Die entwickelte sozialistische Landschaft Schöneiches

Von Helmut Müller-Enbergs[1]

Der Sozialismus in Schöneiche duftete anders als auf Hiddensee. Das Dörfchen im Altkreis Zossen, südlich von Berlin, glänzte mit einem besonderen Charme. Touristen zog es dennoch nur selten dort hin, obgleich es auf den ersten Blick die Ästhetik der Bescheidenheit demonstrierte: Einen öffentlichen Fernsprecher in der Zossenerstraße 3, einen Kindergarten in der Lindenstraße 12 und sogar einen Intershop mit Flair gab es: „Leiterin legt großen Wert auf gepflegtes Äußeres, gern sehr modisch gekleidet und [unterhält] intensive verwandtschaftliche NSW-Kontakte“, notierte der wichtigste Mann der Staatssicherheit für Schöneiche, „Kaelble“.[2]

Der Rat der Gemeinde Schöneiche hatte seinen Sitz in der Hauptmagistrale des Ortes, in der Dorfaue, genau genommen in der Nummer 19. Das Telefonbuch aus dem Jahr 1988 verrät auch, dass sich in der Nummer 15 der Friseursalon von Heinz Schulze befand, in der Nummer 30 ein Eigenbedarfslager, so etwas wie eine Filiale der Handelsorganisation. In der Lindenstraße 25 tafelten Bürger in einer Gaststätte wie auch in der Planstraße 1. Der Gartenbaubetrieb Am Sportplatz 7 setzte einen grünen, der Transitintershop einen internationalen Akzent, der im benachbarten Vorketzin aufgestellt war.[3] Der Alltag in Schöneiche verlief, scheint es, so unaufgeregt, dass es selbst für den Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei nicht viel zu tun gegeben haben wird, denn er war auch für die nächsten Ortschaften Telz und Kallinchen zuständig. Was sollte er auch schon im Auge behalten? Es gab weder eine Post, eine Freiwillige Feuerwehr, noch eine Schule. Die Kinder lernten in Zossen oder Dabendorf, der Schulhort befand sich in Mellensee. Und für den Rest war die Staatssicherheit zuständig: Denn Charme und Duft machte die entwickelte sozialistische Landschaft Schöneiches berühmt – als Müllkippe des kapitalistischen West-Berlin.[4]

Dreck und Devisen

Abfälle Berlins landeten seit 1920 in Schöneiche, genau genommen in den Ziegelei-Tongruben.[5] Später war es eine Deponie für die Hauptstadt der DDR. Es gab also eine Tradition, an die am 11. Dezember 1974 die ostberliner Bergbau-Handel und die westberliner Industrieplanungsfirma Berlin-Consult anknüpften, als sie faktisch einen Vertrag über Dreck und Devisen schlossen, politisch abgesichert durch den Finanzsenat West-Berlins und dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR. Demnach sollten binnen zwanzig Jahren 18 Millionen Kubikmeter Bauaushub, 38 Millionen Kubikmeter Bauschutt und 35 Millionen Tonnen feste und flüssig-schlammige Siedlungsabfälle – einschließlich einer Million Tonnen Sonderabfälle – aus West-Berlin nach Schöneiche, aber auch nach Vorketzin, Deetz und Röthehof kommen.[6]In Deetz sollten Bodenaushub und Bauschutt landen, in Schöneiche und Vorketzin die Siedlungs- und Sonderabfälle.

Das Gelände der Deponie in Schöneiche wurde erheblich erweitert. Waren es bis Mitte der 1970er Jahre rund 33 Hektar, wurde das Gelände wegen der Abfälle aus West-Berlin auf 136 Hektar erweitert. Ab 1978 fuhren täglich sechzig Fahrzeuge von West-Berlin nach Schöneiche und kippten fünf bis sechs Tonnen ab. Allein im 1. Halbjahr 1978 wurden 80 000 Container geleert.[7]. Für diese Transporte wurde eigens ein Grenzübergang im Süden West-Berlins geschaffen.Die Devisen lohnten sich, sodass ab 1986 auch Sonderabfallstoffe wie Biomasse, Klärschlamm und Rauchgasasche in Schöneiche gelagert wurden. Es wurde eine Sondermüllverbrennungsanlage gebaut, was zu einer erheblichen Erweiterung des Sicherheitssystems führte. Im 3-Schicht-System sicherten 14 zivile Bewachungskräfte die Deponie, angeleitet vom Volkspolizeikreisamt in Zossen.[8]Immerhin waren zeitweilig über 400 Arbeitskräfte aus West-Berlin und der Bundesrepublik Deutschland im Einsatz.[9]

