„Ich habe vieles verdrängt“

Stasi-IM in der Umweltbewegung von Halle

Heidi Bohley sprach mit Henry G. Schramm[1]

Eine der aktivsten Umweltschützer in Halle war Henry Schramm. Kirchlicher Umweltbeauftragter, Redner auf der Montagsdemo, Organisator des ersten Parteitages der DDR-Grünen in Halle. Doch dann stellte sich heraus, dass Schramm als IM für die Stasi berichtet hatte. Anders als bei anderen, die frech leugneten oder sich davon stahlen, suchte man in Halle das Gespräch miteinander. Das half, das Leben ging weiter miteinander. Eine der bekanntesten Bürgerrechtlerinnen in Halle, Heidi Bohley suchte und dokumentierte das Gespräch mit Henry Schramm:

Was veranlasste dich, gerade jetzt an die Öffentlichkeit zu gehen?

Henry G. Schramm: Als vor etwa 14 Tagen klar war, dass ich für den Bundestag nominiert bin, da habe ich angefangen zu grübeln: Jetzt geht’s zu weit. Den eigentlichen Ausschlag gab das Gespräch mit jemandem vom Auflösungskomitee. Ich sprach zuerst mit Leuten vom DDR-Vorstand meiner Partei, wollte anschließend mit dem Kreisvorstand in Halle reden und erst dann an die Öffentlichkeit gehen. Der EXPRESS war halt schneller.

Kannst du etwas zu deiner Entwicklung sagen? Wie kam es zur Stasimitarbeit?

H. G. Sch.: Ich bin kommunistisch erzogen worden. Mein Vater war Parteisekretär. Ich habe mich 1975 von ihm getrennt. Wir hatten uns politisch in der Wolle. Mein Vater war Stalinist. Es gab ständig Reibereien.

Als was würdest du dich selbst bezeichnen? 

H. G. Sch.: Das ist in dieser Situation absolut schwer. Ich habe im [Chemiewerk] Buna gelernt, war FDJ-Sekretär in der Lehrabteilung. Ich hätte da die normale Karriere machen können, besaß aber andere Kontakte. Ich war in so einer Art Anarchozirkel. Dort hörte ich die ersten Biermann-Lieder. Außerdem bin ich mit meiner Art immer angeeckt. Ich habe gern widersprochen. Dann musste ich zur Armee. Vielleicht bin ich wegen des Vaters und der FDJ an die Grenze gekommen.
Kurz vor der Entlassung kamen dann das erste Mal die Leute von der Staatssicherheit. Damals sagte ich Nein. Ich bin einfach nicht der Typ des Befehlsempfängers.
Während der Lehre und der Armee hatte ich immer mit Strukturen Schwierigkeiten, wo Disziplinierung eine Rolle spielte. Man ließ mich dann auch in Ruhe. Anschließend bin ich wieder zurück in meinen alten Betrieb − das Plattenwerk − und habe dort Halle-Neustadt mit erbaut.
1970 beantragte ich die Kandidatur für die SED. Das war eigentlich folgerichtig. Nach dem Jahr der Kandidaturzeit verzichtete ich aber auf die Mitgliedschaft. Das hatte verschiedene Gründe. Unter anderem hatten Genossen − auf dem Bau ist das so üblich − zu mir gesagt: „Du dummes Schwein, warum gehst denn du da rein, weißt du denn nicht, was das für ein Haufen ist.“ Das waren selber Genossen! Damals ist mir das erstmals klargeworden, dass diese Partei nicht so ist, wie sie in der Zeitung verkauft wird.

Hast Du wegen dieses Rückziehers nicht Ärger bekommen?

H. G. Sch.: Ich konnte die Meisterausbildung nicht in der Erwachsenenqualifizierung machen. Das wurde mir schlagartig verwehrt. Später holte ich das dann in der Abendschule nach. Ich wurde Meister und Abteilungsleiter. Damals gab es die ersten Kontakte mit der Staatssicherheit.

Der erste Bericht

Auf den Bau kamen Leute, die man aufnehmen musste: Wiedereingliederung, Alkoholiker usw.. Die staatlichen Organe erzählten der und der Kollege kommt demnächst zu euch und steht unter Aufsicht. Deshalb sollten die Betriebe Berichte liefern. Damals glaubte ich noch, solche Berichte würden den Kollegen unter Umständen helfen. Ich habe mich aber gefragt, wie ich da wieder rauskommen soll. Ich konnte doch niemanden, der gerade einsitzt und dann zurückkommt, sagen, dass ich Berichte über ihn geschrieben habe. Als ich in einen anderen Betriebsteil kam, hörten die Kontakte auf. Sie begannen erst wieder, nachdem ich den Betrieb gewechselt hatte und im Starkstromanlagenbau anfing. Sie sagten zu mir: Also, der und der Kollege, der damals bei dir gearbeitet hat, der ist doch jetzt auch hier im Betrieb und wir könnten doch mal … Es gibt Sätze, die sie ganz freundlich klangen, du aber schnell begreifst, was sie wollen.

Du sagtest, du seiest zur Mitarbeit erpresst worden. Worin bestand die Erpressung?

