Von Christian Halbrock

Wenn im Folgenden von der unabhängigen Umweltbewegung die Rede ist, so geht es um die staatlich unabhängigen Umweltgruppen und die nicht wenigen Einzelkämpfer, um Umweltaktionen und Initiativen sowie Aktionen und Happenings außerhalb des Rahmens derpolitischen Betätigung, den der SED-Staat vorgab und mittels Repressionen durchzusetzen versuchte. Im Grunde genommen ist damit bereits das eigentliche „Vergehen“ dieser Initiativen beschrieben: Häufig ging es bei den staatlichen Gegenmaßnahmen weniger inhaltlich um die benannten Defizite im Umweltschutz, die von einzelnen Vertretern der staatlichen Seite sogar mitunter hinter vorgehaltener Handzugegeben wurden. Vielmehr ging es um die unerwünschte politische Eigeninitiative, die im SED-System als solche nicht vorgesehen war. Ein Großteil der beanstandeten Aktivitäten vollzog sich im Schutzraum der Kirche bzw. unter Nutzung desselben in dessen Umfeld´. Vieles geschah aber ebenso außerhalb der Kirche.

Im Folgenden geht es also nicht um die Gruppen, die im Rahmen des offiziellen DDR-Kulturbundes in der Abteilung Natur- und Heimatfreunde bzw. ab 1980 in der Gesellschaft für Natur- und Umwelt organisiert waren. Letztere sollte das Umweltengagement in staatlich vorgegebene Kanäle lenken und dafür sorgen, dass keine politisch unliebsamen Fragen aufgegriffen wurden. Kritik an der Wirtschaft und Industrie in der DDR waren unerwünscht. Doch auch hier gab es ab Mitte der 1980er Jahre einzelne Gruppen, die sich nicht mehr, wie von ihnen erwartet, an diese Beschränkungen hielten und vernehmbar auf Fehlentwicklungen und Missstände hinwiesen. So die Gruppe für Natur und Umwelt in Berlin-Köpenick. Aus Protest gegen den Stadtverfall und den drohenden Abriss entstanden in Berlin auch rund um die Oderberger Straße am Prenzlauer Berg und in Potsdam mit der Gruppe ARGUS  Initiativen, die sich weitgehend vom Kulturbund bzw. dem staatlich vorgegebenen Rahmen verselbständigten. 

Mit den vom Schriftsteller und Umweltschützer Reimar Gilsenbach und seiner Frau, beide Mitglieder im Kulturbund, initiierten Brodowiner Gesprächen gab es eine Art Vorläufer für die an Dynamik gewinnende unabhängige Umweltbewegung. Zwar begannen die eigentlichen Gespräche erst ab 1981. Doch hatte Reimar Gilsenbach von Brodowin aus schon seit 1975 mit seinen Texten das Bewusstsein des Menschen gegenüber seiner Umwelt, einer Umwelt nach seinem Verständnis im weiteren Sinne, zu schärfen versucht.

Die Impulse und Initiativen, die ab 1979, 1980 und 1981 zur Herausbildung einer unabhängigen Umweltbewegung führten, waren insgesamt jedoch vielfältig. Sie gingen von kirchlichen Einrichtungen wie dem Kirchlichen Forschungsheim in Wittenberg oder wie in Schwerin und Rostock von der Jugend- und Schülerarbeit der Kirche aus. Zu einem nicht unwesentlichen Teil hatten einzelne Engagierte hier Eigeninitiativen entwickelt und die kirchlichen Strukturen und Möglichkeiten für sich zu nutzen gewusst.

Wie alles losging

Von den vielfältigen Aktivitäten können hier nur einige exemplarisch erwähnt werden. Eine Rolle spielte die vom Kirchlichen Forschungsheim herausgegebenen Broschüre „Die Erde ist zu retten. Umweltkrise, christlicher Glaube, Handlungsmöglichkeiten“. Mehrere hundert Exemplare kamen mit den Auflagen von 1980, 1982 und 1985 in Umlauf. Die Broschüre wurde zu einer Art Grundsatzpapier der Umweltbewegung. Im Kern übertrug sie den Ansatz des für die Umweltbewegung im Westen maßgebenden Berichtes des „Club of Rome“ und des Buches von Dennis Meadows „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972 auf die Verhältnisse in der DDR. Verantwortlich für den Text zeichnete ein seit 1977 sich im Forschungsheim treffender Arbeitskreis junger Naturwissenschaftler und Theologen – unter ihnen der Leiter des Forschungsheimes Hans-Peter Gensichen sowie sein Mitarbeiter der Biologe Gerd Pfeiffer und ebenso der „Beauftrage für Glaube und Naturwissenschaft“ der evangelischen Kirche Sachsens, Joachim Krause. Hier trafen verschiedene Denkansätze aufeinander. Das Forschungsheim, das ursprünglich als Antipode zur Evolutionstheorie gegründet in den siebziger Jahren eine Neuausrichtung erhielt, förderte nun den Dialog zwischen Kirche und Wissenschaft. Für die neu entstehenden Gruppen war dieser Aspekt weniger wichtig – entscheidend war für sie, dass es hier einen Anlaufpunkt gab, der der Vernetzung der Gruppen diente.

