DIE UMWELTGRUPPE PERLEBERG 1987-1990

von Joachim de Haas[1]

Zur "Lebenswelt Opposition", wie das Schwerpunktthema im Heft 65 von "Horch und Guck" hieß, wird man die Umweltgruppe Perleberg kaum zählen können. Dazu war sie personell zu klein, zu kurzlebig und das Engagement in ihr keineswegs der bestimmende Teil des Lebens ihrer Mitglieder.
Dennoch blieb ihr Wirken nicht unbemerkt - bei der Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit ohnehin nicht, aber auch in der Bevölkerung wusste man über ihre Existenz Bescheid.
Als sich am 23. Oktober 1989 plötzlich hunderte Perleberger_innen vor der Jakobikirche versammelten und Einlass begehrten, um über die notwendigen politischen Veränderungen in der DDR zu debattieren, hieß es aus der Menge, dass "die Umweltgruppe" zu diesem Friedensgebet aufgerufen hätten.

Dies stimmte nicht. Für die Umweltgruppe kamen die an diesem Montag wie aus dem NIchts aufkommenden Gerüchte über ein am Abend in der Kirche stattfindendes Friedensgebet genauso überraschend wie für alle kirchlichen Mitarbeiter_innen und die Gemeindeglieder.
Der bis heute unbekannte Gerüchtekoch kombinierte vermutlich aus der Tatsache, dass es eine evangelische Kirchengemeinde mit einer Umweltgruppe gibt, dass diese Staatsfeinde und damit Organisatoren montäglicher Friedensgebete nach Leipziger Vorbild sein müssten. Und offensichtlich war das Gerücht glaubwürdig genug, um viele Menschen zu mobilisieren.
So schnell konnte das geforderte Friedensgebet nicht organisiert werden, zumal der Kirchenraum bereits belegt war, so dass die Versammelten beschlossen, kurzerhand eine Demonstration durch die Stadt zu unternehmen. Das Friedensgebet fand dann, nur noch halb improvisiert, am folgenden Donnerstag, dem 26. Oktober, in der vollbesetzten Kirche statt.

Die beschriebene Anekdote illustriert ganz gut die Existenzbedingung einer kleinen, unabhängigen Umweltgruppe auf dem platten Land. Die Gruppe besteht, sie bearbeitet ein, zwei Themen im Rahmen ihrer beschränkten Möglichkeiten und ist im geschlossenen Raum der Kirchen teil-öffentlich wirksam. Und dennoch strahlt diese geringe Gegenöffentlichkeit in eine Gesellschaft hinein, die sich unter den herrschenden Bedingungen der SED-Diktatur selbst nicht frei äußern konnte: die Perleberger_innen wussten im Herbst '89, dass es eine Umweltgruppe gibt und dass diese Umweltgruppe Ansprechpartner für ihre Forderungen nach politischer Debatte sein könnte oder sein müsste.
Im konkreten Fall übernahmen engagierte Menschen aus der Kirchengemeinde die Rolle der Organisatoren und Moderatoren, so dass die Mitglieder der Umweltgruppe nur Teil dieses Teams waren und nicht die ihnen von außen angetragene Führungsrolle einnehmen mussten.

Die Westprignitz - Ländlicher Raum mit Umweltproblemen

Perleberg, in der Westprignitz auf halbem Wege zwischen Berlin und Hamburg gelegen, und der gleichnamige Landkreis schienen zu DDR-Zeiten keine gravierenden Umweltprobleme zu haben. Jedenfalls waren die vorhandenen nicht zu vergleichen mit den massiven Umweltzerstörungen im industrialisierten Süden des Landes. 
"Wir schauen da gar nicht hin", sagten Freunde aus Dresden, als bei der gemeinsamen Dampferfahrt das Schiff das Zellstoffwerk in Pirna passierte, welches den Wellen der Elbe schmutzig-graue Schaumkronen mit auf den Weg gab.
Sollte angesichts dieser Haltung zu Umweltschäden von Menschen, die in einer hochbelasteten Gegend lebten, das Umweltbewusstsein in der Westprignitz höher sein? Dort befand sich in Wittenberge das Schwesterwerk von Pirna, der VEB Zellstoff- und Zellwollewerke, der besagte Produkte auf der Basis von Kiefernholz herstellte, während in Pirna Fichtenholz den Ausgangsrohstoff bildete.