Das sollte sich auch im Dorfbild niederschlagen. Denn für den Betrieb der Sondermüllverbrennungsanlage wurden Wohneinheiten und Eigenheime geplant. 1986 sollten die ersten sechs Wohnungen bezogen werden, 1987 zwölf Eigenheime und 1988 vier Eigenheime und zehn Wohneinheiten (WE).[10] Der Plan war das eine, die Realisierung das andere. Ein IM berichtete: „Die notwendigen 6 WE in Bestensee kommen nicht 1986, sondern frühestens im 4. Quartal 1988; der Eigenheimbau für 16 Eigenheime in Bestensee ist noch vollständig unklar.“[11]

Zudem explodierten die Kosten: Es waren anfangs 35 Millionen DM veranschlagt worden, doch schon 1986 war absehbar, dass sich die Kosten auf 70 Millionen DM belaufen würden.[12]West-Berlin finanzierte schließlich diese Sondermüllverbrennungsanlage mit genau 69,5 Millionen DM, in der jährlich 15 000 Tonnen Müll bis 1994 verbrannt werden sollten. Pro Tonne gab es dafür 41,72 DM. Dreck gegen Devisen. Klar war den Beteiligten, dass die Rauchgasreinigung unzureichend war – Dioxin konnte ungefiltert austreten.[13]

„Suche nach brauchbaren Gegenständen“

Das große Areal konnte trotz Stacheldraht und geharktem Sandstreifen nicht von allen Seiten gesichert werden, mit der Folge, dass interessierte Bürger den Abfall nach brauchbaren Gegenständen absuchten. Mit den Fundsachen entstand ein eigenständiges Geschäftsfeld. Ein Bürger namens „Streicher“, der dabei „planmäßig organisiert“ vorging, brachte aufgefundene Kleidung, „Westzeitschriften“ und Videos unters Volk. Ein „Pornoheft“ brachte ihm jeweils 50 Mark ein; „Streicher“ hatte insgesamt sechs dieser Hefte gefunden.[14]Ein Mitarbeiter der Deponie fand mehr, wie „Kaelble“ zu berichten wusste: „Am 3.4. fand der [Name] auf der Deponie in Schöneiche einen Sack mit Porno-Literatur. Es gibt Anzeichen, dass diese Literatur unter den Kollegen verteilt wurde, denn [einer seiner IM] die Quelle ‚Lux II‘ erhielt von [Name] 2 Bücher davon übergeben.“[15]Staatssicherheit und Volkspolizei versuchten die „Suche nach brauchbaren Gegenständen“ zu unterbinden, zumeist erfolglos. Es konnten zwar 1987 1 522 Personen beobachtet, aber lediglich 190 geschnappt werden. Ein Jahr später registrierte man 1 265 Personen, von denen 84 gefasst wurden. In der Regel handelte es sich dabei um Jugendliche, die abends oder am Wochenende auf der Deponie auftauchten.[16]

