Umwelt- und Umweltbewegung in der DDR

Ein Beispiel zu den Auswirkungen des Westmülls auf Lebensbereiche in der DDR - Schadstoffdeponie Vorketzin

von Marlies Oettel

Diese Anfrage zu einem Artikel versetzte mich in die turbulenten Zeiten vor mehr als 30 Jahren zurück, die mich von einer unbedarften, zufriedenen Bewohnerin der DDR zu einer wütenden Kämpferin für die Umwelt gemacht haben - ja, ich möchte sagen, die mich aus meinem Dornröschenschlaf geweckt haben.

Es brodelte in Berlin, in Potsdam, in der DDR, aber bis Ketzin reichte der Kochkessel nicht. Man nahm die Unzufriedenheit, die Demonstrationen auf dem Alexanderplatz über den Gott sei Dank zu empfangenden Kanal des Westfernsehens wahr, aber es fehlte das Gesamtverständnis. Das, was unser Ketzin berührte, war die Deponie Vorketzin, die für die Ablagerung von „Westmüll“, d.h. von Haus- und Gewerbemüll ausschließlich aus Westberlin, betrieben wurde.

Meine besondere Beziehung zu dieser Deponie war, dass ich in ihrer unmittelbaren Nähe, deren Fuß in das Wasser des „Bruchgebietes“ der Kliem-Siedlung ragte, ein Grundstück hatte, das aus einer Landzunge inmitten von Seen und Kanälen einer ehemaligen Tonabbau-Landschaft bestand. Eine Angelhütte auf dieser Halbinsel war der Sommerrückzug. Man konnte mit dem Kahn zu dieser Deponie rudern und von der Deponie Hölzer, Metallteile und Westzeitschriften einsammeln. Natürlich heimlich, denn das Gelände war bewacht, aber die Wasserseite war eben noch relativ durchlässig. Es gab Gerüchte, dass auf der Deponie Flüssigschlämme, Fässer, stinkendes Zeug abgekippt bzw. vergraben wurden, aber es hatte uns nicht zu interessieren und es war ja regierungsseitig alles geregelt.

Hintergrund:

Westberlin hatte keine Möglichkeit, den Haus- und Industriemüll abzulagern, denn die einzige Deponie Wannsee war voll. Sie grenzte an den Griebnitzsee, wohin die Sickerwässer austraten. Wie ich später erfuhr, gab es schon seit längerer Zeit Messungen für Deponiegase und Sickerwässer im Grenzbereich des Griebnitzsees, mit beachtlichen Werten. Zur Sicherheit wurde der Schilfgürtel erweitert, um die Sickerwässer biologisch zu neutralisieren. Eine Sicherung wie man diese heute kennt, war zu dieser Zeit nicht Standard.

Es gab Verträge der Westberliner Seite mit Organisationen im Auftrag der Regierung der DDR, gesteuert über die Kommerzielle Koordinierung, kurz KoKo (Schalck-Golodkowski) und die Bezirksverwaltung Potsdam, um den Westberliner Müll in Schöneiche oder Vorketzin abzulagern.

Frühjahr 1989:

Diskussionen, Versammlungen, Demonstrationen, man horcht auf: zu dieser Zeit leitete ich eine Arbeitsgemeinschaft einer 9.Klasse für Ökologie. Wir wagten uns an das Verbotene: Startpunkt unserer Untersuchungen war das Grundstück in der Nähe der Deponie im „Landschaftsschutzgebiet“ - von hier aus fuhren wir mit Booten an den Deponiefuß, machten Messungen im Wasser mit dem Ergebnis, dass es Bereiche mit verminderter Sichttiefe und geändertem pH-Wert gab. Wir pirschten am Rand der Deponie umher und beobachteten die LKW mit dem Müll, den diese auf der Fläche bzw. auch in vorbereitete Gruben abkippten.

Die Ergebnisse gestalteten wir als Wandzeitungen, was als Folge hatte, dass diese natürlich verboten wurden.

Aber es brodelte auch in der Bevölkerung von Ketzin, denn die täglich bis zu 50 LKWs, die durch Ketzin donnerten, waren uns zu viel.