Zu denen, die an den Treffen in Wittenberg teilnahmen, zählte auch Reinhard Dalchow. 1971 übernahm er die Pfarrstelle Bentwisch in der Nähe seiner Geburtsstadt Wittenberge nur rund dreißig Kilometer von Gorleben entfernt. Durch das Buch „Die Grenzen des Wachstums“ aufgerüttelt, das er sich heimlich aus dem Westen hatte mitbringen lassen, wunderte er sich, warum in der DDR über ein Problem nicht gesprochen werden durfte, das auf der anderen Seite der Grenze die Gemüter erregte. Auch die DDR setzte auf Atomenergie und plante nicht weit von seinem Wohnort entfernt in Stendal ein weiteres Kernkraftwerk. In Morsleben bei Magdeburg betrieb die DDR ihr eigenes Atommüllendlager – die als Tabuthema behandelte Einrichtung konnte kaum sicherer sein als ihr Pendant auf der Westseite der Grenze. Fortan arbeitet Reinhard Dalchow als Theologe mit im Arbeitskreis des Kirchlichen Forschungsheimes und zählte als der „grüne Pfarrer aus Menz“ zu den Mitwirkenden im 1988 neu gegründeten oppositionell-grün-ökologischen Netzwerk Arche.[1]

Ab etwa 1979/1980 schien etwas in Bewegung zu geraten. Dies in vielen Städten der DDR. Als Ausgangspunkt dienten in Schwerin und Rostock die Schüler- und Jugendarbeit der evangelischen Kirche. Zum Programm der vom Landesjugendpfarramt durchgeführten „Osterstationen“ zählte der Programmpunkt, am Sonnabendnachmittag „etwas Praktisches …. zu tun.“ Dazu gehörten, wie sich einer der Beteiligten, Hans-Jürgen Kant, erinnert, „Papiersammel- und Aufräumaktionen, dann aber auch [... in einem Jahr eine Baumpflanzaktion“. Es war ein regnerischer Tag 1979, an den sich Hans-Jürgen Kant sehr gut erinnert. Insbesondere Niko[laus] Voss, der wenig später Gärtner lernte, begeisterte sich für den Umweltgedanken. Er, sein Cousin Karl-Georg Ohse, Roger Thomas, Hans-Georg Meyer, Jörn Mothes und Tillmann Baier griffen den Arbeitseinsatz auf und luden im Rahmen der Evangelischen Schülerarbeit vom 16. bis 18. November 1979 zur ersten Baumpflanzaktion nach Schwerin ein. Etwa fünfzig Jugendliche pflanzten an dem Wochenende entlang einer neuen Straßenbahnlinie ca. 5000 Bäume. Niko Voss und Hans-Jürgen Kant fuhren von hier nach Wittenberg ins Forschungsheim, um nach Möglichkeiten, noch mehr tun zu können, zu fragen. Aufbruchstimmung lag in der Luft. Ein Stück wie die „Grünen“ im Westen wollte man sein und authentisch ohne die allgegenwärtigen Lügen leben und hoffte zugleich, die Gesellschaft von Innen verändern zu können. Für das neue grün-blockübergreifende Lebensgefühl stand auch die von Jörn Mothes, Karl-Georg Ohse und Kersten Koepke 1981 in Vietlübbe bei Lübz in einem leeren Pfarrhaus etablierte Landkommune. Sie wurde zu einem Anlaufpunkt für „grüne“ Freunde aus Ost und West und mit dem neuen Gedanken sympathisierende Jugendliche.

Baumpflanzaktionen gab es bald auch in Rostock, Neustrelitz, Berlin, Dresden und Weißenfels. Die ersten Baumpflanzaktionen fanden in Rostock in enger Kooperation mit dem VEB Grünanlagen statt, der mehrere hundert Bäume stellte und die Umweltaktivisten mit seiner Technik unterstützte. An die fünfzig Jugendliche trafen sich hier jeweils zum Arbeitseinsatz. Am Wochenende vom 24. bis 26. Oktober 1980 luden die Initiatoren unter dem Thema „Nicht nur Hunde brauchen Bäume“ bereits zur 3. Pflanzaktion ein.[2] Die Baumpflanzaktionen waren dabei stets mehr als einfach nur Schritte zur Stadtbegrünung. Vor allem ging es den Gruppen darum, Präsenz zu zeigen, die von der Existenz einer ansonsten nur aus dem „Westen“ bekannten neuen Protestbewegung in der DDR zeugte, und um die „Zeichensetzung im öffentlichen Raum“.[3] Im Rostocker Neubaugebiet pflanzten die Umweltaktivisten – unter ihnen Maren Schirow, Dorothea Schmidt und Jörn Mothes – an jenem Herbstwochenende einige hundert Bäume.[4] Am 14. November 1981 gab es die erste Baumpflanzaktion in Potsdam in den Neubaugebieten Stern, Waldstadt II und Wall am Kiez.[5]

Hans-Jürgen Kant aus Kühlungsbornging mittlerweile zum Theologiestudium nach Leipzig, wo die lutherischen Landeskirchen Sachsen, Thüringen und Mecklenburg am ehemaligen Missionsseminar eine unabhängige Ausbildungsstätte unterhielten. In der Vorausbildung konnten von der Erweiterten Oberschule ausgeschlossene Bewerber ihr Abitur nachholen. Die Neuankömmlinge in der Vorausbildung zum Theologiestudium wurden zugleich zur Arbeit in den Jungen Gemeinden rund um Leipzig hinzugezogen. Sie brachten ihr Thema gleich mit. Zusammen mit Johannes Geisler kam Hans-Jürgen Kant 1980 auf die Idee, in der Stötteritzer Jungen Gemeinde einen Abend zur „Umweltbewahrung“ zu halten. Aus dieser Idee heraus fand sich unter den Anfängern in der Vorausbildung eine „Arbeitsgruppe Umweltschutz“, der anfangs - neben Kant und Geisler – Christian Schoberth und Stephan Magirius angehörten. Die Gruppe traf sich in den Räumen des Konvikts in der Paul-List-Straße 17. Man schlug dem Forschungsheim vor, die „Streiflichter“, ein hektographiertes Informationsblatt, ins Leben zu rufen, das die Leipziger erstellten und Wittenberg „nur zum innerkirchlichen Dienstgebrauch“ herausgab.