Die Kreisdienststelle Zossen

Die geheimpolizeiliche Durchdringung Schöneiches lag in Händen der Kreisdienststelle der Staatssicherheit in Zossen. 53 hauptamtliche Mitarbeiter weist der Stellenplan für das Jahr 1989 aus.[17] Deren Sitz befand sich in der Wasserstraße 6a in Zossen – das heute einen Baustoffhandel beherbergt. Die Genossen befassten sich vor allem mit dem VEB IFA Automobilwerk Ludwigsfelde (AWL), von dessen Fließbändern zuletzt jährlich gut 20 000 Lastkraftwagen W 50 und bald 30 000 L 60 liefen. Die sowjetischen Objekte im Kreis[18] waren ebenso abzusichern wie die Grenze zu West-Berlin und der Reiseverkehr. Insbesondere in den letzten Jahren mühte sich die Kreisdienststelle, Bürger von ihrem Wunsch auf Übersiedlung in den Westen abzubringen (1989: 269 Personen),[19] die aufkeimende Unruhe in den Kirchengemeinden und im Gesundheitswesen des Kreises wie auch umweltkritische Stimmen zu unterdrücken. Zu schaffen machten ihr zudem die jugendlichen Subkulturen, was zusammengenommen das Etikett „politische Untergrundtätigkeit“ erhielt. Die Deponie in Schöneiche hatte folglich den Charakter eines operativen Sonderschwerpunktes,[20] den sie nicht allein, sondern mit Unterstützung der Bezirksverwaltung in Potsdam in den Griff zu bekommen versuchte.

Die Kreisdienststelle nutzte, um informiert zu sein, ein Netz von 447 inoffiziellen Mitarbeitern (IM).[21] Bei75 310 Einwohnern im Kreis Zossen (1989) entfiel statistisch gesehen ein IM der Kreisdienststelle auf 168 Einwohner – bezogen auf die Staatssicherheit insgesamt vermutlich 1 : 84. Durchschnitt also. Die IM hatten unterschiedliche Aufgaben: 99 stellten ihre Wohnungen für Treffs zur Verfügung, 16 ermittelten, 237 durchdrangen im Kreis Institutionen und Gesellschaft– und sieben IM spezialisierten sich auf Kontakte mit „Feinden“. Lediglich ein IM war damit betraut, weitere IM anzuleiten. Das war zeitweise der hauptamtliche Führungs-IM „Kaelble“, eben der, der auf Schöneiche spezialisiert war. Bei 65 dieser IM bestanden, wie eine interne Kontrolle der Staatssicherheit ergab, „Unsicherheits- und Risikofaktoren“,[22] womit ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser „Hauptwaffe“ der Staatssicherheit nicht die gewünschte Qualität hatte.

In Schöneiche selbst konnten bislang drei konspirative Wohnungen ermittelt werden: In einem Einfamilienhaus in der Kallinchener Straße wohnte „Erika“, die aber nicht für die Kreisdienststelle, sondern für die Hauptabteilung Personenschutz der Staatssicherheit seit 1985 hilfreich war.[23] Ebenfalls in der Kallinchener Straße wohnte „Max“, der jedoch seit 1979 die Volkspolizei heimlich unterstützte.[24]Schließlich wäre „Otto“ anzuführen, der neben seiner Tätigkeit als Kaderleiter der VEB Deponie Potsdam über Mitarbeiter recht detailliert berichtete, was bei Magenleiden und Krankschreibungen über Scheidungen bis hin zu Vorgängen im Zusammenhang mit dem Betriebsteil Schöneiche reichte.[25]

Das inoffizielle Netz

Die Kreisdienststelle in Zossen wie auch die Bezirksverwaltung in Potsdam versuchten möglichst genau informiert zu sein. Sie überzogen deshalb die Deponie mit einem überproportional großen Netz an inoffiziellen Mitarbeitern. Dies schien der Staatssicherheit insoweit notwendig, als es einerseits auf der Deponie zu häufigen Kontakten zwischen den „Westfahrern“ und örtlich Beschäftigten kam, und es Hinweise gab, dass auch das Landesamt für Verfassungsschutz in West-Berlin mit Hilfe dieser Ressource die Entwicklung in Schöneiche im Auge behielt. Andererseits bestand die Aufgabe darin, wie der Zuständige der Kreisdienststelle Zossen für die Deponie Schöneiche, „Kaelble“, 1977 schlechthin feststellte: „Die Zielstellung besteht in der Sicherung der vertragsgerechten Verbringung von Schutt, Müll und flüssigen Schadstoffen, unter Berücksichtigung und Einhaltung des Umweltschutzes, der Gewährleistung der Geheimhaltung der Untersuchungsergebnisse bezüglich der Schadstoffe, der Erarbeitung, Aufklärung und Bearbeitung von Erscheinungsformen der KP/KT [Kontaktpolitik/Kontakttätigkeit] im Rahmen der PID [politisch-ideologischen Diversion] sowie der vorbeugenden Erkennung und Verhinderung von Straftaten … und weiter staatsfeindlicher Handlungen.“[26]Er selbst ging mit gutem Beispiel voran und berichtete wiedeholt etwa so: „Am 6.4. gegen 10.45 Uhr auf der Kreuzung in Mettenwalde wirft der NSW-Kraftfahrer des Fahrzeuges eine Schachtel Zigaretten [Name] zu, die dieser Bürger auch aufnimmt.“