Ich weiß heute nicht mehr, woher wir den Mut hatten, eine Bürgerinitiative zu gründen. Aber es bedarf immer Menschen, die Halt geben und etwas anstoßen. So gab es in Ketzin den Leiter des Jugendklubs, Herrn Wendel. Er forderte, dass wir uns das nicht gefallen lassen sollen und machte mich zur Sprecherin der Bürgerinitiative gegen den Westberliner Müll.

Es wurde eine Versammlung auf der Ketziner Freilichtbühne ausgerufen. 4.000 Leute waren anwesend, wobei Ketzin nur 4.000 Einwohner hatte. Alles, was ich in Erfahrung bringen konnte, wurde voller Wut herausgeschrien und mündete in der Forderung: Lasst uns ins Rathaus gehen und unsere „Stadt Groß Väter“ absetzen. Der Jubel bestätigte meine Forderung und am nächsten Tag nahmen die Stadtverordneten ihre Sachen und die Bürgerinitiative übernahm die Verantwortung. Das war etwa zwei Wochen vor dem 09.11.1989.

Nachfolgend wurden die Müllfahrzeuge aus Westberlin blockiert - eine Demonstration vor der Schlange der Müllfahrzeuge zog sich bis zur Deponie - Westberlin stand vor dem Müllkollaps. Das verschaffte uns Macht.

Jetzt wurde recherchiert:

Wie viele Fahrzeuge mit Müll fuhren täglich durch Ketzin? Was wurde abgeladen? Wie sah die direkte Umgebung der Deponie Vorketzin aus?

Wir erreichten, dass uns Vertretern der Bürgerinitiative eine Führung über das Deponiegelände gewährt wurde und was wir da sahen, verschlug uns den Atem. Nicht nur, dass der Hausmüll abgekippt und mit Kompaktern verdichtet und mit Boden Lage um Lage abgedeckt wurde; wir sahen, dass im Hausmüll Gruben ausgehoben waren, die mit Flugasche aus Verbrennungsanlagen ausgekleidet waren, um flüssig-schlammige Abfälle aus Tankwagen aufzunehmen, die wiederum mit angeliefertem Boden aufgefüllt wurden. In andere Gruben wurden Fässer abgekippt, aus denen ölige Flüssigkeiten austraten. Es war die Hölle.

Erstaunlicherweise trat uns von den Arbeitern der Deponie totales Verständnis entgegen - es waren Leute von uns, die eben dort ihr Geld verdienten, aber mit dem Vorgehen auch nicht einverstanden waren.

Wir blockierten weiter, wir demonstrierten.

Mir fiel ein Haus auf, das als Einzelgrundstück in der Nähe der Zufahrt zur Deponie stand. Die Menschen, die dort wohnten, erzählten mir davon, dass ihr Grundstück direkt an die Deponie grenzte, dass Plastik und Papier ständig über den Zaun getrieben war, dass Asche und stinkende Gase über das Grundstück waberten.

Nah an der Deponie war eine Bungalowsiedlung mit Wasserversorgung aus Eigenbrunnen - wir engagierten ein Labor zur Bestimmung von Schadstoffgehalten im Trinkwasser. Heute wäre die gesamte Versorgung stillgelegt worden: Phenole, Ammoniumverbindungen, Benzole.

Bislang erfolgte eine Vereinbarung mit Westberlin über den Rat des Bezirkes (Bezirksparteileitung der SED). Der Ort Ketzin wurde über die Nutzung des Geländes und die Auswirkungen auf die Umwelt nicht einmal informiert. Da die Bürgermeister der Stadt ja ohnehin Marionetten der Partei, hier der SED, waren, gab es keinen Widerspruch. In der DDR wurde durchbefehligt. Die Bevölkerung erfuhr nichts und durfte auch nichts wissen, weil ja alles unter dem Mantel des Stillschweigens und somit der Angst lag. Finanziellen Ausgleich anzufordern war Wahnsinn, weil es eben so etwas nicht gab.

Es folgten weitere Versammlungen, zu denen wir die Verantwortlichen der SED-Bezirksleitung einluden, um uns Rede und Antwort zu stehen. Diese Bezirksleitung war der verlängerte Arm der SED-Regierung. Und die Herren kamen, also mussten sie doch Respekt vor uns haben.