Die allgemeine Haltung zu den Umweltproblemen in der Stadt Wittenberge selbst war nach meiner Erinnerung ambivalent; einerseits gab es so etwas wie Stolz darauf, dass sich ein so wichtiges Werk dort befand, wenngleich die proletarische "Zellwolle" im Prestige hinter dem feinmechanischem Werk für Nähmaschinen stand, andererseits belastete dieses Werk mit seinen Abgasen fast täglich die Wittenberger Luft. Sehr häufig wurden die zulässigen Grenzwerte der Belastung überschritten. Aufgrund des extremen Geruchs nach Schwefelwasserstoff ließen sich die Umweltprobleme in der Stadt nicht so leicht ignorieren wie im Falle der Elbefahrt bei Pirna.
Jeden Abend wanderten die meisten Westprignitzer virtuell in den Westen aus, sahen die Sendungen von ARD, ZDF oder dem NDR. Die in den einschlägigen politischen Magazinen behandelten Umweltthemen gelangten auf diesem Weg auch in die Gesellschaft der Westprignitz und beförderten ein Basis-Umweltbewusstsein. Damit ist gemeint, dass die Umweltverschmutzung allgemein bekannt und als zu bewältigendes Problem anerkannt war, jedoch, ähnlich wie heute, eine Änderung des eigenen alltäglichen Verhaltens zugunsten einer ressourcenschonenden Lebensweise weitgehend ausblieb.

Das Entstehen der Umweltgruppe

Hervorgegangen ist eine eigenständige Umweltgruppe aus der Jungen Gemeinde. Wie die meisten Jungen Gemeinden in der DDR war auch sie anpolitisiert insofern, als sie einen Freiraum für jugendliche Aktivitäten bot, der offen war für jegliches Engagement. Die Thementriade der 1980er Jahre, Frieden, "Dritte Welt" und Ökologie bestimmte neben kirchlich-theologischen Themen das Geschehen in der Perleberger JG. Als hinderlich für eine Erweiterung der JG und damit auch der Themenfelder erwies sich die Tatsache, dass in einer Landstadt viele Jugendliche nach der Schulausbildung an anderen Orten tätig und nur noch an den Wochenenden zu erreichen waren. Ungewollt wurden dadurch die daheim gebliebenen ältesten Mitglieder der JG tonangebend und dominierten die Themenauswahl. In der Perleberger JG war dies zunehmend die Umweltfrage. Die nachwachsende Generation zeigte daran nicht so viel Interesse. Das mag bei den neu Hinzugekommenen an der Befürchtung gelegen haben, sich die Chancen auf einen guten Ausbildungsplatz nicht zu verderben, indem sie sich in einer JG mit politisch brisanten Themen auseinandersetzten. Da eine altersmäßige Teilung der Jungen Gemeinden, die in größeren Gemeinden häufig zu finden war, für die kleine JG in Perleberg nicht in Frage kam, beschlossen die Umweltfreunde im Herbst 1987 die Gründung einer eigenständigen Umweltgruppe, die jedoch weiter als ein Teil der Kirchengemeinde Perleberg bestehen sollte, ähnlich wie die JG, der Posaunenchor oder die Kreativgruppe der "Montagsmaler".

Zunächst musste sich die Gruppe orientieren und sich fragen, woran sie arbeiten möchte, mit welchen Gruppen zusammengearbeitet werden und wen man anwerben sollte.
Letzteres stellte sich als schwierig heraus. Zwar hatte die Gruppe viele Sympathien in der Gemeinde, wenngleich ihr pietistisch-unpolitischer Flügel durchaus Unbehagen mit der Existenz der Gruppe artikulierte, doch zu einer kontinuierlichen Mitarbeit fanden sich nur wenige bereit.
Einen nicht zu unterschätzenden Beitrag dazu leistete unser Mitglied Frank P., der als IMB "Robert" bereits vor seinem Auftauchen in kirchlichen Zusammenhängen dem Ministerium für Staatssicherheit zuarbeitete. Von mehreren Seiten erhielten wir Warnungen, dass er verdächtig sei und als Frauenheld, Schwarzmarktautohändler und Raser wohl nicht wirklich vertrauenswürdig sei. Wir schlugen die Warnungen in den Wind, da wir in ihm einen guten Kumpel gefunden hatten, der was auf die Beine stellen konnte. Aber sein negatives Image in der Stadt hielt sicher die eine oder den anderen davon ab, in der Umweltgruppe mitzuarbeiten.

Kontakte zu anderen Umweltgruppen gab es bereits vor der Gründung der Gruppe, unter anderem zum Kirchlichen Forschungsheim in Wittenberg und partiell auch zur Umweltgruppe in Schwerin. Da Perleberg zwar politische zum Bezirk Schwerin gehörte, kirchlich aber nach Brandenburg, richteten wir als kirchliche Umweltgruppe unseren Blick eher Richtung Potsdam bzw. nach Berlin.
Im Sommer 1985 hatten Carlo Jordan und Christian Halbrock auf ihrer Fahrradtour entlang der deutsch-deutschen Grenze im Perleberger Pfarrhaus übernachtet. Sie hinterließen ihre Adressen, womit zur Ost-Berliner Umweltbewegung der Kontakt hergestellt war, der dann 1987 aktiviert wurde.
Auf das wichtigste Thema wurde die Gruppe eigentlich von außen gestoßen: die Nitratbelastung des Grundwassers durch übermäßigen Gülleeintrag führte dazu, dass in manchen Dörfern die bisherige Nutzung des Trinkwassers aus den bestehenden Tiefbrunnen verboten werden musste und die Versorgung mittels Tankwagen erfolgte.