Die GMS „Schirm“,[27] der am Zossener Damm in Schöneiche wohnte, und GMS „Heinz I“ hielten die Staatssicherheit über politische Einstellungen der Mitarbeiter der Deponie auf dem Laufenden. Etwa so: „[Name] war vor ca. 20 Jahren Kandidat der SED, ist aber dann ausgetreten, weil nach seiner Meinung viele Mitglieder der SED Hohlköpfe sind.“[28] Zur Absicherung des „Deponiekörpers“ gelangte auch IMS „Norbert“ zum Einsatz, der in der Straße der Jugend in Schöneiche wohnte,[29] aber auch IMS „Heinz Müller“, der am Schöneicher Plan wohnte,[30] oder IMS „Wolfgang Gruber“, der Leiter der Abteilung Ordnung und Sicherheit der VEB Deponie in Potsdam war. „Wolfgang Gruber“ war es auch, der an einer Party mit West-Berlinern teilnahm, darüber im August 1988 die Staatssicherheit informiert hielt. Lapidar heißt es über ihn, dass er das lediglich berichtet habe, um sich abzusichern.[31] Auch IMS „Sascha“, der jahrelang Offizier im besonderen Einsatz der Staatssicherheit war, hatte als Direktor für Produktion einen beachtlichen Einblick in die VEB Deponie in Potsdam. Um über die Entwicklung der Sondermüllverbrennungsanlage unterrichtet zu sein, warb die Staatssicherheit den Mitarbeiter IMS „Gustav“, der in der Abteilung Öffentliche Versorgungswirtschaft beim Rat des Bezirkes in Potsdam tätig war. Von „Gustav“ erfuhr die Staatssicherheit auch, dass das Wohnungsbauvorhaben in Schöneiche gefährdet war.[32] Zum inoffiziellen Netz, das auch über die Deponie in Schöneiche berichtete, gehörte der Probennehmer IMS „Walter“,[33] und der Wissenschaftler der Abteilung Geologie beim Rat des Bezirkes Potsdam, IMS „Heinz II“.[34] Der Vorgänger von „Sascha“ als Direktor für Produktion der VEB Deponie Potsdam war IMS „Wolfgang Fredersdorf“, der diese Aufgabe von 1978 bis 1984 ausführte.[35] Zu erwähnen wäre noch IMS „Weiseritz“, der für die Sicherung eines Zweigbetriebes der Deponie zuständig war.[36] Im Kern ging es um das bereits von „Kaelble“ formulierte Programm, namentlich die West-Ost-Kontakte zu kontrollieren und faktisch das Umweltrisiko zu vertuschen. Ins Visier geriet beispielsweise der Beschäftigte „Ratte“, weil aus seinen dienstlichen Kontakten zu „Westfahrern“ private Kontakte wurden.[37] Oder der Westfahrer „Mercedes“, über den IMB „Albert“ berichtete, dass er Musikanlagen in die DDR und Zigarettenstangen nach West-Berlin schmuggelte.[38] Die auffallend hohe Informationsdichte schützte dennoch nicht davor, dass die Probleme mit der Deponie und deren Folgen nicht gelöst werden konnten.