Wer die Idee zur Aktion „Mobil ohne Auto“ einbrachte, lässt sich hingegen kaum mehr ermitteln. Vorbild hierfür war der Autofreie Sonntag, der in der Bundesrepublik in Folge der Ölkrise entstand und mittlerweile dazu diente, mehr Umweltbewusstsein von den Autofahrern einzufordern. 1981 druckte das Forschungsheim den ersten hektographierten Aufruf und rief für das erste Juniwochenende – der Weltumwelttag am 5. Juni gab den Anhaltpunkt – zum Aktionstag auf. In Leipzig lud die „Arbeitsgruppe Umweltschutz“ zu einer Fahrradfahrt vom Stadtzentrum nach Liemehna ein. Unter der Überschrift „Freunde, es ist so weit, laßt uns handeln!“ forderten die angehenden Theologiestudenten mit im Stadtjugendpfarramt gedruckten Zetteln zum Mittun auf. Entsetzt zeigte sich Stadtjugendpfarrer Gröger: Die Zettel enthielten nicht den obligatorischen Vermerk „nur zum innerkirchlichen Dienstgebrauch“ und tauchten an verschiedenen Stellen der Stadt auf. Etwa hundert Demonstranten fuhren schließlich nach Liemehna, wo der mecklenburgische Pfarrer Hans-Joachim Wiebering, mittlerweile Dozent am Theologischen Seminar und später Landessuperintendent in Rostock, einen Vortrag hielt. Neben einem Picknick und anderen Angeboten trat der Oberschüler und Liedermacher Ralf Elsässer auf.  

Nach der Aktion wurde der Vorbereitungskreis offiziell dem Stadtjugendpfarramt unterstellt – ihren organisatorischen Rahmen fand die Arbeit nun in der Michaeliskirche bei Pfarrer Aribert Rothe. Inzwischen war die Gruppe auf etwa fünfzig Mitwirkende angewachsen. Im Herbst 1982 zog sich die „alten Kerntruppe“, wie Hans-Jürgen Kant schreibt, zum Hebräisch -Lernen zurück und paukte für die anstehenden Prüfungen. Niko Voss aus Schwerin, der im Herbst vom Bausoldatendienst nach Leipzig kam, übernahm die Arbeit und trieb diese weiterer voran. In enger Kooperation mit Leipzig erschienen neben den „Streiflichtern“ in Wittenberg als hektographiertes Samisdat auch die „Briefe zur Orientierung Mensch – Natur“.  Auch im folgenden Jahr kam es in Leipzig zur Protestfahrt. Das MfS rapportierte eifrig mit: Im Tagesbericht 103/82 meldete die Abteilung XX, „daß Vertreter der sog[enannten. `Grünen`, die ihre Zusammenkünfte im Theologischen Seminar Leipzig durchführen, für den 6. Juni 1982 eine Aktion `Mobil ohne Auto`“ planten.[6] Die „Bedrohung“ erwies sich als real: Die Kreisdienststellen Leipzig Stadt und Land sowie die Polizei beobachteten am 6. Juni 1982 „ab 8.45 Uhr vor der Kirche in L[eipzig]-Lößnitz ca. 250-300 Jugendliche (14-18 Jahre)“, die sich hier versammelten. „Vor der Kirche“, so heißt es weiter, „wurden Handzettel (A 5) mit unbekannten Texten verteilt.“ Von hier aus brach man zur Kirche nach Plaußig auf, wo nach einem Gottesdienst ab 16 Uhr Diskussionsrunden stattfanden und Musiker auftraten.[7]

Der Aufruf „Mobil ohne Auto“ wirkte auch in anderen Städten über Leipzig und Wittenberg hinaus: Ein Beispiel ist die Protestfahrt gegen den Autobahnbau nach Wismar[8], zu der mecklenburgische Umweltaktivisten nach Schwerin einluden und zu dem Demonstranten aus dem Norden und Berlin anreisten. Bereits Mitte Mai 1983 hatte die Abteilung XX der MfS-Bezirksverwaltung Rostock darüber informiert, dass auf dem Kessiner Friedensseminar „ein Jörn aus Schwerin“ Interessierte aus der gesamten DDR nach Schwerin für den 3. bis 6. Juni eingeladen habe.[9] Als Protestform sollte sich die Raddemonstration nach den Vorstellungen von Jörn Mothes an die kirchlich eingebettete Aktion „Mobil ohne Auto“ anlehnen. Unter dem „Vorwand“, etwas ähnliches unternehmen zu wollen, sollte von Schwerin aus eine Demonstration auf Fahrrädern starten. Doch hatte der Staatsicherheitsdienst bereits die Absicht hinter der Tat enttarnt: „Mit dem Fahrrad“ wolle man, so warnte die Abteilung XX, „die Strecke der zukünftigen Autobahn Schwerin-Wismar abfahren und in den Dörfern mit Einwohnern und Urlaubern sprechen, damit sie sich gegen die geplante Streckenführung zur Wehr setzen.“[10]

Diese Protestfahrt, die immer wieder von der Polizei unterbrochen wurde, hinzu kamen massive Kontrollen und für Schwerin ausgesprochene „Aufenthaltsverbote“, zeugte von der Vitalität der neuen Umweltbewegung. Zwar vermochten am Ende nur sieben der etwa siebzig Demonstranten von Schwerin aus nach Wismar zu gelangen. Doch hatten diese es vermocht, Anwohner für ihr Anliegen zu sensibilisieren. Mitunter solidarisierten sich diese sogar mit ihnen. Unterdessen warfen zwei aus Schwerin ausgewiesene Umweltschützer aus einem aus dem Schweriner Hauptbahnhof abfahrenden Zug an die fünfzig Flugblätter. Außerdem verteilten Demonstranten entlang der Trasse Fotopostkarten.[11] Die A 2 großen Fotoabzüge, die, wie sich das MfS bald überzeugte, „an der Strecke entlang an Bäumen“, Schaukästen und Agitationstafeln angebracht worden waren, trugen die Losungen „Gegen Beton“, Naturschutzgebiet“, „geh mir vom Acker mit Beton“ und „Schwerter zu Pflugscharen“.[12] Entsprechend fiel das Resümee des MfS-Hauptmanns Claus-Dieter Wulf in seiner Diplomarbeit, die sich mit den unabhängigen Gruppen unter dem „Schutzdach“ der Kirche beschäftigte, aus.[13] Im „Verantwortungsbereich“ der Bezirksverwaltung Schwerin komme den Protesten gegen Autobahnbau, die den kirchlichen Rahmen längst verlassen hätten, ein besonderer Stellenwert zu. Die Kirche würde hier lediglich als Sammel- und Schutzraum genutzt, um von hier aus den Staat herauszufordern. Bedenklich erschien Hauptmann Claus-Dieter Wulf insbesondere die Resonanz des Protestes: „Hier ist es den feindlich-negativen Kräften gelungen, eine unverhältnismäßig hohe Anzahl von Bürgern für Aktivitäten gegen das Projekt und die Bauausführung zu gewinnen.“[14]