H. G. Sch.: Die wussten doch, dass meine Frau und die Leute, mit denen ich befreundet war, nicht ahnten, dass ich früher im Betrieb mal Berichte geschrieben habe. Ich hatte Angst, meine Freunde zu verlieren.

Das war für mich Erpressung. Ihr habt früher die [Umweltzeitschrift] „Blattwerk“ illegal gedruckt, was ja immer mit Angst verbunden war. Hast du die Furcht der Leute vor der Stasi gespürt? Du selbst brauchtest ja diese Angst nicht zu haben, oder?

H. G. Sch.: Ich habe ehrlich gesagt gehofft, dass es mich nicht so trifft. Andererseits versuchte ich der Stasi klarzumachen, dass so etwas wie das „Blattwerk“ notwendig ist, dass da keine Lügen drinstehen. Deswegen gab es manche harte Auseinandersetzungen. Das war eine Art Entschuldigung vor mir − vor anderen konnte ich’s ja nicht sagen unter den gegebenen Umständen.

Empfandest du ein gewisses Überlegenheitsgefühl den anderen gegenüber?

H. G. Sch.: Nein, überhaupt nicht. Es war im Gegenteil oft schwerer für mich, weil ich ja immer im Hinterkopf hatte: Du bist ja auch noch was anderes.

Die Verunsicherung

Was es auch noch schwer machte, war die Tatsache, dass die Stasi oft schon einen fertigen Bericht hatte − auch von Zusammenkünften, wo nur ein relativ kleiner Kreis von Leuten anwesend war. Ich fragte mich: Wer denn noch?

Du fühltest Dich also in diesem Kreis auch überwacht?

H. G. Sch.: Ich habe immer gewusst, dass ich nicht als Einziger dabei war.

Wo hast du deine Berichte geschrieben?

H. G. Sch.: Meist in Wohnungen.

Da muss sich doch mit der Zeit ein gewisses Verhältnis ergeben haben. War dir dein Verbindungsmann sympathisch? Hattest du Vertrauen zu ihm?

H. G. Sch.: Ich habe mit ihm sehr viel diskutiert und bilde mir ein, eine Basis gefunden zu haben. Wie das dann ausgewertet wurde, kann ich auch heute noch nicht sagen.

Glaubtest du daran, eine Vermittlerfunktion zu besitzen?

H. G. Sch.: Irgendwie ja, zumindest habe ich mir das eingebildet. Das war sicher auch so eine Art Rechtfertigung vor mir selbst: Wenn du schon nicht den Schritt tun kannst, dich jemandem anzuvertrauen, dann versuche wenigstens das.

Hast du nur berichtet oder auch gezielte Aufträge ausgeführt?

H. G. Sch.: Es hat mal Versuch gegeben. So nach dem Motto: Wer würde sich für eine Mitarbeit eignen oder: Was sagt denn deine Frau dazu? Aber das habe ich abgelehnt, was auch akzeptiert wurde. In den letzten Jahren war das kein Thema mehr. Ich nehme an, so sicher erschien ich den Leuten selbst nicht.

Wie hast du Dich bei der Auflösung der Stasi gefühlt? Gast du geglaubt, dass von dir dort nichts zu finden ist?

H. G. Sch.: Bei der Mahnwache in der Georgenkirche begann ich zu hoffen, die Leute nun los zu sein. Am Beginn hatte ich noch Angst. Man wusste ja nicht, wo alles mal endet. Nachdem das aber abzusehen war, hatte ich die Hoffnung, dass ich vielleicht nicht so wichtig war, dass nichts von mir existiert. Eine Hoffnung, die sich eigentlich nicht begründen lässt.
Es war eine Verdrängung. Im Hinterkopf wusste ich, es kann eigentlich nicht sein, dass nichts existiert. Aber die Angst sich zu offenbaren, war stärker.

Wurde dir Geld angeboten?

H. G. Sch.: Angeboten ja. Da hätte ich normal im Betrieb weitergearbeitet und mein Gehalt aufbessern können. Aber ich habe nie Aufträge bekommen. Für Geld hätte ich irgendwas gezielt abarbeiten müssen. Das habe ich nie gemacht.

Ein Mädchen von der Mahnwache erzählte, du hättest Dich dort auch an Diskussionen beteiligt, wer von den Anwesenden vielleicht für die Stasi arbeitet.

H. G. Sch.: Wir führten solche Diskussionen auch im Ökologischen Arbeitskreis. Das Thema war ja immer irgendwie da. Ich habe immer gesagt: Es lohnt sich nicht, darüber nachzudenken. Wird einer erkannt, ist nächste Woche ein anderer da. Die Leute müssen von alleine kommen. Sie zu suchen und an die Wand zu stellen, das bringt für niemanden etwas. Hätte man unter dem damaligen Regime einen enttarnt, dann wäre der aus dem Verkehr gezogen worden und du hättest beim nächsten Treffen ein neues Mitglied gehabt. Das war mir eindeutig klar.

Hattest du das Gefühl, selbst darüber entscheiden zu können, was du sagst und was nicht?