Hinweise auf Probleme

„Der größte Teil der amtlich registrierten Mülltransporte ging in die DDR. Damit … wurde die DDR zur größten Müllkippe Europas“, erklärte der SPD-Bundestagsabgeordnete Reinhold Hiller.[39]Die Staatssicherheit war über die Umweltgefährdung und Probleme mit der Deponie informiert. Zwei Beispiele sollen dies illustrieren: Der bereits erwähnte Probennehmer auf der Deponie, IMS „Walter“, unterrichtete die Staatssicherheit laufend über die Folgen der Ablagerungen auf der Deponie. Wiederholt wies er auf den hohen Grundwasserstand auf der Deponie hin, mit der Folge, dass Nitrate ins Grundwasser gelangten.[40] Die Staatssicherheit meldete dies zwar weiter, doch das änderte sich nichts – „keine Reaktion“.[41] IMS „Walter“ berichtete auch über den hohen Ölgehalt des Bodenaushubs, der beim Neubau einer Daimler-Niederlassung in Berlin-Neukölln anfiel.[42] Im Klartext: „Durch Westmüll verseuchtes Grundwasser“, schrieb Carlo Jordan, „bedroht die Brunnen der märkischen Orte Ketzin, Galloun, Mittenwalde und Schöneiche“.[43]

Durch die Abfälle auf der Deponie entstand Biogas, dessen Nutzung Anfang der 1980er Jahre auf die Tagesordnung gelangte. Ein anderer Probennehmer, der erwähnte IMS „Heinz II“, hatte Zweifel an einer Schweizer Firma, die mit der Metangas-Gewinnung beauftragt werden sollte. Als die Biogasanlage 1982 in Betrieb genommen wurde, konnte auf diese Weise der Energiebedarf an der Deponie gedeckt werden. „Heinz II“ konnte sich mit seinen Bedenken nicht durchsetzen, lenkte schließlich ein: „Über die Notwendigkeit der Entgasung der Deponie Schöneiche sowohl aus Sicherheitsgründen als auch zur Nutzbarmachung des Energiepotentials besteht heute kein Zweifel mehr.“[44] Als 1984 die Debatte um die Erstellung einer Sondermüllverbrennungsanlage auf der Deponie Schöneiche lief, hielt er den Standort für gut gewählt, wandte aber ein: „Ich meine, die Anlage muss so klein wie möglich gehalten sein, um damit die ersten Erfahrungen zu sammeln. Die von VEB Deponie geplante Anlage überschreitet in allen Formen das kalkulierbare Risiko.“[45]

Zweifel an der Biogasanlage äußerte auch der Direktor für Produktion, IMS „Wolfgang Fredersdorf“: Der Versuch 1982 sei zwar gut verlaufen, aber die Schweizer Firma habe früher stets Probleme mit solchen Anlagen gehabt. Er beharrte jedoch darauf, dass die verbrachten Abfallstoffe auf der Deponie „nicht projektgerecht“ verdichtet würden.[46] Immerhin, selbst die „Hauptwaffe im Kampf gegen den Feind“ konnte nicht die Augen davor verschließen, dass die Umwelt zerstört wurde. – Als die Stadtverordneten von Zossen dreißig Jahre später, im März 2011, über eine Biogasanlage berieten, lehnten sie diese ab. Der Duft war nicht mehr erwünscht.

Widerstand und Öffentlichkeit

Die „Umweltbibliothek“ in Ost-Berlin machte in ihren „Umweltblättern“, auf Veranstaltungen und Seminaren, aber auch mit Aktionen auf die Umweltzerstörung durch die Deponie in Schöneiche aufmerksam. Aber eine breite Öffentlichkeit wurde erst im Herbst 1987 erreicht. Am 27. September 1987 berichteten zwei Mitglieder der Alternativen Liste, die zuvor mit Angehörigen der Umweltbibliothek den Bauplatz der Verbrennungsanlage Schöneiche aufgesucht und Videoaufnahmen gemacht hatten, auf einer Veranstaltung der „Umweltbibliothek“ über Einzelheiten des Müllgeschäfts. Sie informierten auch über die Missachtung der Umweltstandards wie sie in West-Berlin gelten. IMB „Max“ hielt die Staatssicherheit über diese Veranstaltung informiert. Die Bilder über die Bauarbeiten an der Sondermüllverbrennungsanlage und überfüllte Mülldeponie in Vorketzin wurden als Beitrag in „Kontraste“ ausgestrahlt.[47] Die Bürger in Schöneiche und die Staatssicherheit waren alarmiert. Die Staatssicherheit griff zu Repressivmaßnahmen. Im November 1987 durchsuchte sie die Räume der „Umweltbibliothek“.[48]