Solche Fahrradprotestfahrten gab es auch an anderen Orten. Am Weltumwelttag, am 5. Juni 1983, startete von Halle aus eine Fahrraddemonstration zum Chemiewerk in Buna. Die Initiative ging von den beiden wenig später inhaftierten kirchlichen Jugendmitarbeitern Katrin Eigenfeld und Lothar Rochau aus. An der Protestfahrt beteiligten sich ca. 150 Jugendliche; auf ihrem Weg nach Buna wurden sie von der Volkspolizei und der Staatssicherheit gestoppt und festgenommen. Erst nach stundenlangen Verhören kamen die Radfahrer wieder frei.

Auch in Berlin traf man sich am Weinberg- und Monbijou Park, um von hier aus zu Protestfahrten mit einzelnen Plakaten, bemalten T-Shirts und mit Gasmasken quer die Stadt zu starten. Hieraus erwuchsen die „Friedensfahren ohne Sieger“ – eine Demonstrationsfahrt der Umweltszene, die sich gegen die Militarisierung in der DDR richtete und in deren Verlauf im Sommer 1983 ein sowjetischer Truppenübungsplatz bei Bernau besetzt wurde. Die etwa 120 Demonstranten bildeten spontan auf einem Hügel ein „Peace-Zeichen“ und fotografierten die Aktion. 1984 kam es zu einer weiteren „Friedensfahrt ohne Sieger“, die jedoch bei Schöneiche, Rüdersdorf und in Berlin-Köpenick massiv von der Polizei und Staatssicherheit behindert wurde. Es kam zu Platzverweisen, Festnahmen und Ordnungsstrafen.

Im kirchlichen Rahmen organisiert und somit als quasi legal galten die DDR-Radsternfahrt, zu denen sich mehrere hundert Jugendliche in den Jahren 1982, der 1983 und 1984 jeweils im Juli in Potsdam-Herrmannswerder und somit auf Kirchenland trafen. Der Staat machte jedoch zunehmend Druck und erreichte, dass das Treffen nicht mehr stattfinden konnte.

Daneben gab es viele weitere Initiativen. Einige führten zu Festnahmen und Gegenprotesten. So in Potsdam. Frank Ortmann, Jens Albert Möller und Christian Grauer wurden am 19./20. Dezember 1983 von der Staatssicherheit inhaftiert. Der Vorwurf: Sie hatten fünf tote Weihnachtsbäume aus einem Kirchenforst im Erzgebirge nach Potsdam transportiert, die sie in Kirchen aufzustellen beabsichtigten. Erst nach massiven Protesten ließ die Staatssicherheit sie wieder frei.

Bereits im Herbst 1981 gründete der Röthaer Pfarrer Walter Christian Steinbach das Christliche Umweltseminar Rötha, kurz CUR. Den Auslöser bildete die unerträgliche Luftverschmutzung rund um das benachbarte Braukohleveredlungswerk in Espenhain bei Leipzig. Mitunter „rieselte einem auf dem Schulweg schon mal Kohlenstaub ins Gesicht“, erinnerte sich einer der damals Beteiligten. Die Umweltgruppe Rötha machte mit Baumpflanzaktionen und regelmäßigen Umweltgottesdiensten südlich von Leipzig auf sich aufmerksam. Im Juni 1988 folgte die DDR-weite Aktion „Eine Mark für Espenhain“. Weil Unterschriftensammlungen in der DDR verboten waren, bediente man sich eines Tricks. Man entschied sich Spenden in der Höhe von je einer Mark für die Sanierung des maroden Werkes zu sammeln und sich die Spende per Unterschrift bestätigen zu lassen. So entstand auf dem Umweg doch eine Unterschriftenliste. Die Staatssicherheit und die Polizei wurden überrumpelt, nicht zuletzt durch die breite Resonanz und die vielen Spender des Aufrufes.[15] Öffentlich sichtbar delegitimiert wurde durch die Sammlung die Staats- und Parteiführung der DDR, die es nicht vermochte, die Gesundheit der Menschen in diesem Industriegebiet zu schützen.

Zu den Aktionen, die den Staat herausforderten, zählten auch die Protestwanderungen. Nach DDR-weit gestreuten Einladungen bzw. Aufrufen trafen sich Aktivisten in Umwelt-Problemgebieten. Kirchen und Pfarrhäuser dienten als Zwischenstationen, zwischen denen sich die Protestwanderung abspielte. Bereits im September 1983 kam es zum Treffen von gut fünfzig Umweltengagierte auf Einladung einer Ökogruppe aus Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), um das Waldsterben im Erzgebirge zu thematisieren. Die Teilnehmer stammten aus Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Berlin, um rund um Olbernhau und Seiffen die Situation zu begutachten. Mit dabei war auch der Berliner Graphiker Manfred Scheubert. Er fertigte für den Friedens- und Umweltkreis der Berliner Pfarr- und Glaubenskirche das Plakat „Waldsterben im Erzgebirge“ und schenkte dem Kreis ein Drucksieb, mit dem über tausend Exemplare des Plakates gedruckt werden konnten. Zusammen mit einem Lichtbildervortrag mit Fotos aus dem Wald bei Olbernhau und den Plakaten tourte der Kreis durch evangelische Gemeindehäuser und war auf Friedenswerkstätten und anderen Treffen der Szene präsent.

