Bewährung in der sozialistischen Produktion

Von Peter Neumann[1]

”Betr.: Exmatrikulation”, stand über einem Schreiben vom stellvertretenden Direktor der Ingenieurschule für Maschinenbau und Elektronik Berlin, welches mir am 12. September 1979 zugeleitet wurde. In dem Schreiben teilte mir der stellvertretende Direktor Dr. Haase mit, dass gegen mich „wegen Verstoßes gegen die Studiendisziplin“ ein Verfahren beantragt wurde.  „Dieses Verfahren wurde durchgeführt und endete mit der Exmatrikulation die ich (Dr. Haase) zum 30.07.1979 ausspreche.“

Mein Verstoß gegen die Studiendisziplin bestand in der Weigerung, mich am Juni 1979 als Ordner der Freien Deutschen Jugend (FDJ) zur Absicherung des „Nationalen Jugendfestivals“ kasernieren zu lassen. Die Tatsache, dass ich gerade Vater geworden war, interessierte dabei niemanden, genauso wenig wie mein Hinweis, dass die 18-monatige Kasernierung im Rahmen meines Grundwehrdienstes als Kasernierungserfahrung ausreichen würden.

Bewährung in der sozialistischen Produktion

Mein Widerspruch wurde verbal abgewiesen. Eine sogenannte „Bewährung in der sozialistischen Produktion“ wurde mir auf unbefristete Zeit, d.h. bis zum Ende der DDR verordnet. Arbeitskräfte wurden in der DDR überall gesucht und so fand ich mich nach einer kurzen Anstellung bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG), im Wohnungsbaukombinates Berlin wieder. In der Instandhaltungsbrigade des Betonwerkes Gehrenseestraße musste ich nunmehr diverse Reparaturen an dem schnell verschleißenden Betonplattenwerk durchführen.

Kellerbibliothek

Da mich diese Bewährungsaufgaben nicht sonderlich ausfüllten, meldete ich mich bei der Betriebsgewerkschaftsleitung, die jemanden gesucht haben, der im Rahmen seiner Arbeitszeit die Ausleihe von Bücher an die lesenden DDR Arbeiter*innen organisieren sollte. Nachdem ich unseren Gewerkschaftsvorsitzenden davon überzeugt hatte, dass die Bände von Marx, Engels und Lenin nicht auf große Nachfrage stoßen wird, habe ich mit der damaligen Stadtbezirksbibliothek eine Zusammenarbeit vereinbart, die es mir ermöglichte etwa 1000 Bücher für längere Zeit auszuleihen.

Durch die gute Zusammenarbeit mit der Stadtbibliothek ist es gelungen, regelmäßig auch gesellschaftskritische Bücher, in der Ausleihe zu haben, die als sogenannte „Bückware“ nur schwer zu bekommen waren.

Dadurch hatte die kleine Betriebsbibliothek im Keller des Verwaltungsgebäudes schnell guten Zulauf.

Umweltregal

Da man die öffentlich sichtbaren Umweltschäden, etwa in den Wäldern (siehe meine beiden alten Wandzeitungsfotos- Fotos) oder in den Betonwerken der DDR nicht lange suchen musste, begann ich damit, kritische Umweltthemen in der Betriebsbibliothek anzubieten, damit die potentiellen Leser*innen sich mit den Unterschieden zwischen gesetzlichen Vorgaben der DDR und der Realität in unserem Betonwerk auseinandersetzen konnten. 

Auch in der DDR war es gesetzlich verboten Altöl ins Grundwasser zu schütten oder Energie, etwa als Dampf, wegen fehlender Dichtungen und Schläuche in die Umwelt zu blasen. Aufgrund des erkennbaren Interesses habe ich dann neben der Belletristik zunehmend kritisches Material zu Umweltfragen zusammengetragen und in einem separaten Regal gut sichtbar platziert. Mittlerweile habe ich auch von der Umweltbibliothek an der Zionskirche erfahren, von der ich neben den Büchern aus der Stadtbibliothek nun weitere, nicht leicht zugängliche Informationen in der kleinen Betriebsbibliothek zur Verfügung stellte.

Glasnost und Perestroika

Im „Sputnik“ und in der „Neuen Zeit“ wurden Michail Gorbatschows Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) ausgiebig beschrieben, sodass die Nachfrage nach diesen sowjetischen Zeitschriften so stark anstieg, dass sie in unserer kleinen Kellerbibliothek nur wochenweise verliehen wurden. Nachdem im Novemberheft 1988 ein Artikel über den in der DDR geleugneten Hitler-Stalin-Pakt erschien, verboten die SED-Bonzen die Sputnik-Hefte.  Über Freunde gelang es vereinzelte Hefte aus Westberlin zu bekommen und diese in unserer Kellerbibliothek weiter zu verteilen. Wegen der starken Nachfrage war die Lesezeit auf ein bis zwei Tage begrenzt.