Im Januar 1988 wandte sich die „Umweltbibliothek“ an den Senator für Stadtentwicklung in West-Berlin und verlangte eben diesen westlichen Standard bei der Errichtung der Sondermüllverbrennungsanlage. „Wir als Umweltschutzgruppe haben ausreichend Erfahrungen, wie fahrlässig staatliche Stellen in der DDR die Müll-Problematik angehen. Nicht nur, dass wir konstatieren, dass der West-Berliner Senat offenbar damit nicht anders umgeht, müssen Sie unseren negativen Erfahrungen in der DDR nicht noch weitere hinzufügen. … Behalten Sie Ihren Müll, solange … eine öffentliche Kontrolle (auch in der DDR) über eine ordnungsgemäße Entsorgung nicht gewährleistet ist. Sollten unsere Forderungen im Interesse des Umweltschutzes nichterfüllt werden, sehen wir uns gezwungen, rechtliche Schritte einzuleiten.“[49]

Als die Sondermüllverbrennungsanlage ihren Probebetrieb aufnahm, protestierte die „Umweltbibliothek‘“ im November 1988 mit einer Presseerklärung und führte einen Protestmarsch gegen die Sondermüll­ver­bren­nungsanlage in Schöneiche statt. „Robin Wood“ hinderte an der Grenze am Kirchhainer Damm (West-Berlin) den Abtransport.[50] Sowohl die Volkspolizei in der DDR, wie auch die Polizei in West-Berlin gingen gegen diese Aktivitäten vor. Es kam zu Zuführungen bzw. Inhaftierungen und Ordnungsstrafen: Hie 300 Mark, dort 600 DM. Dieses Engagement ist auch in der Literatur beispielsweise durch Thomas Klein[51] und Wolfgang Rüddenklau[52] bereits bekannt.

Weniger bekannt ist, das Engagement von Bürgern in Schöneiche selbst. So protestierten Schüler der 9. und 10. Klassen im Januar 1989 mit Handzetteln gegen die Sondermüll­verbrennungsanlage wie auch die Abfallverbringung. Die Staatssicherheit recherchierte alle Schüler und ließ diese registrieren. Oder im Juni 1989 konstatierte die Staatssicherheit: „Inoffiziell wurde bekannt, dass es unter der Bevölkerung der Umgebung der Müllverbrennungsanlage Schöneiche eine sehr gespannte Stimmung zur gesamten Problematik gebe. Das gehe so weit, dass die dort tätigen ausländischen Bürger offen bedroht werden, weil man sie für den Aufbau der Anlage verantwortlich macht.“[53]

Diese Proteste ließen auch die Staatssicherheit vorsichtig werden. Als ein weiteres Geschäft mit der Stadt Hamburg im Mai 1989 in Aussicht stand, wurde angesichts von täglich zusätzlich zu erwartenden fünfzig Fahrzeugen in Schöneiche befürchtet, diese könne durch "feindlich-negative Kräfte" zu "negativen Reaktionen" führen – die es bereits gab, denn die „Umweltbibliothek“ reagierte bereits auf den „Müllsozialismus“ der Hansestadt.[54] Fraglich erschien es der für Volkswirtschaft zuständigen Hauptabteilung XVII, ob der Gewinn von 6 Millionen DM dazu in einem geeigneten Verhältnis stünde. Mit dem Vorgang befasste sich bereits die Ministeriumsspitze.[55]

Nach der Herbstrevolution, im Januar 1990, blockierten Anwohner in Schöneiche die Deponie, um weitere Transporte zu verhindern. Diese Aktivitäten erreichten auch den Zentralen Runden Tisch in Ost-Berlin, der sich damit befasste.[56] Schließlich stoppte das Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft weitere Transporte nach Schöneiche.[57]

