Unsere Zukunft hat schon begonnen

Von Brigitte und Walter Christian Steinbach[1]

Espenhain, 29. Juni 1996, 20.00 Uhr

Wir sind noch einmal in unser Kulturbüro im Werk Espenhain gefahren.
m Eingang zum Werk wehen schwarze Fahnen. Es ist der letzte Abend des Kraftwerks II.
Eine fast 60jährige Geschichte, die vielen Menschen Lohn und Brot, bescheidenen Wohlstand und Glück beschert hat, geht sang- und klanglos zu Ende.
Das Ende von „Espenhain“, dem alten Braunkohleveredlungswerk Espenhain.

Im August 1990 begann mit der Schwelerei das langsame Sterben, morgen, am 30. Juni 1996 gegen Mittag wird es zu Ende sein.
Ein Schlot raucht noch verstohlen, die typischen Geräusche umgeben uns, die Turbinen – fast 60 Jahre ohne Unterbrechung - letzte Runde…
Wir sitzen bei herrlicher Abendsonne vor dem Kulturbüro mitten im Altwerk Espenhain – wie kommen wir hierher?

Der Anfang

Betroffene und Akteure – das Christliche Umweltseminar Rötha

Am Anfang stand nicht die Idee. Am Anfang stand das gemeinsame Leben in der Kirchgemeinde Rötha. In der offenen, lebendigen und gesprächsbetonten Atmosphäre der Jahre 1975-1985 spielten in allen Kreisen, vor allem denen der Jugend, Themen politischer Ereignisse, der Umwelt, kurz: das Leben im real existierenden Sozialismus, eine entscheidende Rolle. Die mangelnde Gemüseversorgung, Berichte über das Zersägen fabrikneuer Schienen, „damit der Schrottplan stimmt“, die erkennbaren gesundheitlichen Schädigungen, die im wörtlichen Sinn an Haut und Haaren spürbare Luftbelastung… 

Aus all dem, vor allem aber aus der umfassenden, lähmenden, zähen und klebrigen Resignation heraus, entstand das elementare Bedürfnis, etwas tun zu müssen. 
Mit dem Baum als uraltem Symbol für Leben, und vor allem weiter-leben, entstand die Idee der Baumpflanzungen.

Bereits 1978 pflanzten die jungen Leute um Pfarrer Steinbach erste Bäume, heute über 30m hoch. Die Plätze mussten zunächst vom Rat der Stadt Rötha erkämpft werden. Bald zeigte sich, dass nicht nur der Kern der Kirchgemeinde Rötha am Grundgedanken, etwas gegen Resignation tun zu wollen, interessiert war.

Ein kleiner Kreis, bezeichnenderweise Christen verschiedener Konfessionen und Atheisten gemeinsam, begann in einfachen Seminaren, zaghaft über Umweltschäden zu sprechen. Daraus entstand der feste Wille, sich regelmäßig zu treffen und Umweltthemen zu bearbeiten. 1982 organisierte das Christliche Umweltseminar Rötha (CUR), inzwischenein Kreis von ca. 20 Leuten, die erste große Baumpflanzaktion an verschiedenen Stellen der Stadt Rötha. Begeisterung für eine offensichtlich gute Sache ist ansteckend: viel der Kirche Fernstehende, Alte und Junge, pflanzten gemeinsam Bäume. Und es entstanden Kontakte zu anderen Umweltgruppen.

[1] Walter Christian Steinbach: Eine Mark für Espenhain: Vom Christlichen Umweltseminar Rötha zum Leipziger Neuseenland.Leipzig, Evangelische Verlagsanstalt; 2., korr. u. erw. Edition, 2019 

Foto 1: Baumpflanzung in Rötha 1982 (CUR Archiv)

Mölbis wird zum Thema

In Mölbis arbeitete damals Pfarrer Rüffert in eigenwilliger und unnachahmlicher Art. Den Herren des Rates des Kreises wohlbekannt, verhehlte er seine Ansichten über die schädlichen Auswirkungen des Braunkohleveredlungswerks Espenhain keineswegs. Dr. Karl Weise, engagiertes CUR-Mitglied, berichtete über die hilflose Verzweiflung Siegfried Rüfferts. Das führte geradewegs zum ersten Schritt des CUR aus Rötha heraus:zu einem Gemeindeabend am 3.2.1983 im Pfarrhaus Mölbis. Den zahlreichen Besuchern gingen Informationen über Luftbelastung und Kontaminierung des Bodens zu, die mit Erstaunen und Ungläubigkeit aufgenommen wurden. Andererseits erfuhren die CUR-Leute, wie erschreckend das Leben im Windschatten von Espenhain tatsächlich war. Blätterfall im Sommer über Nacht, Pseudokrupp, der allgegenwärtige Gestank.

