„Die Stimme ist Jakobs Stimme, aber die Hände sind Esaus Hände”

Ungarn-Ukraine-Russland – ein kompliziertes Dreiecksverhältnis

Von Krisztian Ungvary[1]

Ungarn nimmt bezüglich der russischen Aggression in der Ukraine eine besondere Position ein. Auf den ersten Blick sind die Reaktionen der ungarischen Regierung schwer verständlich. Dieser Beitrag versucht, die Motive von Viktor Orbán bei der Gestaltung der ungarischen Ukrainepolitik aufzuzeigen.

In der ungarischen Politik spielte die Ukraine bis 2010 eine eher untergeordnete Rolle und auch danach war sie lediglich eine Funktion des ungarisch-russischen Verhältnisses. Da die ungarische Außenpolitik bis 2010 eindeutig euroatlantisch ausgerichtet war, gehörte diese jedoch nicht zu den Prioritäten der ungarischen Außenpolitik.

Dabei war der Schauplatz Budapest für die Ukraine sehr wichtig; schließlich wurde hier am 5. Dezember 1994 die mehrseitige Vereinbarung über die atomare Abrüstung der Ukraine getroffen (das sogenannte Budapester Memorandum[2]). Ungarn hat im Jahr 1991 einen Grundlagenvertrag mit der Ukraine geschlossen und diesen vier Jahre später ratifiziert. Dieser Vertrag deklarierte die Grenzen als unveränderbar und bekräftigte, dass Sicherheit unteilbar sei und die Sicherheit der Vertragsschließenden untrennbar mit der Sicherheit aller Mitglieder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa verbunden sei. Ungarn unterstütze die Bestrebungen der Ukraine, vollständiges Mitglied der europäischen Strukturen zu werden. Beide vertragsschließenden Parteien deklarierten den Schutz der nationalen Minderheiten – allerdings gibt es nur in der Ukraine eine nennenswerte ungarische Volksgruppe; eine alteingesessene ukrainische Minderheit ist in Ungarn nicht vorhanden.

Prolog

Viktor Orbán war bis 2008 nicht nur ein vehementer Antikommunist, sondern auch ein starker Kritiker Russlands. Sprüche, wie „Gas kommt zwar aus dem Osten, Freiheit jedoch von Westen” oder dass Ungarn keine Kolonie von Gasprom sein wolle, gehörten zur Tagesordnung. Dieses Verhalten änderte sich nach 2010 radikal. Für diesen Kurswechsel um 180 Grad gibt es zahlreiche Theorien, die hier nicht weiter behandelt werden können. Der ungarische Ministerpräsident selbst gab dazu nur ein einziges Mal eine Erklärung ab, die es lohnt, hier ausführlich zitiert und analysiert zu werden.

Am 6. April 2022 antwortete Orbán anlässlich einer internationalen Pressekonferenz auf eine Frage der Nachrichtenagentur Reuters nach den Perspektiven des ungarisch-russischen Verhältnisses folgendermaßen:

„Sie sollten die Logik unserer politischen Gemeinschaft verstehen, die im Jahr 2008 eine sehr wichtige Grenze fand. Bis zu dieser Zeit war der Westen in einem territorialen Raumgewinn, was mit der NATO-Erweiterung einherging. Und als 2008 auf dem NATO-Gipfel in Bukarest dieser Vorschlag [über die Aufnahme der Ukraine] auf dem Tisch lag, hätte man diesen annehmen können, auch die Russen waren damals schwach genug, um ihn akzeptieren zu müssen. Der Westen entschied jedoch - wir entschieden so – dass wir sie nicht aufnehmen. Und da habe ich verstanden, dass ab dieser Zeit die Kräfteverhältnisse in Europa so aussehen werden. Und dann habe ich eine neue russische Politik aufgebaut, nahm mit Präsident Putin 2009 Kontakt auf und verstand, dass Russland Teil der europäischen Sicherheitsarchitektur sein wird, denn es entstand eine neue Grenze, die die Welt der NATO von Russland trennt. Zwischen den beiden entsteht ein System von Pufferstaaten, im Süden Georgien, im Westen (für uns im Osten) die Ukraine. Das ist die neue Lage, danach sollte eine vernünftige Russlandpolitik für alle Parteien gestaltet werden. Und wir verhielten uns alle auch danach. Und jetzt ist eine Veränderung durch den Krieg da. Ich weiß noch nicht, wie tiefgreifend die Veränderung sein wird, manche reden von einem neuen eisernen Vorhang, andere sprechen von noch reparierbarem Schaden, ich kann es nicht entscheiden. Die Entscheidung ist aber in unseren Händen, aber hier beginnt etwas neues. Und wenn wir die Silhouetten dieser neuen Lage sehen, dann werde ich dies mit den zuständigen Fachleuten diskutieren und eine neue Politik in Richtung Russland schaffen. Weil wir das alte System bereits verlassen, den neuen Weg jedoch noch nicht kennen, sind wir zwischen den beiden, was auch ihre Frage genau beschreibt. Die konkreten Themen, die Sie erwähnen, sind noch hier, und wir wissen nicht, ob sie weiterhin noch eine Aktualität besitzen werden. Überhaupt, wir wissen es nicht, ob das neue europäische Sicherheitssystem gegenüber oder mit den Russen zusammen vorgestellt wird, ob die Russen daran überhaupt teilnehmen oder nicht. Wird die Ukraine ein Pufferstaat, eine demilitarisierte Zone, oder etwas anderes? Das alles wissen wir noch nicht. Und ich empfehle, dass wenn jemand eine Heimat in der Größenordnung von Ungarn hat, dann soll man zwar im Voraus denken können, aber es ist auch die Einsicht notwendig, dass diese Fragen andere entscheiden. Also, man soll aufpassen, analysieren und sich der Lage anpassen, je nachdem, was kommt. Ansonsten ist unsere Aufgabe zu retten, was wir retten können.”[3]

Nach Orbán war also die Ukraine ursprünglich ein Pufferstaat – ein Gebilde ohne eigene Spielräume und mit ungewissen Möglichkeiten einer nationalen Selbstbestimmung. Diese sehr neutrale Annäherungsweise ist schon an und für sich bemerkenswert, denn sie ignoriert jegliche Art der Wertebindung. Als ob es aus Perspektive der ungarischen Sicherheit egal wäre, was mit der Ukraine geschieht bzw. als ob nur andere, jedoch nicht die Ukraine selbst diese Entscheidungen treffen würden.

Diese Annäherung ist insofern konsequent, da die Ukraine in den ungarischen Schulbüchern seit 2022 lediglich als ein Zankapfel zwischen den USA sowie der EU und Russland dargestellt wird - ohne eigene Identität. In einem Schulbuch steht wortwörtlich, dass die russische Besetzung der Krim-Halbinsel ein Produkt der interethnischen Konflikte zwischen Russisch und Ukrainisch sprechenden Staatsbürgern der Ukraine gewesen sei.[4]

Die sehr bescheidene Attitüde des ungarischen Ministerpräsidenten, internationale Konflikte nicht mit ungarischen Ratschlägen lösen zu wollen, mag auf den ersten Blick realistisch erscheinen. Sie entspricht aber nicht den Tatsachen. Viktor Orbán praktiziert nämlich genau das Gegenteil. Es zählt zu den historischen Gegebenheiten, dass es seit der Ungarneinfälle in Westeuropa im 9. und 10. Jahrhundert keine ähnlich intensive ungarische Beeinflussung der internationalen Politik gab wie zur Zeit der Legislaturperiode von Viktor Orbán. In den letzten Jahren waren nicht nur in Slowenien, der Slowakei, in Serbien, Makedonien, Bosnien-Hezegowina und Polen ungarische politische Aktionen zu verzeichnen (Aufkauf von Medien, Beeinflussung der Wahlen durch verschiedene Mittel und direkte Teilnahme in Wahlkampagnen, vergünstigte Kredite etc.). Ungarn stand auch nachweislich zweimal mit hohen Kreditsummen parat, als es darum ging, EU-skeptische politische Kräfte zu fördern: Regierungsnahe Banken gewährten Marine le Pen und der spanischen Partei VOX jeweils zehn Millionen Euro Kredit.[5] Als Orbán danach gefragt wurde, antwortete er, dass es nicht seine Aufgabe sei, sich damit zu beschäftigen.[6] Diese Aussage ist mehr als seltsam, wenn man im Betracht zieht, dass in Ungarn eigentlich gar keine Beispiele für eine von politischer Einflussnahme unabhängige Finanzpolitik zu finden sind. Erst recht nicht in der Größenordnung von Euromillionen an politische Akteure. Mittlerweile ist es als gesichert anzusehen, dass diese Kredite nur wegen des energischen Drucks des ungarischen Ministerpräsidenten gebilligt worden sind.[7]