Die Arbeit vor Ort

Nachdem es in der ersten Zeit nur zu gelegentlichen Treffen der Umweltgruppe kam, änderte sich das ab etwa Ende 1987. Die Kontakte nach Berlin wurden aktiviert. Dort hatten Carlo Jordan und Christian Halbrock mittlerweile die Umweltbibliothek in der Zionsgemeinde mit aufgebaut. Die erhofften Impulse für eine Belebung der eigenen Umweltarbeit blieben nicht aus, denn wir hatten nun Zugriff auf alles Material der UB. Leider begann gerade zu dieser Zeit der Streit zwischen der UB und denjenigen, die die kirchliche Umweltbewegung DDR-weit vernetzen wollten. Auch die Perleberger Umweltgruppe musste sich in diesem Streit positionieren und gehörte zu den Mitbegründern des "Grün-ökologischen Netzwerkes >arche< in der Evangelischen Kirche". Aufgrund des in Berlin eskalierenden Streits, der in einem "Unvereinbarkeitsbeschluss" gipfelte, waren wir von den Ressourcen der UB abgeschnitten, die eine gute Ergänzung zu den Materialien des Netzwerkes gewesen wären.
Wie erwähnt, rückte die Verschmutzung des Trinkwassers in den dörflichen Regionen der Westprignitz in den Mittelpunkt unserer Tätigkeit. Wir suchten vor Ort den Kontakt mit den Bewohnern, um uns ein unabhängiges Bild von der Gesamtsituation machen zu können. Dieses sollte schließlich auf einem Gemeindeabend präsentiert werden.
Die Dorfbewohner reagierten abwartend bis ablehnend auf unser Anliegen und nur wenige waren bereit, mit uns über die Problematik zu sprechen. Als Gründe wurden uns neben einer Kirchenferne, öfters auch die Angst vor der Stasi genannt. Leider war diese nicht unbegründet, denn unser fleißiger IM hat die wenigen Mutigen, die mit uns gesprochen haben, noch in derselben Woche mit Namen und Adresse an seine Auftraggeber gemeldet, wo sie aktenkundig wurden.

Ursache der Nitratbelastung war das massenhafte Ausbringen von Gülle durch die industrielle Landwirtschaft. Damit rückte dieser Bereich ebenfalls in unser Blickfeld.
Dank der Verbindungen nach Berlin und Wittenberg verfügten wir über gut aufbereitetes Material für Gemeindeabende zu ökologischen Themen, wie ökologischen Gartenbau, Waldsterben und rücksichtsvollerer Landwirtschaft. Wir ergänzten es durch die Ergebnisse unserer eigenen Arbeit.
Zunächst auf Perleberg beschränkt, weiteten wir den Wirkungskreis bald auf andere Gemeinden aus. In den so "bespielten" Dörfern bemerkten wir bei den anschließenden Diskussionen ein bestimmtes Muster: die ältere Generation, die noch selbstständige Landwirte gewesen waren, zeigte sich den neuen, eigentlich alten Ideen sehr aufgeschlossen gegenüber und hielt mit Kritik an der raubbauenden industriellen Landwirtschaft nicht hinterm Berg. Die noch aktiv in der LPG Tätigen wiederum verteidigten die bestehende Situation mit Verweis auf die Notwendigkeit der Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln.

Die Umweltgruppe und der Staat

Es war allen Beteiligten klar, dass die Gründung einer eigenständigen Umweltgruppe, auch unter dem Dach der Kirche, die Sicherheitsorgane des DDR-Staates alarmieren würde.
Um den staatlichen Stellen die Angst vor einer Untergrundtruppe zu nehmen, meldeten wir uns beim "Beauftragten des Rates des Kreises für Umweltschutz, Wasserwirtschaft und Erholungswesen" an, um uns und unsere Gruppe vorzustellen. Da Geheimpolizisten gefährlicher sind, wenn sie nichts wissen als wenn sie sich informiert fühlen, schien uns diese Aktion sinnvoll. Wie die meisten DDR-Bürger waren wir juristisch nicht sonderlich bewandert, aber es war irgendwie klar, dass, wenn "der Staat" nach unserer Vorstellungsrunde bei ihm nichts gegen uns unternehmen würde, er später im Falle eines Falles nicht behaupten könne, dass wir eine Untergrundgruppe seien. Umgekehrt hätten wir uns darauf berufen können, den Staat von uns aus über unsere Existenz informiert zu haben, ohne dass von dessen Seite eine strafrechtliche Sanktion erfolgt wäre. Wenn denn die Gründung einer kirchlichen Umweltgruppe wirklich illegal gewesen wäre, hätte der Staat sofort darauf reagieren müssen und nicht erst irgendwann.