Zehn Jahre später wird Steinbach im genauen Bericht eines Informanten über diesen Abend in seiner Stasi-Akte lesen können „…als ich gegen 21.30 Uhr nach Hause ging, brannte überall noch Licht“.

Das CUR, bereits mit festen Terminen, Protokollen, Arbeitsteilung etc. hatte inzwischen den Weg der Eingaben beschritten. Eingaben waren legal, wurden meist beantwortet, man hatte durchaus den Eindruck, beachtet zu werden – das wars dann.

Mölbis in seiner schwarzen Schwermut, seiner Hoffnungslosigkeit, bewegte die Leute des CUR so, dass der Gedanke, diesen Skandal öffentlich zu machen, immer festere Konturen annahm.

Foto 2: Braunkohleveredlungswerk Espenhain (CUR Archiv)

„Sieht so unsere Zukunft aus?“ wurde formiert in das Thema des 1. Umweltgottesdienstes im Juni 1983 in Mölbis „Unsere Zukunft hat schon begonnen“, wie fortan alle Umweltgottesdienste hießen.

Mit großem Elan und Einsatz, voller Begeisterung ging das CUR an die Vorbereitungen. Geteilt in Arbeitsgruppen, wurden unterschiedliche Aufgaben wahrgenommen. Um die geplante Ausstellung gestalten zu können, mussten Daten über Luft, Wasser, Boden…aus früheren Veröffentlichungen möglichst seriös errechnet werden (Sammeln und vor allem Bewerten von Umweltdaten waren zu diesem Zeitpunkt in der DDR verboten).

Das Vorprogramm wurde überlegt, hierzu Holz für Vogelkästen besorgt, von einem gutwilligen Tischler zugeschnitten…Vor allem aber sollten Informationen, zusammengeheftete Blätter, an die Besucher verteilt werden – Beginn einer jahrelangen Quälerei in der kopiererlosen DDR.

Eine weiter Gruppe saß am Inhalt und Ablauf des Gottesdienstes; zur Predigt hatte sich Superintendent Opitz bereiterklärt, wie auch inzwischen der Kirchenbezirk Borna tatkräftig das Vorhaben unterstützte. Schließlich mussten Einladungen verschickt werden, die auch an den Rat des Kreises, Abt. Inneres, gingen. Und natürlich wurde die Kirchenleitung und Landesbischof Hempel per Kurier informiert.

Gespannt waren wir alle auf das Podiumsgespräch. Erstmals in der Geschichte der DDR sagten führende Vertreter des Staates zu, an einer öffentlichen Diskussion mit Vertretern von Kirche und der Bevölkerung teilzunehmen.

Filterlos wie die Schornsteine im benachbarten Espenhain mussten die Fragen der Teilnehmer beantwortet werden, unter freiem Himmel und in freier Rede per mobilem Mikrofon gestellt. Man spürte einen Hauch von Freiheit durch den Mölbiser Pfarrgarten wehen…

Wie gehemmt wir doch alle waren, aber doch froh, die Dinge überhaupt einmal auszusprechen. Nicht nur wir CUR-Mitglieder wussten natürlich, dass unsere Aktivitäten und besonders der Tag in Mölbis von der Stasi genauestens verfolgt wurde und der „Hauch der Freiheit“ direkt in das Mikrofon wehte, das unter der Tür des Mölbiser Gemeindeamtes durchgeschoben war.