Für Orbáns selbstsichere Haltung und für sein Interesse an der Gestaltung der internationalen Politik spricht auch seine diplomatische Mission, die er im Juli 2024 unternahm. Während diese Reise traf er zuerst den ukrainischen Präsidenten, dann den russischen, danach besuchte er Peking. Die nächste Station war Washington, wo Orbán den NATO-Gipfel aufsuchte, und am 11. Juli traf er in Florida den US-Präsidenten. Diese Reise war besonders problematisch, weil Orbán zur selben Zeit das Amt des Präsidenten der EU bekleidete. Russland nutzte diesen Umstand dazu, den falschen Anschein zu erwecken, dass Orbán als Beauftragter der EU handele. Mehrere hohe Amtsträger der EU - darunter der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und der Präsident des Europarates - sahen sich gezwungen, gegen diesen falschen Anschein öffentlich zu protestieren. Für die russische Presse waren diese Proteste wiederum ein Beweis dafür, dass die EU ein „antidemokratisches Gebilde” sei, das „nicht einmal die Minimalrechte Ungarns garantieren” könne. Das Resultat dieser Reise war also nur eine weitere Spaltung der EU bzw. der NATO. Der Sicherheitsexperte Péter Buda wies darauf hin, dass die Tätigkeit des ungarischen Ministerpräsidenten der eines russischen Agent of Influence entspreche: Was er erreichen wolle, sei mit den Zielen von Putin identisch.[8]

Modell Russland

Wie bereits erwähnt, waren Orbáns Partei Fidesz und seine Wählerschaft ursprünglich stark antikommunistisch und antirussisch eingestellt. Diese Attitüde hat sich jedoch in den letzten 15 Jahren verändert. In regierungsnahen Medien findet man seit 2012 kaum Kritik an Russland. Mittlerweile wird sogar behauptet, dass die Wahlen in Russland „offensichtlich frei sind” und dass eine Demokratisierung Russlands gar nicht notwendig sei.[9] Diese positive Sichtweise hängt mit der schleichenden Übernahme des „russischen Modells” der Machtausübung zusammen. Das Orbán-Regime sichert seine Macht mit verblüffend ähnlichen Maßnahmen wie Wladimir Putin das in Russland tut. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Gewaltbereitschaft des ungarischen Systems bisher nicht erkennbar wurde – allerdings war Gewalt für die Machtausübung in Ungarn bisher auch nicht notwendig. Fidesz konnte seine Macht bei drei Wahlen problemlos mit einer Zweidrittelmehrheit behaupten; erst seit 2024 ist sie mit einer ernsten Herausforderung durch die neue Tisza-Partei bzw. deren Vorsitzenden Péter Magyar konfrontiert.

Putin sichert seine Macht durch verschiedene Mittel. Wichtig war hierbei, dass er verstand, nicht nur die eigene Partei, sondern auch die Opposition vollständig zu kontrollieren. Die Kontrolle der politischen Landschaft wurde durch Gleichschaltung, Austrocknung oder Verbot von NGOs ergänzt. Parallel dazu wurde auch die unabhängige Presse immer mehr verdrängt und schließlich praktisch verboten. Die Staatskasse dient dazu, eigene „Oligarchen” zu bereichern, die allerdings nur Marionetten von Putin sind und keine eigenen politischen Spielräume besitzen. Die Bevölkerung wird systematisch mit verschiedenen Propagandabotschaften bombardiert. Die angebliche Bedrohung durch westliche LGBTQ-Propaganda oder eine „faschistische” Ukraine dient dazu, die Wähler zu mobilisieren. Wie Orbán 2007 noch als Oppositionspolitiker selbst zugab, „wenn eine Regierung in der Lage ist, über ihre Konkurrenten die Annahme zu verbreiten, dass sie sogar die physische Sicherheit gefährden, dann kann sie unabhängig von ihrer eigenen politischen Qualität erwarten, dass die Menschen wegen ihres Wunsches nach Sicherheit sich der Regierung zuwenden”.[10]