H. G. Sch.: Irgendwie habe ich mir das eingebildet. Als einer der Begründer des Netzwerkes Arche wusste ich, wer den Film „Bitteres aus Bitterfeld“ gedreht hat. Das hätte die Staatssicherheit auch gerne gewusst. Ich nehme an, sie haben’s später auch rausgekriegt, aber nicht durch mich.

Die Offenbarung

Herr Diestel malt das Bild der allgemeinen Lynchjustizstimmung. Kannst du schon etwas über Reaktionen auf dein Bekenntnis sagen?

H. G. Sch.: Am allerschwersten war der erste Schritt bei meinen Freunden im Vorstand. Ich habe da mit allem gerechnet und gedacht, vielleicht geht’s mit Vorwürfen ab. Aber selbst die Vorwürfe kamen nicht. Es war ein ruhiges, sachliches, fast freundschaftliches Gespräch. Die Gruppe in Halle steht zu mir. Man hat beschlossen, dass ich in der Grünen Partei bleiben kann. Und dann kamen eine Menge Anrufe. Viele waren natürlich enttäuscht.

Eine Freundschaft ist zerbrochen. Darüber bin ich sehr traurig, aber das gehört zu dieser Quittung. Ich habe noch die Gespräche in der Verwandtschaft vor mir, dann die mit den ehemaligen Arbeitskollegen. Damit muss ich mich auseinandersetzen.

Ich bin gern bereit, Allen Auskunft zu geben. Ich bin immer noch überzeugt, dass die Informanten des MfS genauso dumm gehalten wurden wie die Kontaktleute [des MfS selbst], mit denen wir gearbeitet haben. Die Kontaktleute waren auch nur kleine Lichter. Das sieht man daran, dass sie als erste entlassen wurden und sich selber um einen neuen Job kümmern mussten, während die Leute, die die Anordnungen hier in Halle erlassen und durchgesetzt haben, bisher nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Das steht noch aus.

Du bist manchmal bei „Aktionen“ der Umweltgruppe wie alle anderen zugeführt worden. Wie war das?

H. G. Sch.: Ja, bei der Heideasphaltierung hat man mich wie alle anderen von der Straße weggeholt. Ich erhielt „Heideverbot“. Bis heute weiß ich nicht, ob das eine Panne oder abgestimmt war oder ob sie mir mal wieder einen Denkzettel verpassen wollten.

Würdest du deinen Kontaktmann jetzt einmal wiedersehen wollen? Worüber würdest Du mit ihm reden?

H. G. Sch.: Ja. Ich denke, auch das gehört zur Aufarbeitung. Reden würde ich über uns beide, über all die Jahre, die wir zusammengearbeitet haben. Er ist ja an keinen Eid mehr gebunden, er könnte ja jetzt als Mensch reagieren. Es fällt mir schwer, ihn zu verdammen. Diese Kontaktleute waren genauso kleine Lichter gewesen wie wir, bloß dass die angestellt waren und es ihnen vielleicht leichter fiel, weil sie die Überzeugung dazu hatten. Ich möchte wissen, ob er sich heute als missbraucht ansieht − einfach mal so reden auf einer anderen Basis: Ich habe nicht mehr mit der Angst vor Entdeckung und er nicht mehr mit der Angst vor Vorgesetzten. Ich denke, dass sich andere Stasi-Mitarbeiter, die in einer ähnlichen Situation sind, endlich zu erkennen geben müssen. Sie sollten daran denken, dass auch nach dem 3. Oktober [dem Tag der Einheit 1990] erpressbar bleiben.
Die Besetzer in der Normannenstraße haben schon das richtige Gefühl dafür, was los ist. Dieser Staatssekretär Krause oder andere, die können doch sagen, was sie wollen − haben wir erst mal bundesdeutsches Recht, dann sitzen die Leute an den Akten, die sie auch verwenden werden.

Willst du in Halle bleiben?

H. G. Sch.: Ich bleibe hier. Ich muss das hier durchstehen und wie es aussieht, kann ich mich auf viele meiner ehemaligen und jetzigen Freunde verlassen. Und an meinem Engagement ändert sich auch nichts. Ich sag’s mal so pathetisch: Der Umwelt ist es scheißegal, wer da was macht, Hauptsache es passiert was.


[1] Mit freundlicher Genehmigung von Zeit-Geschichte(n) e.V. Halle. Erstveröffentlichung in Die Andere, Oktober 1990. Publiziert in:  Von einem der auszog, die Umwelt zu retten. Gespräche mit IM Gerhard alias Walter alias Rolf Hansen alias Henry Schramm, der im November 1989 die Gründung der Grünen Partei Ost betrieb. Dokumentation von 3 Interviews (1990-1999) mit einem ehemaligen Stasi-Spitzel und Mitgliedern der Ökologischen Arbeitsgruppe Halle (ÖAG) Hrsg. vom Zeit-Geschichte(n) e.V.- 2. Auflage, 1999. Online. https://www.zeit-geschichten.de/start/themen/sozialismus/interview-mit-einem-spitzel/ (9.10.2023)