Eine Folge des Umweltgottesdienstes in Mölbis war die Einladung an Pfarrer Rüffert, zum anstehenden Kirchentag in Dresdenmit dem Titel „Unsere Enkel wollen auch leben“, bei dem das Christliche Umweltseminar leitend beteiligt war, im Forum über Mölbis zu berichten:

Die riesige Kreuzkirche, bis auf den letzten Platz gefüllt, viele auf dem Fußboden sitzend. Unter dem überdimensionalen grünen Kreuz, klein und allein, angetan mit seiner ewigen Lederjacke, die den „Mölbiser Gestank für immer gespeichert hatte“, Rüffert, der ohne Pathos vom Gas in Mölbis erzählt, dass man weiße Blumen nicht kenne, vom Atmen und Husten und Kopfschmerz. Die Stille der Betroffenheit: Mölbis in Dresden. Spontan standen danach Frauen auf, die Mölbiser Kinder einluden.

„Saubere Luft für Ferienkinder“ gab es mehrere Jahre zu atmen. Die Berichte über diesen Kirchentag, auch über die Espenhain-Mölbiser Situation, gingen in ganz Deutschland durch die Medien.

In Steinbachs Stasi-Brevier wird übrigens der Predigttext des Kirchentags so angegeben: „2.Korinthe.1, 8-11“. Guten Appetit!

Unmittelbar nach diesen beiden Höhepunkten, die das CUR bis an die Grenzen seiner Belastbarkeit brachten, suchten wir Verbündete. Durch ständiges Unterwegssein vieler Mitglieder mit Vorträgen und Bildern (gemeinsam war eine Art Standardvortrag erarbeitet worden), war bald ein ganzes Netz zu Freunden geknüpft. Informationen gingen hin und her und bestärkten uns, den beschrittenen Weg des Bekanntmachens der Zustände im Leipziger Süden mit unseren Mittelnfortzusetzen.

Aus der Einladung zum 2. Umweltgottesdienst am 20.5.1984: „In Mölbis hat unsere Zukunft schon begonnen. Mölbis – damit sind die von der Umweltverschmutzung im Bornaer Raum am schlimmsten Betroffene gemeint. Das Dorf Mölbis liegt im Windschatten von Espenhain. Mölbis ist aber auch Symbol und Kristallisationspunkt für eine Zukunft, die uns allen bevorsteht, wenn nicht eine Richtungsänderung herbeigeführt werden kann. Die Wahrheit darüber, was hier wirklich passiert, wird uns, den Betroffenen, verschwiegen. Wir erkennen nur die Spitze des Eisbergs… Wir haben Angst um unsere Kinder und Enkel.“

Diesen Umweltgottesdienst beehrte Herr Landesbischof Dr. Hempel mit einer sehr beruhigenden Predigt. Die Besucherzahlen bewegten sich diesmal um die 1000, darunter eine größere Anzahl mit dem unsichtbaren Kennzeichen D. Vieles war jetzt erprobter, die Zusammenarbeit mit dem Kirchenbezirk Borna machte es möglich. Unsere Ausstellung war wesentlich erweitert und solide gearbeitet, im Vorprogramm stellten sich auch andere aktive Gruppen u.a. zum ökologischen Gartenbau vor, die Angebote für Kinder waren auf breitere Schultern verteilt. Sogar die Fahrräder standen in Reih und Glied.

Hinterher gabs Krach mit dem Bischof: Hatte Steinbach nun die Westjournalisten eingeladen oder nicht?!

Während des Podiums sahen wir uns ungläubig an – diese Fragen – durfte man denn das?

Foto 3: Umweltgottesdienst Mölbis II (CUR Archiv)

Endstation Eingaben

Inzwischen hatte sich die Lage in der DDR weiter verschlechtert: immer grauer und freudloser die Gesichter, in bemerkenswertem Gegensatz dazu Jubel und Erfolgsmeldungen in den Zeitungen.

1985, nach dem schon traditionellen Umweltgottesdienst, diesmal in Rötha, ging das CUR zu einer Offensive über: geteilt in 8 Gruppen wurden generalstabsmäßig 8 Themen bearbeitet, die unser schlichtes Leben im Südraum betrafen, so erfassten einige täglich das Angebot an Obst und Gemüse im Röthaer Konsum, was nicht viel Schreibarbeit erforderte. Weitere Themen: Informationspolitik, Wasser und Abwasser, medizinische und soziale Betreuung, Luftbelastung, Müll wurden zu regelrechten Papieren verfasst, immer wieder auf Richtigkeit und Genauigkeit hin überprüft.