Orbán selbst bediente sich nach seinem Machtantritt derselben Mittel, wobei seine Abkehr von der euro-atlantischen Integration erst nach einigen Jahren sichtbar geworden ist. Die ungarische Presse wurde in wenigen Jahren entweder gleichgeschaltet oder durch Entzug der staatlichen oder staatlich beeinflussbaren Reklameeinnahmen ausgetrocknet. Fidesz organisierte seine eigene parlamentarische Opposition und veränderte das Wahlgesetz seit 2010 nicht weniger als 300 Mal. Dadurch kann aus 35 Prozent aller Stimmen eine Regierungsmehrheit und aus 40 Prozent sogar eine Zweidrittelmehrheit entstehen, vorausgesetzt, die Opposition ist nicht in der Lage, sich vollständig zu vereinen. Gegen NGOs startete die Orbán-Regierung einen regelrechten Feldzug: Auf Fördergelder aus dem Norwegischen Fonds (Government Pension Fund Global GPFG) wurde vollständig verzichtet, weil man die Verteilung dieser Gelder nicht kontrollieren konnte. Die CEU (Central European University, eine von György Soros gegründete Institution) wurde absichtlich aus Ungarn vertrieben, wohingegen Fidesz mit offenen Armen die chinesische Fudan-Universität nach Budapest einlud.[11] Orbán bereichert sich genauso wie Putin, allerdings wurde dieser Prozess in Ungarn paradoxerweise durch die Entwendung von EU-Fördergeldern unterstützt. Lőrinc Mészáros, ursprünglich ein bescheidener Gasmonteur und Bekannter von Orbán, der auch nach gerichtlichem Urteil als „Strohmann” bezeichnet werden darf, „besitzt” mittlerweile ein Vermögen von mehr als drei Milliarden Euro. Die Bereicherung erreicht auch die Familie von Orbán und ihn selbst: Sein Schwiegersohn erklomm in wenigen Jahren Platz 19 auf der Rangliste der reichsten Unternehmer in Ungarn und Orbán baute sich ein aufwendiges Prunkschloß bei Hatvanpuszta, ähnlich wie Putin ein Schloss für sich bei Gelendschik bauen ließ.

Die Ukraine und 1956

Dass Russland bzw. der Putinismus für Orbán einen Vorbildcharakter besitzt, wird am besten einerseits aus dem Fehlen jeglicher Kritik am Putinismus selbst, andererseits aus der kreativen Übernahme der erwähnten Machtpraktiken ersichtlich. In der staatlichen Propaganda ist dieser Prozess anhand der Erinnerungskultur zur ungarischen Revolution 1956 fassbar. Vor 2010 zählte die ungarische Revolution zu den Gründungsmythen des ungarischen Staates. Viktor Orbán hat die Deutung der Revolution aber seit seinem Machtantritt stark verändert. Der Gedenktag gab ihm Anlass, 2016 über die Bedrohung Ungarns durch „Migranten” und 2017 über den Ungarn bedrohenden „homo Brüsselicus” zu sprechen, und 2018 verstieg er sich sogar dazu, die sowjetische Bedrohung 1956 mit der Bedrohung durch die „kolonisierende” EU zu vergleichen. 2022 sagte er, dass das Ziel der Revolutionäre „Waffenstillstand” und „Friedensverhandlungen” mit der Sowjetunion gewesen seien – was historisch überhaupt nicht zutrifft, denn es handelte sich um einen nationalen Freiheitskampf gegen die unterdrückende Sowjetunion. Ein Jahr später griff er wieder seine alten Sprüche über „Brüssel” auf. Nach Orbán sei die EU jedoch im Gegensatz zum Kommunismus „reformierbar”, wenn die „nationalen Kräfte” bei den EU-Wahlen gewinnen könnten. Davon, dass gerade diese „nationalen Kräfte” direkt oder indirekt aus Moskau gesteuert werden und an der Zerschlagung der EU arbeiten, ließ sich der ungarische Ministerpräsident nicht stören. Orbán selbst bezeichnet sein Verhalten in der EU als „Sand in der Maschine, Stange zwischen den Speichen, Stachel unter dem Nagel”.[12] Damit gibt er eigentlich offen zu, dass er ein Verbündeter Russlands ist.

