Smog kennt keine Grenzen 

Gemeinsame Umweltaktivitäten im Vorfeld der Wende

Von Hartwig Berger[1]

Im Jahr 1983 fanden sich Bewohner*innen aus dem Umkreis des Heizkraftwerks Charlottenburg, an der Spree westlich des Schlossparks gelegen, zu einer Bürgerinitiative zusammen. Nicht von ungefähr tauften sie diese auf den Namen „Atemberaubendes Charlottenburg“. Eltern von Kindern, die um die Gesundheit ihrer Kinder besorgt waren, bildeten den Kern der Gruppe von zeitweise 60 Mitgliedern. Gefürchtet war vor allem ein quälender Husten, Pseudokrupp, unter dem viele Kleinkinder damals litten und der auf Emissionen vor allem aus Kraftwerken und auch dem Autoverkehr zurückgeführt wurde. Als lokaler Hauptverursacher wurde das genannte Kraftwerk gesehen, das die „Inselstadt“ mit Strom und Fernwärme versorgte.

Betreiber des Kraftwerks war damals die Berliner Städtische Elektrizitätswerke AG (BEWAG), eine zu 52% West-Berlin gehörende Aktiengesellschaft. Die Kritik der Bürgerinitiative zielte vor allem darauf, dass die BEWAG gerade hier den Einbau von Rauchgasreinigungen für Schwefeldioxid wie von Stickoxid, die das Kraftwerk im Umfang von jeweils rund 7.000 t pro Jahr in die Luft blies, verzögerte und verschleppte. Das war damals durchaus ein Paradebeispiel für die im verfilzten Westberlin vorherrschende Ignoranz in Umweltfragen. Immerhin erreichte „Atemberaubendes Charlottenburg“ mit presse- und publikumswirksamen Aktionen, dass  die BEWAG sich gezwungen sah, ihre Planungen vor Ort zu beschleunigen.

Allerdings war allen Beteiligten klar, dass damit nur eine recht begrenzte Luftentlastung erreichbar war. Regelmäßige winterliche Smogperioden machten unverkennbar deutlich, dass auch der – noch katalysatorfrei betriebene – tägliche Straßenverkehr und der grenzübergreifend stark betriebene Hausbrand, vor allem aber die Braunkohle-Kraftwerke der DDR einen erheblichen, ja vorrangigen Beitrag zur chronischen Luftmisere leisteten. Zumal die DDR-Führung nicht irgendwie erkennbar plante, die Kraftwerke in der Lausitz zu entschwefeln und zu entsticken. So mussten alle Berliner*innen, diesseits oder jenseits  der Mauer, mit ihrer Gesundheit und Lebensqualität darunter leiden.

Es war daher nur konsequent, dass die Bürgerinitiative Atemberaubendes Charlottenburg Kontakte zu Umwelt-Initiativen in unserer Stadt jenseits der Mauer suchte. Einen zusätzlichen Anstoß gab hier die Atomkatastrophe von Tschernobyl, die bekanntlich im Westen zu einer breiten Bewegung führte, die aber auch von den Öko-Gruppen im Osten deutlich wahrgenommen wurde. Die Kontakte der BI zum „Grünen Netzwerk Arche“ und zur Umweltbibliothek wurden über Journalistinnen aus der Umkreis der Evangelischen Kirche vermittelt.

Natürlich waren Gespräche, der Erfahrungsaustausch und die wechselseitige Übermittlung von Schriften nur über Besuche von West nach Ost möglich und sie führten auch bald über unser erstes gemeinsames Anliegen – die Luftbelastung in der Stadt – hinaus. So drängten unsere neu gewonnenen Öko—Freunde jenseits der Mauer darauf, dass wir gegen den Export von Westberliner Haus- und Sondermüll, zu im Übrigen Dumpingpreisen, auf Deponien in der DDR vorgingen. Beide Deponien, Schöneiche im Südosten, Vorketzin in Südwesten der Stadt, waren völlig ungesichert. Insbesondere Vorketzin war mit direkten Zuläufen zur Havel  verbunden. Der Sondermüll dort war in offenen Becken unter freiem Himmel gelagert. Diese skandalösen, von den Berliner Stadtreinigungsbetrieben (BSR) und dem Senat im Westen hingenommenen und mitbetriebenen Zustände konnten wir damals wenigstens aus der Ferne, mit einer gemeinsamen Autofahrt in die Nähe von Schöneiche in Augenschein nehmen.

Der Müllskandal fand in den Westberliner Medien damals nur geringe Aufmerksamkeit. Im Abgeordnetenhaus machte die 1985 erstmals dort einziehende Alternative Liste den Skandal zum Thema, wurde aber vom damaligen CDU/FDP Senat abgebügelt. So hat Atemberaubendes Charlottenburg, in  Absprache mit dem Grünen Netzwerk Arche, 1988 eine kleine Grenzblockade am Kirchhainer Damm  an der Südgrenze der Stadt, organisiert. Hier war ein Übergang für die Müllfahrzeuge der BSR zugelassen.