An den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, gesandt, zeigte unsere Arbeit eine unverhoffte und erstaunliche Wirkung: Es kam zu einem Gespräch, hoch angebunden.
Neben den territorialen Staatsvertretern saß ein Abteilungsleiter des Ministeriums für Umweltschutz der DDR. Nicht nur das: unsere Analysen wurden „im Kern als richtig“ eingeschätzt.
Natürlich dachten wir nun an Durchbruch, Wende zum Besseren, Hilfe sofort.
Sehr stolz waren wir vor allem auf das Versprechen (schriftlich!) „ab 1987 beginnen in Espenhain und Böhlen eine Reihe von Maßnahmen mit dem Ziel, die Schadstoffbelastung auf ein Drittel des jetzigen Standes zu senken…“
Sogar unsere Mitarbeit wurde bei der „Lösung und Kontrolle der eingeleiteten Maßnahmen“ vereinbart.

Schall und Rauch, leere Versprechungen, Verarschung.

Als sich nichts tat, wurde uns immer klarer, dass der Gedanke, unsere Kräfte auf e i n Thema – Mölbis und Espenhain – zu bündeln, richtig war.
Unsere Zahlen waren griffig, unwidersprochen blieb die errechnete tägliche Abgabe des BV Espenhain mit dem BT Böhlen von 4,0 t Teer (Teeraerosole), 4,4 t Schwefelwasserstoff (0,08 Vol% wirken nach 5-10 Min. tödlich), 20,0 t SO2, 1,6 t Ammoniak, 1,6 t Merkaptane an die Umwelt.
Erschreckend unser Vergleich: Das Kraftwerk Thierbach gibt trotz Filter jährlich soviel Staub ab, dass ein Fußballfeld mit einer 2m dicken Staubschicht bedeckt wäre.

Eins drauf gesetzt wurde auch 1987 zum Umweltgottesdienst, wieder in Mölbis.
Der alte Ritus der Wallfahrt war längst als eine Möglichkeit erkannt, aus der inneren und äußeren Enge von Kirchen und Pfarrgärten herauszukommen, ohne das Wort Demo zu verwenden. Zu dieser Wallfahrt auf die Halde Tragesforderten wir ungeschminkt, frech und gottesfürchtig die Sofortrekonstruktion des BV Espenhain nach dem Vorbild der Aktion „750 Jahre Berlin“.

Es gab damals unzählige Witze und Geschichten über diese sogenannte „Berlin-Initiative“. Gezählt haben wir damals die Unterschriften nicht – zu schnell ging dieser Aufruf als Eingabe an den Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Willi Stoph.
Was nun folgte, ist schnell erzählt: Aufforderung zu einem Eingabengespräch mit stark eingeschränkter Teilnehmerzahl seitens des CUR. Hart der Umgangston. Vorbei der, wenn auch scheinbare Wille zur Zusammenarbeit. Herr Lüdtke vom Ministerium für Umwelt und Wasserwirtschaft der DDR sah sich zu folgenden goldenen Worten veranlasst: Was zur Zeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes geschehe, schöpfe die Leistungsfähigkeit des Staates voll aus „mehr ist nicht drin“.
In erster Linie müssten die Arbeiter angehalten werden, die Anlagen ordnungsgemäß zu bedienen. Bereits dadurch könne der Schadstoffausstoß auf die gesetzlich zugelassenen Werte gebracht werden. (Kunststück bei den über 50 Jahre alten Anlagen!) Die Hauptstadt werde gegenüber der übrigen Republik und auch dem Kreis Borna nicht bevorteilt. Auch in zehn Jahren werde man im Kreis Borna noch über die gleichen Probleme diskutieren.

Eine Mark für Espenhain

Zu diesem Zeitpunkt erlangte die Verzweiflung innerhalb des CUR die Oberhand. So konnte es nicht weitergehen. Uns war klar, mit dem Dreck und der Verlogenheit nicht mehr leben zu können. „Arbeite mit, plane mit, regiere mit“ – aber wie?