Auch in Bitterfeld und Wolfen protestierten Aktivisten mit einem Marsch gegen die Umweltverschmutzung durch die chemische Industrie. Am 19. Mai 1984 fand dort ein Umweltgottesdienst, verteilt auf mehrere Stationen in den Kirchen von Bitterfeld, Greppin und Wolfen, statt. Der Weg zwischen Kirchen wurde zum Protestmarsch. Er führte die Teilnehmer - von denen einige als eindeutige Zeichen Mundschutz oder Gasmaske trugen - unter den Augen der mit der Situation überforderten Polizei trotz Demonstrationsverbots „an den Werksmauern der stinkenden Chemieanlagen entlang.“[16]

Zwei Phasen in der Entwicklung der unabhängigen Umweltbewegung

Wer einen Blick auf die Entwicklung der unabhängigen Umweltbewegung wirft, wird zwei Phasen ausmachen können. Eine frühe Phase des euphorischen dynamischen Aufbruchs zwischen 1979 und Juli 1986. Der Aufbruch erreichte seinen Höhepunkt im November 1984, als es in der DDR laut der Zählung der Stasi insgesamt fünfzig Gruppen gab.[17] Lange Zeit war dies ein Spitzenwert: Erst im Januar 1989 gab es mit 62 Gruppen wieder einen höheren Wert. Zwischenzeitlichen stagnierten die Zahlen, lösten sich Gruppen wieder auf oder verschwanden einfach von der Bildfläche. Vielerorts machte sich Ernüchterung breit: Im September 1985 gab es noch 42 Gruppen, im Juli 1986 dann insgesamt 45 Gruppen und im August 1987 sackte der Wert auf 32 Gruppen ab. Die Gründe für diese Entwicklung waren vielfältig: Der Hauptgrund lag in der Ausreise vieler damals Beteiligter. Ganze Gruppen wie der Ökologiekreis Freiberg stellten ihre Arbeit ein; die restlichen Verbliebenen zogen sich in Landhausprojekte in die Oberlausitz zurück. Eine Rolle spielte ebenso die Resignation. Die Umweltgruppen waren häufig keine reinen Ökologiegruppen, sondern Friedens- und Umweltgruppe zugleich. Der verschärfte Repression Mitte der 1980er Jahre Festnahmen von einzelnen Mitgliedern im Herbst 1983, die Atom-Raketenstationierung, die von der Friedensbewegung verhindert werden sollte und dann doch stattfand, taten ein Übriges. Lähmend auf die Arbeit wirkten sich ferner kirchliche Strukturen und Abläufe unter dem Schutzdach der Kirche aus. Viele Gruppen wie die AG Ökologie des Friedenskreises Friedrichsfelde tagten deshalb grundsätzlich nur noch in Wohnungen. Hinzu kam die Diskussion um die Frage der Ausreise, die in der Aufbruchsphase noch kaum eine Rolle gespielt hatten, nun aber an die Gruppen herangetragen wurde. Viele machten sich die ablehnende Haltung gegenüber den Ausreiseanträgen zu eigen, was durchaus nachvollziehbar war, aber den Schwung des spontanen und ideenreichen Aufbruchs aus der Bewegung nahm. Die anfangs meist heterogene und aktionsbezogene Szene wurde unter dem Schutzdach der Kirche eingefangen, der zunächst ungezügelte Aufbruch in Diskussions- und Abstimmungsprozessen verlangsamt und kanalisiert. Da die zunächst überrumpelten Staatssicherheit die Leute und ihre Gruppen inzwischen namentlich kannte, tat die staatliche „Differenzierungspolitik“ ein Übriges. Verschiedene Personen sollten mit Verlockungen oder Repressionsmaßnahmen gewonnen bzw. abgeschreckt werden. Das Angebot, die gemäßigten Teile der Gruppen perspektivisch graduelle einzubinden – meist ein leeres Versprechen, führte dazu, dass sich einzelne nun gegen Aktionen, die als Provokation verstanden werden konnten, aussprachen. All dies gefährde die inhaltlich solide Arbeit und bringe deren Anerkennung durch Staat und Kirche in Gefahr, hieß es nun des Öfteren.

Deutlich wird das unter anderem an der Reaktion Leiter des Forschungsheimes Hans-Peter Gensichen nach der Durchsuchung der Berliner Umweltbibliothek durch den Staatssicherheitsdienst und den damit einhergehenden Verhaftungen. „Zum Selbstverständnis kirchlicher Umweltengagierter“ schrieb Gensichen am 7. Dezember 1987 in der für die Umweltbibliothek existenziellen Stunde, „komme [es] jetzt weniger auf eine aktuell-vordergründige Solidarisierung mit `den Berlinern`, sondern mehr auf ein grundsätzlich-tiefgründiges Nachdenken über das Selbstverständnis kirchlicher Umweltgruppen an.“ Alle sollten sich fragen, so Gensichen weiter, „wie kirchlich, wie ökologisch, wie sachkundig, wie politisch ist unsere Arbeit?“.[18] Einer der wichtigsten Inspiratoren der unabhängigen Umweltbewegung der DDR scherte damit aus der Solidarität mit der UB, die viele im Lande angezogen hatte, aus.

