Freiheitsschauplatz. Ein Gesellschaftsportrait der Ukraine. Hrsg. Susann Worschesch
rezensiert von Christian Booß
Wenn die Ukraine v.a. in der elektronischen Medien auftaucht, dann meist mit Kriegsszenen, Ansagen ihres Präsidenten Wolodomir Selenskij oder internationalen Konferenzen. Die Gesellschaft des geschundenen Landes im Krieg bleibt weitgehend draußen vor. Allein schon deswegen ist es verdienstvoll, dass das Team um Susann Worschech diesen Sammelband herausgegeben hat, und in 14 überschaubaren und gut lesbaren Artikeln wesentliche Facetten der ukrainischen Wirklichkeit beschreibt und analysiert. Dabei beschränken sich die meisten Texte nicht auf die Kriegszeit seit 2022 bzw. 2014, sondern greifen weiter zurück. Dies macht Veränderungen oder auch Stillstand oft überhaupt erst sichtbar.
Während sich zu Sowjetzeiten und noch lange danach die größte Gruppe in der Ukraine als Arbeiter wahrnahm, ist die Selbstwahrnehmung als Mittelschicht innerhalb der letzten 20 Jahre vor dem Krieg von 15 auf 49% gestiegen. Das ist langsamer als in anderen osteuropäischen Staaten, aber immerhin. Erstaunlicher Weise hat sich dieser Trend während des Krieges abgeschwächt fortgesetzt. Allerdings ist derzeit der größte und dramatischste Anstieg bei der Zahl der Arbeitslosen und Soldaten jenseits des Arbeitsmarktes zu verzeichnen, zusammen 36% im September 2022. (Simonchuk)
Die Ukraine hat, um nur einzelne Kapitel herauszugreifen, trotz des Krieges in manchen Bereichen gesellschaftliche Fortschritte gemacht. Die Beziehungen zur EU sind dafür ein gutes Beispiel. Allein schon aus Sicherheitsinteressen ist das Land „Haupttreiber“ für eine zügige Mitgliedschaft und bemüht sich die Beitrittskriterien zu erfüllen.(Stewart) Anders sieht es mit dem Gesundheits- und Sozialsystem aus. Die Fortsetzung anfänglicher Reformen ist auf Grund des Krieges durch die Verelendung weiter Teile der Bevölkerung chancenlos. 40% der ukrainischen Bevölkerung, 14,6 Millionen Menschen, waren 2024 auf humanitäre Hilfe angewiesen. Ohne Hilfe von außen kann der Staat dies nicht bewältigen. (Chorna, Heinrich, Isabekova-Landau, Pleines)
In weiteren Kapitel wird auf die ökonischen Veränderungen, Flucht und Migration, Genderpolitik, die ukrainische Kultur und die Erinnerungspolitik eingangen. Zusammenfassungen oder Ausblicke machen es einem leicht, Themen auch kursorisch aufzunehmen. Drei Kapitel widmen sich der politischen Kultur. In einem geht es um die wiederstreitenden Tendenzen in der Zentrale: Autokratie und Demokratie. Hier werden sauber die Fakten, die für die eine oder andere Richtung sprechen aufgelistet. Sehr optimistisch wirkt die Schlussfolgerung, der Krieg markiere einen „Wendepunkt“ in der Entwicklung des politischen Systems in der Ukraine, denn „in der Bevölkerung ist die Demokratie als angestrebte Regierungsform erstmals unumstritten.“ Verdienstvoll ist es, dass das in den deutschen Medien vernachlässigte Thema der dezentralen Strukturen, den Oblasten, Kreisen und Gemeinden ein Aufsatz gewidmet ist. Zurecht wird darauf hingewiesen, dass sie selbst militärisch und im Widerstand gegen die Anfänge der russischen Besatzung eine bemerkenswerte Risilienz aufwiesen. Auch bei der laufenden Verteidigung, insbesondere aber bei Unterbringung und Versorgung der tausenden von Binnenvertriebenen spielen sie eine unverzichtbare Rolle und knüpfen auch jetzt schon Kontakte, die beim Aufbau helfen sollen. Allein 212 Gemeindepartnerschaften wurden mit Deutschland geschlossen, die zweitgrößte Zahl nach Polen. Nicht zu unterschätzen sei die Funktion der Zivilgesellschaft in der Ukraine, mahnt Susann Worschesch. Wie sie schon in vergangenen Krisensituation, etwa in den Revolutionen, ein vorwärtstreibender Faktor war, kommt ihr jetzt auf gleich mehreren Feldern wie der Flüchtlingsbetreuung, der humanitären Hilfe, dem Wideraufbau, dem Umweltschutz, der Regierungskontrolle eine nicht wegzudenkenden Bedeutuung zu. Das zivilgesellschaftliche Engagement hat sich durch die Invasion sogar deutlich verstärkt, so dass dort inzwischen jeder zweite Ukrainer zivilgesellschaftlich engagiert. Dennoch kann Zivilgesellschaft auch durch finanzielle und personelle Auszehrung oder Konfikte mit oligarchischen Strukturen gefährdet werden. Die Herausgeberin des Bandes ist dennoch optimistisch, dass sich die zivilgesllschaftliche Resilienz nicht einfach zurückdrehen läßt.
Sicher finden sich in dem Bändchen noch Lücken. Das Thema Korruption wird bestenfalls gestreift, das keineswegs konfliktfreie Verhältnis zu anderen Staaten in der Nachbarschaft oder die Wirksamkeit und Folgen von Sanktionen. Aber dies ist keineswegs ein Makel. Der Band soll als erster in Folge von anderen als Reihe des Ukraine-Schwerpunktes der Europa-Universität Frankfurt Oder) erscheinen.
Wissenschaftliche Koordinatorin Kompetenzverbund Interdisziplinäre Ukrainestudien Frankfurt (Oder) – Berlin