Die Aktion war unerwartet leicht durchzuführen, da sie quasi im Niemandsland zwischen Ost und West stattfand und der Polizei auf beiden Seiten der Grenze unklar war, ob sie oder die andere Seite zuständig oder berechtig war, an dieser Stelle einzuschreiten. Auch kamen wir nach Abbruch der Aktion „ungeschoren“ davon, weil sie nach Ansicht der West-Behörde ja nicht auf dem von ihrer verwalteten Gelände stattgefunden hatte. Im Rückblick erweist es sich somit als bedauerliches Versäumnis, dass diese Aktion nicht seitens der West-Berliner Umweltbewegung wiederholt wurde. Immerhin hatte der Müllskandal ein grenzübergreifendes Nachspiel 1989/90.  Mit dem Amtsantritt einer Grünen/AL Umweltsenatorin, Michaele Schreyer, im Frühjahr 1989 wurde zumindest der geradezu öko-kriminelle Transport von Sondermüll nach Vorketzin gestoppt, während Hausmüll weiterhin dort und in Schöneiche, Gewerbemüll auch nach Deetz an der Havel abgeladen wurde. Insbesondere von einer schnell gebildeten BI in Ketzin organisiert, fand daher zu  Jahresbeginn 1990 die wohl erste Umwelt-Protestkundgebung mit weit mehr aus 1.000 Teilnehmenden aus der noch existierenden DDR vor dem Schöneberger Rathaus statt.

Was die gemeinsam ertragene hohe Luftbelastung durch die Kohlekraftwerke in Ost wie West angeht, beschränkte sich die Zusammenarbeit der beiden genannten Umwelt-BIs auf die Ausarbeitung  gemeinsamer grenzüberschreitender Vorschläge. Im Zentrum stand dabei die damals zugegebenermaßen utopische Idee, in West wie in Ost einen gemeinsamen „Kohlepfennig für eine bessere Luft“ einzuführen, in der jeweiligen Währung, doch zur gemeinsamen Verwendung gedacht. Alle Stromkunden sollten für jede genutzte kWh einen zusätzlichen Pfennig entrichten, der zweckgebunden einzusetzen sei. Mit dem Geld sollten zum einen Rauchgasreinigungen vor allem in den Kohlekraftwerken der Lausitz finanziert werden, zum anderen sollte der Kohlepfennig dazu dienen, gezielt in Ost wie in West Maßnahmen der Energieeinsparung zu unterstützen. Letzteres war uns besonders wichtig, weil wir in unseren wechselseitigen Kontakten auch über die Großrisiken der Erderwärmung diskutierten, die sich bereits damals unverkennbar und bedrohlich abzeichneten.

Eine gemeinsame Presseerklärung zu unserem Vorschlag konnten wir im Frühjahr 1988 selbstredend nur im Westen veröffentlichen, wo sich die Resonanz in Öffentlichkeit wie Politik sehr in Grenzen hielt. Dass über Jahrzehnte ein „Kohlepfennig“ als Überlebenshilfe für den Steinkohle-Bergbau im Ruhrgebiet erhoben wurde, galt selbstverständlich und weitgehend unstrittig. Dasselbe Instrument grenzüberschreitend einzuführen, um dringende und wichtige Umweltmaßnahmen zu finanzieren, galt als eher weltfremd und ungewöhnlich.

So handelten wir uns mit unserer grenzüberschreitenden Aktion lediglich mehr Aufmerksamkeit und „Zuwendung“ seitens der Stasi ein, die wir bei unseren Grenzübertritten an den verschärften Kontrollen bermerkten. Im Wendejahr 1989 wurde dann unsere Zusammenarbeit in anderer Weise politisch. Das Grüne Netzwerk Arche konzentrierte sich damals neben Begrünungsaktionen in Berliner Kiezen auf die besonders schlimme Umweltsituation um die Chemiekombinate von Bitterfeld und die radiaktive Verseuchung durch den Uranabbau in Thüringen, die Planung eines neuen AKWs an der Elbe bei Magdeburg sowie auf die Dokumentierung der Manipulationen und Fälschungen bei den Kommunalwahlen im Mai 1989. Unsere Öko-Zusammenarbeit konzentrierten wir auf den Tag der Umwelt am 5. Juni, der im Westteil mit einer Fahrradsternfahrt über die gesperrte Berliner Stadtautobahn, die legendäre  Avus,  zum Verkehrsknotenpunkt an der Berliner Siegessäule, dem Großen Stern begangen wurde. Verschiedene Umweltgruppen jenseits der Mauer veranstalteten parallel den Tag der Umwelt in der Kirche von Alt-Treptow. Zu diesem Treffen kamen, neben eigenen Mitgliedern unserer Bürgerinitiative auch Landtagsabgeordnete der AL – und wir vereinbarten den Tag der Umwelt im folgenden Jahr gemeinsam zu begehen, wobei die Art und Weise der Gemeinsamkeit noch zu klären war. Wir konnten damals nur davon träumen, dass  der Umwelttag 1990 dann auch wirklich gemeinsam mit einer wirklichen Fahrradsternfahrt von verschiedenen Starts stattfand, um zu einem Umweltfest vor dem Brandenburger Tor zu führen, das hauptsächlich von der  erst in der Wendezeit der DDR gegründeten Grünen Liga organisiert war.