Die Zeit von Ende 1986 bis 1989 kann als zweite Aufschwung-Phase in der Entwicklung der unabhängigen Umweltgruppen begriffen werden. Schrittweise bildeten sich neue Gruppen, die sich auch von ihrem Profil her von den Gründungen Anfang der 1980er Jahre unterschieden. Waren die Gruppen Anfang der 1980er Jahre zumindest in den Großstädten weitgehend von ihrer Zusammensetzung her heterogen und ein Teil der subkulturellen Szene gewesen und häufig nur geduldet als Gast unter dem Schutzdach der Kirche, änderte sich dies nun. Die Gruppen, die jetztentstanden, schienen mit der kirchlichen Jugendarbeit, den Jungen Gemeinden, personell weit mehr verbandelt, als die Gruppen zuvor. Gruppen gab es nun auch an vielen entlegenen Orten und inhaltlich erwiesen sich die Bezüge zur kirchgemeindlichen Arbeit offensichtlicher als zuvor. Parallel dazu gab es inzwischen gut etablierte Initiativen und Einrichtungen wie die Umweltbibliotheken oder die Aktion „Eine Mark für Espenhain“ und das grün-ökologische Netzwerk Arche. Sie dienten als Anlaufpunkt für die Neugründungen und vernetzten die bereits bestehenden Initiativen.

Im Januar 1989 zählte man dann in der DDR insgesamt 62 Gruppen (mit etwa 1.100 Aktiven). Von diesen begriffen sich 39 als Ökogruppen (650 Mitglieder), 23 (mit 450 Mitgliedern) waren von ihrem Selbstverständnis und Namen her Friedens- und Umweltgruppen. Insgesamt gab es zu diesem Zeitpunkt 147 Basisgruppen: Mit ihren 62 Gruppen machte die unabhängige Umweltbewegung zahlenmäßig einen nicht unerheblichen Teil der Bewegung aus. Da in der Gesamtzahl der Basisgruppen auch die Dritte-Welt-Gruppen enthalten waren, die weniger auffielen, kam den eloquenten Umwelt- und Friedensgruppen eine politisch weitaus größere Bedeutung zu, als es diese Zahlen auf den ersten Blick auszusagen vermögen.

Im Grunde existierten drei Strömungen innerhalb der ostdeutschen Umweltbewegung: Das waren erstens Gruppen, die sich an dem kirchlichen Rahmen orientierten und nach den theologischen Konzepten des kirchenoffiziellen Ausschusses „Kirche und Gesellschaft“ um den Theologen und Erfurter Propst Heino Falcke handelten. Demnach solle es nach dem Verständnis von Falcke vor allem um Partizipation, den Wunsch nach verantwortlicher Mitwirkung in der sozialistischen Gesellschaft gehen. Daneben gab es zweitens die Gruppen, die sich noch zum Teil im kirchlichen Rahmen, unter dem Schutzdach der Kirche befanden, aber klar in Gegnerschaft zu politischen Verhältnissen sahen. Sie handelten in Selbstermächtigung, indem sie sich zu eigenständig handelnden Subjekten in der politischen Auseinandersetzung erklärten und von dem Druck befreiten, gegenüber den Herrschenden in der DDR nicht allzu provokant auftreten zu dürfen. Ihr Handeln war wesentlich deutlicher und entschlossener und es kam häufig zur Konfrontation mit dem Staat. Zum dritten gab es Gruppen und Initiativen, die sich vollkommen außerhalb des kirchlichen Schutzdaches bewegten, aber den Kontakt zu den Gruppen unter dem Schutzdach der Kirche hielten und sich an den gemeinsamen Treffen beteiligten.

Das Credo des Theologen Heino Falcke, dass die „zynische Kritik, die den ideologischen Anspruch und die Realität vergleicht, um sich von beiden abzuwenden, keine Hilfe“ sei und dass man sich gegen jene stellte, die alles in Frage stellen[19], vertiefte den Gegensatz zwischen den kirchlich mehr eingebundenen und den aktionsbetonten Gruppen. Ausgegrenzt fühlten sich die bei den radikaleren Gruppen anfangs noch stark vertretenen Ausreisantragsteller, denen man nun vorwarf, nur deshalb radikal aufzutreten, um die DDR schneller verlassen zu können. Der Dissens vertiefte sich, ohne dass man dies an sich wollte. Doch wurde die Kritik an dieser Strömung von fürsorglichen Kirchenvertretern, wie Falcke, auch in die Bewegung hineingetragen. Häufig wurde diese zudem bewusst von Inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit innerhalb der Gruppen geschürt; doch gab es ebenso auch die, die durch vorhereilende Anpassung meinten, das Wohlwollen des Staates erlangen zu können und daher radikalere Strömungen kritisierten und bekämpften.

Viele der Öko-Gruppen und ihre Aktionen können als ein Beispiel der klassischen „Bewegungslehre“ begriffen werden: Aus dem Unmut wurde der Drang etwas zu tun und aus dem erwuchs die Aktion. Die Aktionen richteten sich, da ein eigenständiges Engagement außerhalb der von der SED geschaffenen Formen unerwünscht war, mehr oder weniger automatisch gegen den Staat und dessen Institutionen. Dem entgegen stand das von Heino Falcke in Boston während eines Auslandsaufenthaltes in den USA gehaltene Referat, in dem er auf die Umwelt- und Friedensproblematik in der DDR einging und das auch in der DDR Verbreitung fand. Heino Falcke warb in ihm für einen kritischen und konstruktiven Dialog zwischen Christen und Marxisten in der DDR [das Thema Umwelt und Bewusstsein „eröffnet ein weites Feld des Dialogs zwischen Christen und Marxisten“] und widersprach der Ansicht, Christen hätten in der DDR nur die Wahl zwischen „Konformismus oder in die Katakomben [zu] gehen.“ Er definierte den Auftrag der Christen „in unserem Land als kritische und konstruktive Partizipation“ und schrieb, „wir arbeiten mit an dem schwierigen Versuch, ... eine sozialistische Gesellschaft zu entwickeln.“. Zugleich sprach sich der Erfurter Propst dafür aus, dass Christen „die konkreten Probleme unseres Staates und seinen begrenzten Handlungsspielraum verstehen lernen.“[20] Das war nun aber keineswegs das Anliegen vieler, die ihr Umweltengagement zugleich als politische Form der Opposition in der DDR begriffen. Geprägt wurde von vielen in den Gruppen Aktiven vielmehr ein Umweltbegriff, der sich dem der angelsächsischen und westeuropäischen grünen Protestbewegungen weitgehend annäherte: Der Begriff des „environmentaljustice“, der Umweltprotest zuallererst als politischen Protest gegen die bestehenden Strukturen begreift und nach sozialer Gerechtigkeit und den globalen Gesamtzusammenhängen fragt. Umwelt ist demnach mehr als nur die Natur, hieß es dementsprechend auch im Selbstverständnis der Berliner Umweltbibliothek. Vielmehr seien es ebenso die gesellschaftlichen und politischen Belange, die dieses Engagement erst nötig machten – die fehlende Presse- und Informationsfreiheit als Folge des Informationsmonopols der SED, die fehlenden demokratischen Rechte infolge der Einparteienherrschaft, usw.