Schluss

Der Sozialismus sollte länger leben mit den Devisen für den Dreck aus West-Berlin. Ein übel duftendes Menetekel schlechthin. Die Staatssicherheit hatte die Deponie in Schöneiche – angefangen von der Kreisdienststelle bis zum Ministerium in Berlin – mit einem breiten Netz an inoffiziellen Mitarbeitern abzusichern. Die Devisen kamen, aber mit dem Dreck wuchs ein deutsch-deutscher Widerstand, der sich durch Repressivmaßnahmen nicht mehr beeindrucken ließ. Das blieb nicht wirkungslos – ein weiteres Geschäft mit dem Müll aus Hamburg platzte deshalb im Mai 1989. Letzthin erwies sich, dass auf jedem Container aus West-Berlins die Diversion transportiert wurde, die dem Sozialismus in der DDR die Lebensdauer minderte. Als die Bürger Schöneiches endlich frei entscheiden konnten, blockierten sie im Januar 1990 weitere Transporte. Dann wehrten sie sich gegen eine neue Biogasanlage.

 


[1]

[2]           Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, IV 738/70, Teil II, Bl. 357. Die Recherchen wurden unterstützt von Simone Loesch-Humke. Der Beitrag ist eine gesichtete und überarbeitete Fassung des Artikels „Schöneiche – Dreck, Devisen und Staatssicherheit, in: Horch und Guck 21(2012)2, S. 15–19. Hierzu vgl. Franziska Kuschel: Schwarzhörer, Schwarzseher und heimliche Leser. Die DDR und die Westmedien, Göttingen 2016.

[3]           Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, XVIII Nr. 1235.

[4]           Vgl. Julia E. Ault: Saving Nature Under Socialism. Transnational Environmentalism in East Germany 1968–1990.Cambridge 2021, S. 194; Tim Mohr: Stirb nicht im Warteraum der Zukunft. Die ostdeutschen Punks und der Fall der Mauer. München 2017; Christian Böhmer: Letzte Runde im alten Stasi-Autodrom, in: die tageszeitung vom 8.12.1990, S. 40; Claudia van Laak: Ab in die DDR! – Wie die Westberliner ihren Müll in der DDR-Gemeinde Schöneiche entsorgten, in: Deutschlandfunk Kultur vom 4.10.2012.

[5]           Vgl. Gerhard Lange, Klaus Knödel: Handbuch zur Erkundung des Untergrunds von Deponien und Altlasten. Band 8. Berlin 2003, S. 95–97.

[6]           Vgl. Jinhill Park: Der „Langfristvertrag“ oder das zweifelhafte Glück der Kurzsichtigkeit. West-Berliner ‚Müllentsorgung‘ in die DDR, in: Susanne Köstering, Renate Rüb (Hg.): Müll von gestern? Eine umweltgeschichtliche Erkundung in Berlin und Brandenburg. Münster 2003, S. 73–86, hier 80.

[7]           Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, Abt. XVIII Nr. 1253, Bd. 1.

[8]           Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, AKG Nr. 175/7.

[9]           Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, AIM 160/82, Bl. 261.

[10]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, AKG Nr. 175/7, Bl. 5.

[11]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, AIM 65/89.

[12]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, IMS „Sascha“, IV 1130/86, S. 8.

[13]         Vgl. Reinhold Hiller: Die ökologische Sicherheitspartnerschaft – eine deutsch­land­politische Notwendigkeit, in: Deutschland Archiv 22(1989)7, S. 819–828, hier 822.

[14]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, OPK „Streicher, Reg.-Nr. IV 725/89; Abt. II Nr. 735.

[15]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, AIM 19/74, Teil II, Bl. 108.

[16]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, AKG Nr. 175/7.

[17]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, KuSch Nr. 10233.

[18]         Beispielsweise gab es bei Zossen die Troposphärenfunkzentrale der GSSD mit dem Rufnamen „Bremen“. Sie sollte auch als Gefechtsstand und als Deckung für Flugzeuge dienen. Vgl. Gerhard Kaiser: Sperrgebiet. Die geheimen Kommandozentralen in Wünsdorf seit 1871. Berlin 1998, S. 128.

[19]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, AKG Nr. 433, Bl. 45.

[20]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, AKG Nr. 1500, Bl. 6.