Unser IM hatte dem MfS bereits mitgeteilt, wie wir uns den Gesprächsverlauf dachten. Vielleicht war deshalb der Beauftragte nicht selbst zu sprechen, sondern nur sein Stellvertreter.
Durch den IM präpariert simulierte dieser Erstaunen und Verwirrung und sagte in jener kategorischen Art, die nur bei Genossen zu finden war, dass wir keinesfalls Ansprechpartner von Seiten des Staates seien. Das wollten wir auch nicht sein, sondern nur unsere bloße Existenz mitteilen. Die Information darüber an den "Stellvertretenden Vorsitzenden des Rates des Kreises für Inneres", die unser eigentliches Ziel war, verfasste der Gesprächspartner schon am Tag darauf.
Und es geschah staatlicherseits nichts. Ich gebe zu, dass ich einige Wochen ein wenig unruhig war, aber die Spekulation, dass der Staat wegen einer kleinen Umweltgruppe in Perleberg nicht die Konfrontation mit der Kirche suchen werde, ging auf.

Über seinen treuen IMB versuchte das MfS, der Gruppe strafrechtlich beizukommen. So erklärte "Robert" stets, dass unser Schwerpunktthema die "Militärökologie" sei. Wenn wir uns diesem Thema wirklich verschrieben hätten, wäre der Weg zu einem Strafverfahren wegen Spionage vor einem Militärgericht sehr kurz gewesen.

Im Sommer 1989 hätten sich die Wünsche der Kreisdienststelle des MfS fast verwirklichen lassen: die Panzerstraße von Magdeburg nach Rostock führte in der Nähe von Perleberg durch die Wälder. Während einer Übung auf dieser Straße hatten sowjetische Einheiten außerhalb des Sperrgebiets ein provisorisches Quartier aufgeschlagen, dazu illegal Bäume gefällt, Gräben ausgehoben und beim Abzug ihren Müll hinterlassen, einschließlich der Reste von Ausgaben der sowjetischen Tageszeitung "Prawda", deren Datumsangabe den Zeitpunkt des Geschehens eingrenzen ließ. Die Umweltgruppe besichtigte und dokumentierte die Stelle.
Jetzt meinte das MfS, etwas Strafrechtliches gegen uns in der Hand zu haben.

Es rettete uns die Mitgliedschaft im Netzwerk "arche".
Die MfS- Zentrale in Berlin plante für den Herbst 1989 eine DDR-weite Zerschlagung der kirchlichen Umweltgruppen bzw. des Netzwerkes "arche". Deshalb sollte "Perleberg" nicht schon im Sommer vorpreschen und damit die gesamte Aktion verderben. Die Genossen Oberste und Oberstleutnante der Kreisdienststelle Perleberg und der Bezirksverwaltung Schwerin durften sich den Ausführungen des eigens aus Berlin angereisten Majors der HA XX nur anschließen und den Plan vertagen.

Der Herbst 1989 veränderte alles. So blieb der Plan zur Zerschlagung der Umweltgruppen auf dem Papier. Und auch Frank P., alias IMB "Robert", erhielt die ihm für sein treues Wirken zugedachte "Verdienstmedaille der NVA in Bronze" anlässlich des 40. Gründungstages des MfS im Februar 1990 nicht mehr.

Ausblick

Mit der Grenzöffnung, den Umwälzungen in der Wirtschaft und des Ausbildungssystems setzte auch in der Prignitz eine Abwanderung ein, die bis heute für Perleberg einen Rückgang der Einwohnerzahlen um zwanzig und in Wittenberge um fast fünfzig Prozent zur Folge hat. Davon betroffen war auch die Perleberger Umweltgruppe. In der reformierten DDR des Jahres 1990 und später im vereinten Deutschland übernahmen ehemalige Mitglieder der Gruppe politische Funktionen im Kreistag und in der Lokalpolitik in den Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen.


[1] Joachim de Haas, geboren 1966 in Dresden, 1983-1989 Ausbildung und erste Berufstätigkeit in Perleberg, ab 1989 in Berlin, anschließend Geschichtsstudium und freiberuflicher Historiker, jetzt Lehrer für Geschichte und Politik.