Umweltgruppe „Grüner Baum“

Die kleine Bibliothek wurde schnell zu einem Ort, an dem viel und vergleichsweise offen diskutiert wurde. Es war offensichtlich, dass viele Menschen zunehmend mit der verkrusteten Entwicklung in der DDR unzufrieden waren und Veränderungen anstrebten. An der Abschaffung der DDR war zu diesem Zeitpunkt in unserem Betonwerk niemand interessiert, aber wir wollten uns beteiligen und Verbesserungen erreichen.

Im November 1988 gründete ich in der Bibliothek eine kleine Umweltgruppe, die das Ziel verfolgte die offensichtlichen Umweltvergehen zu benennen und Vorschläge zur Behebung zu erarbeiten. Die Partei- und Werksleitung haben wir von unseren Aktivitäten in Kenntnis gesetzt und die Einhaltung der Umweltgesetze der DDR als Ziel genannt.

So haben wir in zusätzlicher freiwilliger Arbeit einen Müllplatz vor dem Betriebsgelände aufgeräumt und etwa 60 Lärchen gepflanzt, die dort wachsen konnten, bis sie 1994, nach der Übernahme durch ein westliches Bauunternehmen, einem Parkplatz für die verbliebenen Mitarbeiter*innen weichen mussten.

Weiterhin haben wir einen Batteriesammelpunkt am Pförtnerhaus eingerichtet, wo alle Mitarbeiter*innen ihre privaten Batterien abgeben konnten, die ich  zur Altstoffsammelstelle brachte. Aber selbst damit war das DDR-Recyclingsystem überfordert. Die reichlich gesammelten Batterien habe ich in meiner Nachbarschaft in der Altstoffsammelstelle abgegeben und musste feststellen, dass die gesammelten Batterien in den Müllcontainer vor dem Haus geschüttet wurden. Erst wollte ich es nicht glauben und habe unsere Batterien gekennzeichnet. Als dann auch die eindeutig gekennzeichneten Batterien im Müllcontainer  gelandet waren habe ich diesen absurden Prozess fotografiert und an der grünen Wandzeitung veröffentlicht.

Die grüne Wandzeitung

Wie in allen DDR Betrieben gab es auch in unserem großen Betriebsspeisespeisesaal den üblichen Wandschmuck. An der Stirnseite lächelten uns Erich Honecker und zwei weitere Genossen an und gegenüber hing eine rote Wandzeitung für Mitteilungen der Partei und eine blaue Wandzeitung für Mitteilungen der FDJ. An beiden Wandzeitungen hingen ein paar vergilbte Aushänge, die niemanden interessierten.

Um diese Trostlosigkeit zu verringern kam ich auf die Idee, als Dritte, eine grüne Wandzeitung anzubringen, die auch Platz für Meinungsäußerungen ließ. Da die Wandzeitung anfangs nur einige Einladungen zur Beteiligung an unsere Umweltmaßnahmen, sowie Auszüge aus dem Umweltgesetz der DDR enthielt, wurde sie seitens der Werk- und Parteileitung zunächst akzeptiert.

Allerdings entwickelten sich die Inhalte und die Gestaltung der grünen Wandzeitung schnell und das Interesse nahm deutlich zu. Für viele *wurde es zur Routine, vor der Essensausgabe einen Blick auf die  neue Wandzeitung zu werfen. Häufig bildeten sich Trauben von Interessierten vor den teilweise handschriftlich verfassten Artikeln, während die blaue und die rote Wandzeitung weiterhin unbeachtet blieben.

Staatliche Umweltinspektion

Ende 1985 wurde die Staatliche Umweltinspektion gegründet. Sie hatte das Ziel, die Kontrolle und Einhaltung der gesetzlichen Regelungen der Luft, der Gewässer und des Bodens zu gewährleisten. Die staatliche Umweltinspektion konnte Auflagen an die Betriebe erteilen und sollte diese auch mit Ordnungsstrafen gegen leitende Mitarbeiter*innen durchsetzen.

Zur Erreichung einer höheren Wirksamkeit und zur Absicherung meiner Umweltaktivitäten im Betonwerk meldete ich mich Anfang 1989 als „ehrenamtlicher Inspektor“ in dieser staatlichen Stelle.

Die Stasi zeigt Interesse

Natürlich gab es auch in unserem Betonwerk die kleinen Zuträger und Spitzel, die es jedoch nicht allzu schwer hatten, da wir ja (fast) alles öffentlich gestalteten. Zu diesem Zeitpunkt trug ich das Bildnis Gorbatschow’s und einen Sowjetstern am Revers. Wir suchten ja das Gespräch und die Auseinandersetzung über die offensichtlichen Probleme.