[21]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, ebenda, Bl. 4. Nach den IM-Kategorien teilte sich das wie folgt auf: 87 Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit (GMS), 237 IM zur Sicherung und Durchdringung des Verantwortungsbereiches (IMS), 16 IM im besonderen Einsatz (IME), 1 Führungs-IM (FIM), 99 IM zur Sicherung der Konspiration und des Verbindungswesens (IMK) und 7 IM der Abwehr mit Feindverbindung bzw. zur unmittelbaren Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen (IMB).

[22]         Vgl. ebenda, Bl. 5.

[23]         Vgl. IMK/KW „Erika“; Reg.-Nr. XV 2103/85.

[24]         Vgl. IKMA „Max“; Reg.-Nr. 358/79.

[25]         Vgl. IMK/KW „Otto“; Reg.-Nr. IV 966/79; BArch, MfS, BV Potsdam, Abt. XVIII Nr. 647.

[26]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, AIM 19/74, Bl. 122.

[27]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, IV 2464/80.

[28]         BArch, MfS, BV Potsdam, AIM 160/82, Bl. 271.

[29]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, XV 412/71.

[30]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, XVIII 1045/75.

[31]         Vgl. ebenda, Teil II, Bl. 259.

[32]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam; Abt. XVIII Nr. 317; IV 1360/86.

[33]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, AIM 78/83.

[34]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, AIM 115/83.

[35]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, AIM 167/82.

[36]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, IV 1703/80.

[37]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, AKG Nr. 1621, Bl. 9.

[38]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, Abt. II Nr. 1062, Bd. 1.

[39]         Vgl. Hiller: ökologische Sicherheitspartnerschaft (Anm. 11), S. 822.

[40]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, AIM 78/83, Bl. 244.

[41]         Vgl. ebenda.

[42]         Vgl. ebenda, Bl. 249.

[43]         Carlo Jordan, Hans Michael Kloth: Arche Nova: Opposition in der DDR. Das ‚Grün-ökologische Netzwerk Arche‘ 1988–90. Berlin 1995, S. 486.

[44]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, AIM 167/82, Teil II/1, S. 257.

[45]         Vgl. ebenda, Teil II/2, S. 177.

[46]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, AIM 167/82, Bl. 116 f.

[47]         Vgl. Umwelt. Dreck gegen Devisen, in: Der Spiegel (1988)4 vom 25.1.1988, S. 70.

[48]         Vgl. Christian Halbrock: Die unabhängigen Umweltgruppen der DDR. Forschungsstand und Überblick, in: Deutschland Archiv Online (2012)1.

[49]         Vgl. hierzu Marlies Menge: „Ohne uns läuft nichts mehr“. Stuttgart 1990, S. 17.

[50]         Vgl. Information Nr. 478/88 über die provokatorisch-demonstrative Blockierung der Grenzübergangsstelle Mahlow durch Mitglieder der Umweltschutzorganisation »Robin Wood« am 1. November 1988; BArch, MfS, ZAIG Nr. 3711, Bl. 1–9.

[51]         Vgl. Thomas Klein: Frieden und Gerechtigkeit. Die Politisierung der unabhängigenFriedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre. Köln 2007.

[52]         Vgl. Wolfgang Rüddenklau: DDR-Opposition 1986–1989. Mit Texten aus den "Umweltblättern". Berlin 1992.

[53]         Vgl. BArch, MfS, BV Potsdam, AKG Nr. 441, Bl. 5.

[54]         Vgl. Ehrhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949 – 1989. Berlin 1998, S. 746.

[55]         Vgl. BArch, MfS, HA XVIII Nr. 5748, Bl. 11–14; ebenda, Sekretariat Mittig, Nr. 180. Ferner Maria Haendcke-Hoppe-Arndt: Die Hauptabteilung XVIII: Volkswirtschaft. Berlin 1997, S. 115; dies.: Wer wußte was? Der ökonomische Niedergang der DDR, in: Deutschland Archiv 28(1995)6, S. 588–602, hier 602.

[56]         Uwe Thaysen: Der zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente. Bd. 4. Hamburg 2000, S. 1136.

[57]         Vgl. Aktuelle Kamera vom 27.1.1990: Mülldeponie Schöneiche. Ferner Severin Weiland, Miachela Wimmer, Bernhard Michalowski: Neunter November, das Jahr danach. München1990, S. 42.