Dies wurde auch so von Spitzeln des MfS rezipiert und weitergetragen: Unter den Teilnehmern des Ökologiekreises Berlin-Friedrichsfelde, die sich ab 1983 regelmäßig in einer Wohnung in der Tucholskystraße trafen, dominiere demnach die Auffassung, dass es darum gehe, „die ökologische Bewegung in der DDR zu einer politischen zu machen.“[21] Politisch bedeutete, eine Bewegung, die sich mit den Herrschenden anlegt. Die „gesamte Haltung“ sei, so ist es in einem anderen [Spitzel-] Bericht zu lesen, dass „das Malen von Postern, das Schreiben von Eingaben … gegen Kriegsspielzeug …, das Kreuze [auf denen sich Losungen befanden] an Bäume nagelt“,als „Vorwand“ diene und eine „Einstellung“ widerspiegele, die sich insgesamt „gegen den Staat“ richte.[22]

Auch die Gründung der Berliner Umweltbibliothek gliedere sich hier ein: IMB Manuela berichtete im August 1988, dass mehrere Leute vorhätten, eine „Umweltbibliothek [zu] eröffnen.“ Sie sähen darin „einen Weg in Opposition zum Staat zu treten“. Zugleich wollten sie so in Abgrenzung zu der in der DDR vorgegeben Norm „Alternativen“ schaffen, indem sie „eigene Bibliotheken, Kindergärten, Spielläden …, [ein] eigenes Radio usw.“ gründeten. Ziel sei es, „das offiz[elle] gesell[aftliche] Leben“ zu unterlaufen und von unten, von der Basis her eine Gegengesellschaft langfristig zu etablieren.[23]

Das unabhängige Umweltengagement war somit eine unter mehreren Äußerungsformen systemkritischen Handelns in der Diktatur. Es ging dabei nicht nur und meist erst im zweiten Schritt um die persönliche Betroffenheit angesichts der Umweltverschmutzung und Ressourcenvernichtung der Natur. In weiten Strecken diente das Umweltengagement als ein Weg und ein Mittel, um die eigene Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen auszudrücken, zu kanalisieren: um damit der „revoltierenden Energie“ Ausdruck zu verleihen.

Fazit

Um die Frage zu beantworten, warum sich eine eigenständige Umweltbewegung in der DDR Anfang der achtziger Jahre herausbildete, werden verschiedene Erklärungen herangezogen. Verwiesen wird so auf den Umstand, dass die Umweltverschmutzung gravierende Ausmaße angenommen hatte. Hier ließe sich anführen, dass dieser Zustand als solcher nicht neu war, nun aber aufgrund eines sich verändernden Bewusstseins anders wahrgenommen wurde. Außerdem fanden sich grade außerhalb der ökologischen Problem- und Industriegebiete auffällig viele Umweltgruppen, die mit spektakulären Aktionen auf sich aufmerksam machten. Im Ergebnis lässt sich so der Prozess nicht hinreichend mit den Umweltproblemen an sich erklären. 

Welche zeitbedingten und für den Findungs- und Verständigungsprozess einer Bewegung wichtigen Gründe lassen sich noch für das Entstehen der Umweltbewegung anführen?

Nicht unwesentlich waren im Vorfeld die Herausbildung einer subkulturellen Aussteiger- und Jugendszene ab den siebziger Jahren, jugendliche Tramper und Aussteiger, die sich allein schon durch ihr Äußeres (lange Haare, Jeans) von den vorgegebenen Normen (Schule, Ausbildungsstätten, Elternhaus) absetzten und zugleich durch ihr Auftreten bewusst mit dem Staat in Konflikt gerieten und dies so auch in Kauf nahmen. Lange Haare und Jeans wurden zur Chiffre einer neuen Protestkultur

Viele Jugendliche, die es in die Umweltgruppen zog, einte der Wunsch, authentisch ohne die alltäglichen Lügen in der Gesellschaft leben zu wollen. Dies betraf z.B. die ideologische Indoktrination und die vorgegebenen Verhaltensformen, die viele insgeheim ablehnten und denen sie dann doch entsprachen. In der Umweltbewegung kanalisierte sich der Wunsch, nicht länger „mit der Lüge zu leben“.

Ein wichtiger Impuls strahlte zudem von der sich in der Bundesrepublik zeitgleich herausbildenden grünen Protestbewegung aus, deren Entwicklung sich über westliche Radio- und Fernsehstationen in Ostdeutschland gut nachverfolgen ließ. Dies hatte eine Vorbildwirkung und spornte dazu an, Ähnliches im kleineren Rahmen auch in Ostdeutschland auszuprobieren und sich an den (nicht unbedingt grundsätzlich neuen, aber nun) als „grün“ bezeichneten Moralvorstellungen zu orientieren und den „grünen“ Gesellschaftsutopien auseinanderzusetzen.