 

In meine Stasi- Akte konnte ich in einem Spitzelbericht vom 23. Februar 1989 lesen: „Der Koll. Neumann ist mir erst bekannt geworden, indem er Mitglied und Leiter einer sogenannten Umweltgruppe im Betonwerk - Oktober / November 1988 gegründet -  wurde.

In dieser Gruppe engagierte er sich besonders stark und schoss zeitweilig über die Zielstellung hinaus. Durch ihn persönlich wurde im Speisesaal eine Wandzeitung ausgehängt, die mit Artikeln und sonstigem Schriftgut mehrmals behängt wurde. Darunter waren auch Artikel zur Problematik-Sputnik, Umwelt bzw. Gorbatschow’s Handeln - dokumentiert, die auch zeitweilig durch die Partei- und Werkleitung entfernt werden mussten…

IM- Vorlauf „Mischer“

Da meine verschiedenen Aktivitäten der Stasi nicht entgangen waren, entwickelten die MfS- Hauptmänner Heger und Splettstößer noch im Oktober 1989 den Plan mich als informellen Mitarbeiter für das MfS zu gewinnen, oder mich zu disziplinieren. Aufgrund meiner damaligen Tätigkeit im Betonwerk führten mich die phantasievollen Genossen im sogenannten IM-Vorlauf  als „Mischer“ auf und bereiteten eine Kontaktaufnahme vor. Den Aktennotizen zu Folge entwickelten die MfS-Offiziere eine sogenannte operative Kombination zur Kontaktaufnahme.

 Auszüge aus der Aktennotiz vom 25.10.1989

„Die Zielstellung der operativen Kombination besteht darin, durch offensives und konspiratives Vorgehen einen dauerhaften und ausbaufähigen inoffiziellen Kontakt zum IM-V herzustellen, ohne dass die wahren Absichten für die Kontaktperson erkennbar sind.“

 

„Folgende Maßnahmen werden vorgeschlagen:

Ausgangspunkt bildet ein anonymer Brief an den Leiter der Staatlichen Umweltinspektion Berlin, in dem der IM-V [also ich] in massiver Art und Weise verleumdet wird.

Als Reaktion des Leiters der Staatliche Umweltinspektion ( IMK-Vorlauf „Park“ zuverlässig, standhaft, verschwiegen) ist eine Information an das MfS zu erwarten.“

Infolge dieser Information wollten die MfS-Offiziere im Gebäude der Staatlichen Umweltinspektion ein Gespräch zur Aufklärung des von Ihnen selbst herbeigeführten Sachverhaltes, dem anonymen Brief, führen. Im Anschluss daran sollte ein separates „Kontaktgespräch“ mit mir folgen.

 

Für dieses sogenannte Kontaktgespräch bereiteten sie nachfolgende Schwerpunkte vor:

Zuerst sollte mir Vertrauen entgegengebracht werden, indem das MfS mich als engagierten und real denkenden Menschen eingeschätzt hätte.

„- Gesprächsführung ist so zu gestalten, dass alle Gedankengänge und Überlegungen in Richtung eines Angriffs auf seine Person gehen“.

Allerdings hatten die Genossen auch den Plan B gedacht und für den Fall, dass ich nicht kooperiere, wollten sie den fabrizierten anonymen Brief als Provokation umfunktionieren. 

„Bei Notwendigkeit kann der anonyme Brief als eine Provokation durch ihn oder andere gerichtet gegen das MfS (siehe aktuelle Lage), gewertet werden.“

Weiterhin hatten die Genossen für ihre „operative Kombination“ festgelegt:

Die Kontrolle der Reaktion auf die Kontaktaufnahme erfolgt durch den Einsatz der KP Schmidt und IM der Hauptabteilung VIII/ 13.

Der anonyme Brief wird handschriftlich verfasst und über Briefkasten in der Nähe Bhf. Friedrichstr. abgeschickt.“

Wer zu spät kommt den bestraft das Leben

Glücklicherweise haben die politischen Ereignisse diese Operation eingeholt  mir ist sowohl der anonyme Brief als auch das geplante Treffen mit den MfS-Offizieren erspart geblieben.


[1] Peter Neumann, 1955 in Berlin geboren. Er gründete 1988 die Umweltgruppe „Grüner Baum“, war im Mai 1989 als Wahlbeobachter beteiligt und trat im selben Jahr dem „Neuen Forum“ bei. 1990 leitete er die Operativgruppe zur Stasi-Auflösung in Berlin. Dach Beteiligung an der Projektgruppe „Auflösung des MfS, Erarbeitung einer Sicherheitskonzeption“ und Mitbegründer des Veriens „Kinder von Tschernobyl“. Von 1994 bis 2018 in der Jugendsozialarbeit in Berlin tätig.