Einerseits hatten wir nicht nur viel gewagt, einige sogar ihre Existenz und die ihrer Familien aufs Spiel gesetzt, andererseits hatten wir scheinbar die Freiheit der Hofnarren. Und das war ziemlich das allerletzte, was wir wollten. Unsere Gedanken spitzten sich zu – Greenpeace ließ grüßen – vielleicht nächtlings ein Spruchband über die F95 mit „was ganz Schlimmen“ drauf?
Was so nebulös in unseren Köpfen geisterte, wurde dann spontan während eines Vortrags von Christian Steinbach in Dresden geboren und so formuliert: “Vielleicht sollten wir so etwas machen wie „mit 5 Mark sind Sie dabei“? Also „Eine Mark für Espenhain“?

Das war sie, die Idee, die uns fortan in Atem halten sollte und in Spannung und in Begeisterung. Wir begannen wieder Hoffnung zu schöpfen, daher nannten wir die Aktion „Eine Mark für Espenhain oder Ein Protest bekommt Flügel“

Originaltext Aufruf

Ein Protest bekommt Flügel

Nach intensiven Vorbereitungen gab es im Juni 1988 wieder einen Umweltgottesdienst, in Deutzen. Die Predigt hielt Pfarrer Friedrich Schorlemmer, Wittenberg, der mit telefonischen Tränen und dem deutlichen Hinweis auf den biblischen Jona überzeugt werden musste, trotz Zeitnot zu uns zu kommen. Seine Predigt hatte dann eine solche Brisanz und Schärfe, dass der Superintendent und einige Pfarrer die Köpfe schüttelten, ein Oberlandeskirchenrat uns einen Schmähbrief schrieb.
Gemeinsam mit dem Ökologischen Arbeitskreis der Dresdner Kirchenbezirke, der sich mit uns verbündet hatte, gab es hier den ersten öffentlichen Aufruf, sich an der Aktion „Eine Mark für Espenhain“ zu beteiligen: Symbolisch eine Spende von 1,- Mark, die mit der eigenen Unterschrift quittiert wurde(Unterschriftensammlungen waren in der DDR verboten) – was für ein schöner, listiger Einfall!

Die Aktion bekam aber nun wirklich Flügel, wie auch uns ungeahnte Kräfte zuflossen. Fieberhaft wurde eine Diaserie erarbeitet und (das Fotogeschäft weit über Land) vervielfältigt. Diese 20 Dias fassten die wichtigsten Brennpunkte unseres derzeitigen Lebens im Kreis Borna zusammen, dazu gab es einen Begleittext mit Zahlen und Informationen. Das Ganze wurde postalisch auf Anfrage verschickt, natürlich zusammen mit den Quittungsunterschriftslisten.

Unsere Aktion sollte Hand und Fuß haben, nachprüfbar sein. Akribisch wurden die Unterschriftslisten nummeriert. Wir arbeiteten wie ein Versandunternehmen, die Röthaer Post steigerte ihre Umsätze. An manchen Abenden klapperten 5 Schreibmaschinen gleichzeitig in Steinbachs Wohnzimmer, um diese ekligen Matrizen zu schreiben. Der Aufruf zur Aktion wurde also per Post an uns bekannte Umweltgruppen, Kirchgemeinden, Freunde und Bekannte geschickt. Die Diaserie ermöglichte auch Außenstehenden einstündige Vorträge.
Insgesamt 3 Faltblätter hielten unsere Spender auf dem Laufenden.

Wirklich schön wurde es aber erst, als wir die ersten Rücksendungen der unterschriebenen Listen und Briefe dazu bekamen: „Eine Mark für Espenhain – könnens nicht auch zehne sein? fragte eine Rentnerin. Viele Bitten, weiterzumachen, erreichten uns. Mit sehr vielen gleichgesinnten mutigen Männern und Frauen wurden wir bekannt.
Die Aktion breitete sich so schnell aus, dass weder der argwöhnische Staat noch unsere matte Mutter Kirche zum Einschreiten und Abblasen kam.
Endlich: Mölbis und Espenhain in Bewegung; bekannt in allen Kreisen, die sich ernsthaft mit Umweltproblemen in der DDR befassten.

Durch die Aktion setzte ein regelrechter Besucherstrom nach Mölbis ein, hier wurde auch Pfarrer Dallmann, der sich gleichfalls engagierte, einbezogen. Diese Führungen erreichten unter Insidern bald eine traurige Berühmtheit. Mit finnischen, niederländischen, westdeutschen und amerikanischen Kameras gelangten die Fotos von der Halde Trages, dem Göseleinlauf und dem Ort Mölbis außer Landes.