Parallel zu Orbans Umdeutungen des Aufstandes wurden seit 2021 Stimmen laut, wonach der Hauptschuldige an 1956 der Westen sei; schließlich habe er falsche Versprechungen gemacht und die Revolutionäre damit in einen sinnlosen Kampf getrieben. In diesem Tenor äußerten sich Außenminister Péter Szíjjártó und andere namhafte Fidesz-Politiker.[13] Der Vizepräsident der Fidesz László Kósa erblickte den Sinn der 1956-er Revolution in der „Konsolidierung unter János Kádár”. Diese Interpretationen haben offensichtlich nichts mit Geschichtswissenschaft zu tun. Sie leiten sich alle aus der von dem Regime gewünschten Ukrainepolitik ab. Am 26. September 2024 gab Balázs Orbán, politischer Direktor des Ministerpräsidenten, ein Interview, in dem er offen verkündete, dass Selenskij für den Krieg verantwortlich sei, weil er sein Land „in eine kriegerische Verteidigung hineingeschleudert habe”, wogegen „wir aufgrund unserer Erfahrungen aus 1956 dies nicht getan hätten, weil das verantwortungslos ist”. Zur selben Zeit postete ein Mitarbeiter der „Souverenitäsbehörde”[14], BálinSomkuti, unter Bezugnahme auf die ungarische Revolution 1956: „Wer die Übermacht nicht respektiert ist kein Held, sondern ein Narr.”[15] [sic!]. Das Besondere an diesen Deutungen liegt darin, dass sie bereits unter der kommunistischen Herrschaft verbreitet und schon damals mit Fakten widerlegt worden sind – aber offensichtlich funktionieren sie trotzdem.

Der Krieg in der Ukraine

Im Bezug auf den Krieg in der Ukraine nimmt Ungarn eine Sonderstellung ein, die von verschiedenen Experten untersucht worden ist.[16] Ungarische Regierungsvertreter gehen zwar nicht so weit, der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung offen abzusprechen. Ihre diesbezüglichen Bemerkungen sind jedoch nur so interpretierbar, dass sie die militärische Verteidigung für sinnlos halten und jegliche Unterstützung der Ukraine als „kriegsverlängernd” kritisieren. Mittlerweile erklären manche Fidesz-Politiker sogar, dass ein ukrainischer Sieg schädlich sei.[17]

Regierungssprecher Zoltán Kovács beteuerte des Öfteren, es sei wünschenswert, dass die Ukraine gar keine Waffenhilfe erhielte. Kombiniert mit seiner Aussage, dass „ein Waffenstillstand um jeden Preis auf jedem Fall herbeigeführt werden müsse”, bedeutet dies die eindeutige Befürwortung eines russischen Totalsieges. Auf derartigen Gedanken ist die ungarische Propaganda aufgebaut worden. Diejenigen, die für die Ukraine Waffen liefern, sind „Kriegspartei”; diejenigen, die das nicht tun, „Friedenspartei”. Andererseits verkündete Verteidigungsminister Kristóf Szalay-Bobrovniczky im April 2023 vor einem geschlossenen Zuhörerkreis, dass man „mit der Friedensmentalität aufhören” müsse - Ziel der Armee sei es, „sich auf die Nullphase des Weges, der zum Kriege führt, umzustellen.”[18] Diese Mitteilung gelangte erst am 8. Mai 2025 an die Öffentlichkeit und wird seitdem unterschiedlich interpretiert: Die Regierung vertrete die Meinung, dass es sich hierbei um nichts Besonderes handele; demgegenüber wiesen die unabhängige Medien und die Opposition auf den offenkundigen Widerspruch zwischen der offiziellen „Friedenspolitik” der Regierung und dieser Aussage hin. Manche Interpretationen gehen so weit, den Hinweis auf die „Nullphase des Weges” so zu deuten, dass die ungarische Regierung letztendlich aktiv die Zerstückelung der Ukraine beabsichtige.[19]

Die offizielle Linie der Fidesz weist jedoch alle solche Vorwürfe als Hirngespinste zurück – genauso wie sie vor dem 24. Februar 2022 alle Mahnungen vor einer russischen Aggression gegen die Ukraine zurückgewiesen hat. In der eindeutig von Fidesz gelenkten Parteipresse wird die Unterstützung der Ukraine als „Vaterlandsverrat” gebrandmarkt.[20] Freiwillig in der ukrainischen Armee kämpfende ukrainischen Staatsbürger ungarischer Nationalität werden als psychiatrische Fälle dargestellt, die „als Bürger zweiter Klasse stolz darauf seien, auf die Schlachtbank marschieren zu dürfen.”[21]

