Wolfgang Schneider. Leipzig 41992.