Foto 4: Göseleinlauf: Abwässer des BVE Espenhain (CUR Archiv)

Im Juni 1989 durften zwei Mitglieder des Christlichen Umweltseminars, Sonja Sonneck und Jürgen Hanisch, zur Europäischen Ökumenischen Versammlung, die Carl Friedrich von Weizsäcker einberufen hatte, nach Basel fahren. Brigitte Steinbach hatte dazu eine tragbare Ausstellung von 10 Tafeln gemacht.
Inzwischen war die Aktion „Eine Mark für Espenhain“ auf gutem, d.h. erfolgreichem Weg. Die ersten 50 000 Unterschriften, ebenso viel Mark der DDR auf dem Konto einer kirchlichen Bank – und das alles, während wir montags nach Leipzig auf den Ring zogen, die noch farbnassen Transparente ausgebreitet im Auto; kaum zu glauben: es deutete sich eine Wende an.

Bevor im nächsten Kapitel über die Zeit der Wende und was danach kam, berichtet werden soll. Sei hier die Geschichte der „Eine Mark für Espenhain“ zu Ende erzählt: Als die DM kam, hatten wir etwa 100 000 Unterschriften und ebensoviel Mark. Mit der Umwandlung in DM und einer Aktion anlässlich des Geburtstags eines CUR-Mitglieds belief sich die Summe auf 75 000 DM. Dies wurde in der ZukunftsstiftungSüdraum Leipzigangelegt.

Zwischen Resignation und Hoffnung – von der Demo zur D Mark

Noch einmal zur Erinnerung: während wir die Betttücherunserer Mütter fremden Zwecken zuführten(„Leute nehmt die Kinder rein, denn es stinkt nach Espenhain“, „Proletarier aller Länder - verzeiht mir! Karl Murx“) und gleich unsviele Menschen Umweltprobleme öffentlich benannten und ein trotziges „Egon, wir sind wetterfest“ die Entschlossenheit zum Weitermachen festigte, gab es den überraschenden Aufruf der Leipziger Sechs. Der Schießbefehl wurde nicht erteilt.

Wir möchten nicht unerwähnt lassen, dass wir gerade in dieser Zeit sehr große Angst hatten.
Angst vor Verhaftungen und Hausdurchsuchungen. Fragen von Freunden an der Haustür „Ist dein Mann noch da?“ verunsicherten, so dass wir besprachen, was genau zu tun sei, wenn…
Nächtliche Flammen in der Heizung (das ging ja damals noch!) Papiere, die andere bei uns gelagert hatten…, heute wissen wir, dass manches absichtlich bei uns gelagert wurde.
Absprachen hinsichtlich unserer Kinder, wenn wir beide verhaftet würden. Diese Zeit, die die Mitglieder des CUR auch persönlich in sehr starken inneren Beziehungen verband, die Zeit der Noch-nicht- und Doch-schon Wende, brachte vor allem eines: Hoffnung.

DIALOG hieß das neue Schlagwort und Genaueres stand auf der von Prof. Kurt Masur initiierten, bestaunten Litfaßsäule – improvisiert wie so vieles in diesen Tagen.

Vier Sonntagvormittage lang konnte man sich im Hörsaalgebäude der Uni einklinken.
Wir hielten „unserm Mann“ die Treue, Christian Steinbach, der im Hörsaal 19 saß: „Energie und Ökologie“ das Thema. Honorige Leute waren dabei: Dr. Wötzel, Bezirksleitung der SED, Dr. Rauscher (der später bei einem Anruf „wer steht eigentlich hinter Ihnen“ nicht glauben wollte, dass es wirklich nur wir aus dem Bornaer Gebiet waren). Wir denken noch an den Minister für Kohle und Energie, Herrn Mitzinger, dessen Auftritt im Hörsaal dann auch sein letzter war, ihm lagen die falschen Papiere vor und aus dem Stegreif – nein danke.
Seine Kur abbrechen musste Dr. Wieland Schütter, Betriebsdirektor des BV Espenhain, um dabei zu sein. Wogen der Sympathie für Frau Walther aus Zwenkau, die „mit schlotternden Knien“, wie sie sagte, von Zwenkauer Problemen berichtete. Unvergessen auch, dass dort nicht nur redegewandte Leute das Wort ergriffen, sondern auch solche, denen das Reden schwerfiel. „Ich übe den aufrechten Gang“ sagte ein Arbeiter aus Rötha. Auf der Suche nach weiteren geeigneten Möglichkeiten, auf der einen Seite Überreaktionen zu verhindern, auf der anderen, das Begonnene fortzusetzen, entstand wieder einmal die Idee des Runden Tisches, der alle Akteure, jetzige und künftige, im Gespräch halten sollte.