Wenn es jedoch um russische Interessen geht, ist die ungarische Regierung entgegenkommend. Die Behandlung der russischen Sportler mag hier als Beispiel stehen. Da Russland seit 2023 von internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen ist, können seine Sportler nur als Einzelpersonen teilnehmen. Befürworter der russischen Aggression sind aber auch als Einzelpersonen von den Veranstaltungen ausgeschlossen. Ungarn „adoptierte“ daraufhin viele Sportler aus Russland. Mittlerweile besteht die Mehrheit der ungarischen olympischen Eiskunstlaufmannschaft aus russischen Staatsbürgern – mit der Folge, dass ungarische Sportler kaum Chancen haben, zu den olympischen Spielen nominiert zu werden.

Ein anderes Beispiel für die weitgehende Vertretung russischer Interessen zeigt die besondere Behandlung von russisch-orthodoxen Priestern. Die ungarische Regierung bestand darauf, Patriarch Kirill von der Liste der zu sanktionierenden Personen in der EU zu streichen. Sie argumentierte damit, dass die Freiheit der Religionsausübung zu den Grundwerten der EU zähle. Der wegen seiner sexuellen Delikte im Jahr 2022 nach Ungarn versetzte Metropolit Hilarion bekam innerhalb weniger Wochen die ungarische Staatsbürgerschaft – obwohl er weder aus Ungarn stammt noch einen Bezug zur ungarischen Kultur hatte. Damit wurde ihm Reisefreiheit in der ganzen EU zugebilligt.[22] Beiden Personen ist gemeinsam, dass sie vehemente Befürworter von Putins Politik sind; daneben fallen sie durch ihre extrem luxuriöse Lebensführung auf. Beide Personen stellen jedoch nur die Spitze des Eisbergs dar. Auch andere Indizien sprechen dafür, dass die ungarische Regierung am Fließband ungarische Staatsbürgerschaften an russische Personen vergibt – seit 2022 stieg der Zahl solcher Staatsbürgerschaften um 100 Prozent.[23] Parallel dazu ist eine auffallende Expansion der russischen Botschaft in Budapest festzustellen: Die Zahl ihrer Beschäftigten stieg seit der Invasion in die Ukraine um 30 Prozent, wogegen in allen anderen Staaten der EU die Zahl der russischen Diplomaten rapide zurückging. Es liegt auf der Hand, dass die russische diplomatische Vertretung in Budapest mittlerweile die größte europäische Residentur der russischen Geheimdienste darstellt.

Spionagefälle

Wie asymmetrisch die ungarische Regierung die russische Bedrohung des westlichen Bündnissystems wahrnimmt, wird aus der Behandlung eines Spionagefalls aus dem Jahr 2022 ersichtlich. Damals hatten russische Sicherheitsdienste alle Kommunikationssysteme des ungarischen Außenministeriums infiltriert. Obwohl Anzeichen dafür vorlagen, hatte das Außenministerium dies als Fake News zurückgewiesen. Zwei Jahre später wurde in der ungarischen Presse eine Stellungnahme der ungarischen Abwehr zu dem Fall bekannt. Die Angelegenheit konnte also nicht mehr vertuscht werden. Die Reaktion des zuständigen Ministers PéterSzíjjártó (der seinen russischen Amtskollegen als seinen väterlichen Freund bezeichnet) ließ nicht auf sich warten: „Wir sollten nicht naiv sein. Wenn eine Regierung souverän handelt, dann wird sie aus allen Richtungen angegriffen. Nur ein Umstand ist immer gleich, die linksliberalen Medien greifen immer am meisten und am hemmungslosesten in der Wahlkampagne an. Wir haben nationale Interessen, sie Auftraggeber.”[24]

Das kann man so deuten, dass Szíjjártó die NATO oder die Bundesrepublik Deutschland genauso durch ungarische Geheimnisse ausspionieren lässt wie Russland es tut.