Unsere Forderungen:

  • Die Menschen in dem einsamen Haus an der Deponie werden in der Höhe entschädigt, dass sie sich ein adäquates Grundstück in einem anderen Teil der DDR kaufen können
  • Die Mülltransporte werden solange eingestellt, bis die Deponie entsprechend west-europäischer Anforderungen gesichert wird - ansonsten wird die Müllanlieferung wöchentlich gestoppt
  • Die Stadt Ketzin erhält eine Entschädigung dafür, dass sie die Last des Mülls tragen muss
  • Eine Trinkwasserleitung wird in die Bungalow-Siedlung verlegt
  • Der Ausbau einer Kanalisation und einer Kläranlage, damit die Abwässer nicht ungeklärt in die Havel geleitet werden.

Die Beratungen hatten insofern Erfolg, dass ich nach 7 Monaten eine Postkarte eines ehemaligen Deponieanwohners aus seiner neuen Heimat in Thüringen bekam, mit einem Dankeschön an mich. Diese Karte habe ich lange aufgehoben.

Es wurde eine Veränderung der Müllablagerung zugesichert - und tatsächlich: ein noch vorhandener Bereich wurde mit einer Basisabdichtung versehen, sodass der Hausmüll auf diesem Teil abgelagert werden konnte.  Es wurde eine Sickerwasserfassung und –aufbereitung, sowie eine Deponiegasfassung installiert.

Es kam heraus, dass der Rat des Bezirkes über die KoKo Devisen für die Nutzung der Deponie bezog. Wieviel konnte nie ermittelt werden.

Denn dann kam der 09.11.1989.  –Während Deutschland feierte und sich freute, fuhren in diesem Taumel die Müllfahrzeuge freudig weiter.

Ich wurde zu Diskussionen bei der Senatsverwaltung Berlin eingeladen, Fernsehsendungen, in denen man seinen Standpunkt klar machen konnte, aber so langsam lief alles in neuen Bahnen, die man als kleiner Vertreter eine Bürgerinitiative nichts ändern konnte - man konnte ja nichts mehr fordern, die Organisation übernehmen jetzt die Großen.

In Ketzin wurde gewählt, die Bürgerinitiative trat an und gewann haushoch und stellte den Bürgermeister. Ich war als Stadträtin für Umweltschutz nominiert. Unsere Forderungen formulierten wir jetzt auf offiziellem Wege. Im Februar kam der damalige Umweltminister Peter Diederich nach Ketzin und verkündete den sofortigen Lieferstopp für Sondermüll. Der Hausmüll lief aber weiter.

Es wurde eine Zusage über 40 Mio DDR-Mark gegeben, um die grundlegenden Anforderungen zu erfüllen. Das Geld wollten sich DDR und BRD teilen, jedoch kam von der West-Berliner Seite nichts, da sie keine Verantwortung trage. Aus dem ehemaligen SED-Vermögen wurden die Gutachten zu den aus der Deponie verursachten Schäden bezahlt. Ingenieurbüros untersuchten die Deponie und deren Auswirkung und gaben Informationen heraus. Schließlich erfolgte eine Planung zur Sicherung der Deponie, so wie diese heute vorliegt.

Und so schob sich alles auf die bekannte lange Bank und gliederte sich in die nun neue, aber nicht schnellere Planungswirtschaft ein.

Aber die Kontrolle und die Forderungen zur Deponie verpufften und die Welt wandte sich anderen Sorgen zu. Von dem Geld sahen wir nichts, denn schließlich gab es ja die SED nicht mehr und die Nachfolger wussten über nichts Bescheid.

So ist es mit Idealen - sie bestehen nur, solange das Umfeld sich nicht ändert.[1]


[1] Anm. der Redaktion/Christian Booß: Nach 1990 wurde über das Umweltministerium eine Reihe von Sicherungsmaßnahmen in Vorketzin eingeleitet. Spundwände sollten das Einsickern von Schadstoffen in die Havel verhindern. Allerdings riss, wie von Marlies Oettel geschildert, irgendwann der Draht zu den Umweltschützern ab. Eine genaue Bilanz der Sanierungsmaßnahmen dieser ehemaligen West-Giftmüllkippe steht noch aus.