Das Umweltengagement und die Umweltgruppen entwickelten sich zugleich zu einer Äußerungsform im Rahmen der Gehversuche oppositionellen Handelns und waren eine Form des systemkritischen Protestes. Das unabhängige Umweltengagement bot dabei eine eigene Formensprache, um sich gemeinsam zu finden, aktiv zu handeln und zugleich seinen Protest kundzutun: Baumpflanzaktionen, Fahrraddemonstrationen und Fahrradradfahrten, Müllsammelaktionen und ähnliches boten hierzu eine Möglichkeit. Oft waren sie Happening und Protest zugleich. 


[1]Hoke, Susanna: Der grüne Pfarrer aus Menz. 40 Jahre lang war Reinhard Dalchow auf Öko-Mission in der EKBO unterwegs. Nun ist er im Ruhestand. In: DK, Nr. 2, 16.10.2011, S. 9.

[2] Beleites, Michael: Pflanzzeit. Die kirchliche Umweltbewegung in der DDR – Impulse und Wirkungen, Wittenberg 1998, S. 2.

[3] Ebd.

[4] Ebd.

[5] J.H.: „Komm, pflanz einen Baum …“, in: Potsdamer Kirchenzeitung, 26./27.12.1981, Nr. 51/52, S. 7.

[6] MfS, BV Leipzig, Auswertungs- und Kontrollgruppe, Tagesrapport Nr. 92/82, Leipzig 15.5.1982, BStU, MfS, BV Leipzig, AKG 1577, Bl. 47.

[7] MfS, BV Leipzig, Auswertungs- und Kontrollgruppe, Tagesrapport Nr. 103/82, Leipzig 7.6.1982, BStU, MfS, BV Leipzig, AKG 1577, Bl. 22.

[8] Zum gescheiterten Bau der Autobahn nach Wismar, einer „Investruine“ der DDR: Karge, Wolf: Autobahnplanung und –bau im Norden der DDR. In: Zr. 13 (2009) 2, S. 39-48, hier 45-48.

[9] MfS, BV Rostock, Abt. XX, Bericht über das Kessiner „Friedenseminar 1983“ vom 13. bis 15.5.1983, Rostock, 15.5.1983, BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2784/85, Bd. I, Bl. 44-50, hier 47.

[10] MfS, BV Rostock, Abt. XX, Bericht über das Kessiner „Friedenseminar 1983“ vom 13. bis 15.5.1983, Rostock, 15.5.1983, BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2784/85, Bd. I, Bl. 44-50, hier 47.

[11] Beleites, Michael: Pflanzzeit. Die kirchliche Umweltbewegung in der DDR – Impulse und Wirkungen. Wittenberg 1998, S. 18; MfS, BV Berlin, Abt. XX/2, Bericht: Stattgefundene Aktivitäten in Bezug auf die geplante Sternfahrt in Schwerin und Wirkungsweise der eingeleiteten Maßnahmen zur Verhinderung dieser, Berlin, 6.6.1983, BStU, MfS, BV Berlin, Reg.-Nr. XV/4749/82, Bd. I, Bl. 142-144.

[12] MfS, BV Berlin, Abt. XX/2, Hinweise zu weiteren Aktivitäten in Bezug auf die geplant gewesene Radsternfahrt in Schwerin, auf Resonanz der eingeleiteten Sicherungsmaßnahmen und über weitere geplante Aktivitäten des damit im Zusammenhang stehenden Personenkreises, Berlin, 9.6.1983, BStU, MfS, BV Berlin, Bd. I, Bl. 145-147, hier 146.

[13] MfS, Juristische Hochschule, Lehrgang XX. HSFL, Diplomarbeit, Thema: „Die klerikalen politisch-negativen Kräfte in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburg im System der gegnerischen Angriffe gegen die sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR“, Autor: Hptm. Wulf, Claus-Dieter, Abschluß der Arbeit. 15.2.1984, BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 1666, Bl. 94.

[14]Ebd.

[15] 1988: „Eine Mark für Espenhain“. Größte Umweltaktion in der DDR, Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung, 17.6.2018, Nr. 24, S. 16.

[16] Michael Beleites. Pflanzzeit. Die kirchliche Umweltbewegung in der DDR - Impulse und Wirkungen, Wittenberg 1999, Tafel 16.

[17] Zahlen regeneriert aus: BArch, MfA, HA IX, Nr. 4299, MfS, HA XX/4, Nr. 132, MfS, HA XX/4, Nr. 3687.

[18] Hans-Peter Gensichen: Zum Selbstverständnis kirchlicher Umweltengagierter. In: Briefe zur Orientierung im Konflikt Mensch-Erde Nr. 17 (1988) April, S. 1f.

[19]Falcke, Heino: Kritische Partizipation im realen Sozialismus. Probleme von Wissenschaft und Technik aus christlicher Sicht, in: Büscher, Wolfgang und Wensierski, Peter: Beton ist Beton. Zivilisationskritik aus der DDR. Hattingen 1981, S. 197–203.

[20] Falcke, Heino: Kritische Partizipation im realen Sozialismus. Probleme von Wissenschaft und Technik aus christlicher Sicht. In: Büscher, Wolfgang; Wensierski, Peter: Beton ist Beton. Zivilisationskritik aus der DDR. Hattingen 1981, S. 197-203, hier 197, 201f.

[21] MfS, BV Berlin, KD Mitte, Abt. XX, Eröffnungsbericht zur OPK „Klotz“, Berlin, 20.2.1985, BArch, MfS, HA XX, ZMA 10049, p. 158.

[22] Operativ-Information Nr. 130/83 der Abt. XX/4, BArch, BV Frankfurt/Oder, AOP 834/84, Bd. 3, Bl. 129.

[23]BArch, MfS, BV Berlin, Abt. XX, KK VSH zum OV „Vorwand“, Erfassungsnr. 5552, Bl 2, Eintrag v. 13.8.1986.