Die bereits sehr schlechten ungarisch-ukrainischen Beziehungen wurden durch verschiedene Spionagevorwürfe im Jahr 2025 weiter verschärft. Anfang Mai hatten ukrainische Sicherheitskräfte eine aus Ungarn gesteuerte Spionageorganisation aufgerollt. Ziel der Spione war es, Positionen der Luftabwehr in der Karpaten-Ukraine zu identifizieren. Diese Vorwürfe waren mit Beweisen erhärtet und auch die russischen Raketenangriffe auf die Karpaten-Ukraine sind ein Beleg dafür, dass die russische Seite sehr wohl an solchen Angaben interessiert war. Als Reaktion ließ Ungarn zuerst zwei ukrainische Diplomaten ausweisen. Darauf folgte am 9. Mai die demonstrative Festnahme eines angeblichen ukrainischen Spions in Budapest auf offener Straße. Beweise über angebliche ukrainische Spionagetätigkeiten sind bisher nicht veröffentlicht worden. Auffallend an diesen Maßnahmen ist ihre zur Schau getragene Offenheit: Normalerweise regelt man solche Fälle stillschweigend, hier gingen jedoch beide Regierungen dazu über, sie propagandistisch auszuschlachten.

Pro-russische und anti-ukrainische Beeinflussung der ungarischen Wähler

Die Beeinflussung der ungarischen Wähler findet abgestuft auf vielen Ebenen statt. Die Regierung selbst hielt sich anfänglich mit anti-ukrainischen Botschaften noch einigermaßen zurück. Diese wurden in der zweiten und dritten Reihe der Regierungspresse und in den von der Regierung koordinierten öffentlichen Medien verbreitet, wozu allerdings auch Facebook hinzuzurechnen ist, wo auffallend viele prorussische Propagandaseiten in ungarischer Sprache präsent sind.

Der Übergang zwischen den verschiedenen Stufen der Regierungspropaganda kann am besten durch die Tätigkeit von Georg Spöttle dargestellt werden – wobei er kein Einzelfall ist. Der seit längerer Zeit in Ungarn lebende gebürtige Deutsche gibt an, zwanzig Jahre lang bei verschiedenen Sicherheitsdiensten der Bundesrepublik Deutschland gearbeitet zu haben. Er ist ständiger Gast im ungarischen Fernsehen; daneben tritt er auch in verschiedenen sozialen Netzwerken auf. Seine Karriere begann damit, dass er sich als „Deutschlandexperte” ausgab und verschiedene Fake News über die Zustände in Deutschland verbreitete.[25] Seit 2022 ist er gefragter „Experte” der öffentlichen und durch Fidesz gesteuerten sozialen Medien über den Krieg in der Ukraine. Er versucht gar nicht erst zu verbergen, dass er einen Totalsieg Russlands wünscht – dabei lässt er sich auch freundlich mit dem ungarischen Außenminister Péter Szíjjártó fotografieren und tritt des Öfteren in russischen Staatsmedien auf. Ungarische Journalisten haben nicht nur seine engen Kontakte zu russischen Diplomaten und Geheimdienstleuten nachgewiesen, sondern auch festgestellt, dass die englischsprachigen Propagandanachrichten der russischen Gesandtschaft in Budapest aus der Feder von Spöttle stammen.[26] Dass Spöttle selbst früher angab, Kontakte zu außerirdischen Lebewesen gehabt zu haben, stört weder seine russischen noch seine ungarischen Partner.[27]

Zu den anti-ukrainischen Botschaften zählten auch Fake-News, wonach 1945 und 1956 mehrheitlich nicht russische, sondern ukrainische Soldaten Ungarn angegriffen hätten; außerdem Negativschlagzeilen über die ukrainische Mafia und über ukrainische Kriegsflüchtlinge sowie angebliche Hinweise auf ungesunde ukrainische Lebensmittel, die den ungarischen Markt überschwemmen usw. Ministerpräsident Orbán vertritt die Position, dass die Aufnahme der Ukraine in die EU unerwünscht sei, weil das die ungarischen Wähler Geld kosten würde. Das Argument, dass die Ukraine Europa gegen Russland verteidige, wies er damit zurück, dass dies bedeute, dass „wir Ungarn eines Tages aufwachen und wieder von Osten kommende slawische Soldaten in Ungarn stationiert werden sollen”.[28] Mittlerweile ist die anti-ukrainische Hetze der Regierung so weit gediehen, dass der Führer der größten Oppositionspartei Tisza, Péter Magyar, als „ungarischer Selenskij” dargestellt werden kann.[29] Dabei hält man es nicht für notwendig, diesen Vergleich weiter zu erklären, weil Selenskij „selbstverständlich” für einen großen Teil der ungarischen Wählerschaft die Verkörperung des Bösen darstellt. Dem früheren Generalstabschef Romulusz Ruszin-Szendi, der seit 2024 Politiker der Tisza-Partei ist, wird von der Regierung vorgeworfen, während seiner Amtszeit 2021-2022 in internationalen Verhandlungen nicht den Standpunkt der Regierung vertreten zu haben. Der einzige Beweis dafür besteht darin, dass er sich von seinem ukrainischen Partner mit dem Spruch „Slava Ukraini” verabschiedet hatte – was als unbefugte Parteinahme interpretiert wird. Mit dieser Begründung läuft seitdem eine Untersuchung gegen Ruszin-Szendi.