Vom Traum zum Albtraum

Ein anderer Traum unserer Umwelt-Zusammenarbeit verwandelte sich nach der Wende im Wortsinn in Luft: Die Förderung und Verstromung der Braunkohle war eine der wenigen Großindustrien, die das Ende der DDR überstand und mit ihr der „wirkungsvollste“ Beitrag aus unserer Region zur sich schon damals klar abzeichnenden Klimakatastrophe. Zeitgleich mit dem Prozess der Wende, im März 1990, veröffentlichte der Weltklimarat seinen ersten Sachbericht, mit so alarmierenden Prognosen, dass bei einem „weiter so“, dem „business as usual“ Szenario, die Erderwärmung bis 2025 um 2 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Stand, um bis zu 4  Grad bis 2100 zunehmen, und der Meeresspiegel um 10 cm pro Dekade ansteigen werde. Es konnte sich auch kein Politiker oder Journalist mit Hinweisen auf eine schwer zugängliche Fachsprache zurückziehen, denn der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) hatte eine verständliche Kurzfassung seinem Bericht beigefügt.

 Im deutschen Vereinigungsprozess wurde der IPCC-Bericht fast gänzlich ausgeblendet. Nur eine Partei, die Grünen im Westen, machte ihn und seine alarmierenden Prognosen zu einem zentralen Thema im Wahlkampf zum ersten gemeinsamen Bundestag - und sie blieben nach  Einschätzung vieler der damaligen Medien und Wahlforscher, aus eben diesem Grund mit einem Ergebnis unter 5% ohne parlamentarische Vertretung.

Für die Fortsetzung der Braunkohle-Verstromung gab es damals ein nahezu parteiübergreifendes Bündnis. Und das trotz der besonders schlechten Klimabilanz dieses Energieträgers, den im Vergleich selbst zur Steinkohle höheren relativen CO2-Emissionen und ungeachtet der wegen der Lage der Kraftwerke ausgeschlossenen (Fern-)Wärmenutzung. Hinzu kamen Verwüstungen ganzer Landschaften, die Vernichtung von Dörfern und der langfristigen Ruin des Wasserhaushalts in der Region. Bezüglich der hohen Luftbelastung wurden die ostdeutschen Kraftwerke bei hohen staatlichen Zuschüssen mit Rauchgasreinigungen versehen und mit wenigen Ausnahmen, wie dem Kraftwerk-Komplexes Vetschau, weiter betrieben.

Verspielt wurde damit auch die Chance einer zukunftsgerechten wirtschaftlichen Umgestaltung gerade in den betroffenen Regionen, die heute, 33 Jahre zu spät, mit den Milliardensummen des sogenannten Kohlekompromisses von 2019 kaum mehr einzuholen ist. Mit einer Vorform des 10 Jahre später beschlossenen Erneuerbare-Energien-Gesetzes hatte der letzte westdeutsche Bundestag  Ende 1990 günstige Startbedingungen für Wind-, Wasserkraft-, Solar- und Bioenergie geschaffen. Wobei das bei Wind- und insbesondere der Solarenergie auch als Startimpuls zur technischen Weiterentwicklung gedacht war, um sie auch ökonomisch zu konkurrenzfähigen Energieträgern zu entwickeln. Die hohen in die Kohleregionen gespülten direkten und indirekten Subventionen waren nicht nur im Rückblickt weit sinnvoller zum Aufbau einer zukunftsträchtigen Solarwirtschaft zu nutzen; statt mit der Kohleindustrie  weiter Treibhausgase im Umfang von insgesamt Milliarden Tonnen an CO2 zu produzieren (und mit der Spree für die kommenden Jahrzehnte dem Großraum Berlin die Trinkwasserförderung abzugraben). Heute steht die Lausitz wegen der verlängerten der Braunkohlenutzung vor einem ökologischen und ökonomischen Scherbenhaufen. Zugleich wurde signifikant zur Deregulierung des Weltklimas beigetragen, die Zukunft der nachfolgenden Generationen auf diesem Planeten aufs Spiel zu setzen. Ein Albtraum.

 


[1] Hochschullehrer für Soziologie und Sozialphilosophie, von 1989-2001 Landtagsabgeordneter für die AL in Westberlin 1889/90, von 1991-2001 für Bündnis 90/die Grünen im vereinigten Berlin, von 2002-2014 Vorsitzender des Ökowerk Berlin.