Das Ende der Geduld

Hörsaalgespräche, Runder Tisch Ökologie und Ökonomie in Leipzig und schließlich auch in Borna – Gespräche unter alten Feinden – brachten Annäherung, keine Lösung, was nun aus der sozialistischen Misere werden könnte. Ein Umweltforum im Kulturhaus Espenhain im November 1989, die Fragen an den Betriebsdirektor des BV Espenhain „Können Sie eigentlich noch ruhig schlafen, Herr Dr. Schütter?“, als sei er der Schuldige. Der Saal rappelvoll, die Fragen kontrovers und manchmal unsachlich; der „Hauch von Freiheit“ – Sie erinnern sich an den Mölbiser Pfarrgarten? – war nun zu einem kräftigen Wind geworden.

Ein Denkfehler unterlief den Genossen durch ungewohnten Druck: Die Bildung einer Regierungskommission Karbochemie sollte die stürmischen Wogen in ruhigere Gewässer mit den alten Steuermännern und Rudergängern führen. Daraus wurde nichts. In Leipzig wurde ein „Runder Tisch Energie und Stoffwirtschaft“ eingerichtet und Steinbach zum Vorsitzenden gewählt. Zugleich war er Mitglied der Regierungskommission Karbochemie.
Die Regierungskommission schlug die Stilllegung der Schwelereien des BV Espenhain bis spätestens Ende 1991 vor, dann im Ministerratsbeschluss vom 08. Februar 1990 festgeschrieben wurde, ohne die wirtschaftlichen Folgen wirklich planen zu können.

Ende und Anfang

Aus dem Christlichen Umweltseminar Rötha übernahmen fast alle Mitglieder nach der WiedervereinigungVerantwortung: als Stadträte (U. Voigt, B. Steinbach, S. Sonneck), Bürgermeister (R. Kühnl), sächsische Staatsminister (Dr. Weise, Dr. Jähnichen), als Regierungspräsident (Steinbach). 
Diese Zeit mit den ehrlichen Bemühungen der Akteure sind andernorts ausführlich beschrieben[1], so dass wir uns hier auf das Wirken des CUR e.V. im Südraum Leipzig beschränken.

Wir sind wieder bei unserem schönen Abend in Espenhain, wir haben die Bemühungen des Christlichen Umweltseminars Rötha e.V. und die spannenden Tage der Wende beschrieben.

Und so ging es weiter:

Die Arbeit des Kulturbüros im Werk Espenhain (1995 – 2008):

In der allgemeinen Mutlosigkeit Lichtblicke schaffen, die Besonderheiten des Südraums zeigen, die Industriearchitektur hervorheben … das war die Grundidee des Kulturbüros Espenhain.
Wir sind etwa 5 Frauen. Fördermittel über ABM, den Kulturraum und Spender von Industrie und Handwerk u.a. Eigenmittel über die Eintrittsgelder oder/und Sponsoren. Den Hut hat Brigitte Steinbach auf. Und das machen wir:

Konzerte an ungewöhnlichen Orten: Industriehallen, historische Kirchen und im Tagebau (Gundermann!); Focus: Werkstatt der TDE Espenhain mit legendären Weihnachtskonzerten (u.a. mit Ludwig Güttler, Thomanerchor, Augsburger Domsingknaben) Besucherzahlen je um die 1000 …


[1]Walter Christian Steinbach: Eine Mark für Espenhain: Vom Christlichen Umweltseminar Rötha zum Leipziger Neuseenland.Leipzig, Evangelische Verlagsanstalt; 2., korr. u. erw. Edition, 2019