Die staatliche Propaganda zeigt ihre Wirkung, denn die Beurteilung des Krieges in der Ukraine hat sich in Ungarn seit 2022 wesentlich verändert. Ursprünglich waren 65 Prozent der Befragen der Meinung, dass Russland ein Aggressor sei. Innerhalb von zwei Jahren stieg der Anteil derjenigen, die der Meinung sind, dass Russland die Ukraine aus „Notwehr” angegriffen habe, von 13 auf 22 Prozent. Die Zahl derjenigen, die die Ukraine als für den Krieg „verantwortlichen Staat” bezeichneten, stieg von 16 auf 26 Prozent. Der selben Befragung zufolge waren 68 Prozent für einen weiteren Verbleib Ungarns in der EU und 78 Prozent für einen weiteren Verbleib in der NATO. Die meisten Befragten sahen keinen Nachbarstaat als Bedrohung, allerdings waren immerhin 11 Prozent der Meinung, dass die Ukraine eine Bedrohung verkörpere. Diesem Wert folgt mit 7 Prozent Rumänien.[30]

Diese Antworten sind eindeutig nach Parteisympathien strukturiert. Fidesz-Wähler bezeichnen das Verhalten Russlands zu 44 Prozent als „eher Notwehr” und nur 41 Prozent halten die Ereignisse für eine russische Aggression. Bei den Wählern der größten Oppositionspartei Tisza liegen die Werte bei 83 Prozent (russische Aggression) und 11 Prozent (eher Notwehr).

Diese Zahlen sind Ergebnis lang andauernder politischer Anstrengungen der ungarischen Regierung. Diese politischen Anstrengungen sind umso notwendiger, als die ungarische öffentliche Meinung im Gegensatz zu der in Serbien, Bulgarien oder der Slowakei traditionell nicht gerade russlandfreundlich eingestellt war. Mittlerweile ist es jedoch gelungen, eine früher traditionell pro-westlich orientierte Gesellschaft weitgehend zu verunsichern. Das Beispiel Ungarn ist kein Einzelfall: Ähnliches ist in fast allen osteuropäischen Staaten zu beobachten. Untersucht man die russische hybride Kriegsführung, dann ist klar feststellbar, wer diese Prozesse steuert und welche Absichten er damit verfolgt.


[1] Krisztián Ungváry (*1969) ist Forschungsprofessor der Universität Miskolc.

[2] In diesem Dokument hatte die Ukraine ihre atomare Abrüstung auf Druck der USA und Russlands zugesichert, als Gegenleistung versprachen die Regierungen der USA, Russlands, Chinas und Frankreichs Sicherheitsgarantien.

[3] https://www.youtube.com/watch?v=B6VYvHGXyoQ [Hervorhebungen  K.U.]

[4] https://24.hu/belfold/2022/09/06/nyolcadikos-foldrajz-konyv-ukrajna-tankonyv/

[5] https://24.hu/kulfold/2024/10/01/vox-meszaros-lorinc-bank-kolcson-szelsojobboldal-orban/, https://hvg.hu/kkv/20220309_mkb_marine_le_pen_hitel

[6] https://444.hu/2024/10/08/a-vox-tamogatasarol-is-kerdezik

[7] https://hvg.hu/itthon/20220530_ft_bankholding_orban_meszaros

[8] https://telex.hu/kulfold/2024/07/08/orban-putyin-oroszok-zelenszkij-kreml-usa

[9] https://444.hu/2024/11/27/schmidt-maria-oroszorszagban-nyilvan-szabad-valasztasok-vannak

[10] https://telex.hu/belfold/2024/04/22/orban-viktor-2007-echo-tv-fizikai-biztonsag-haborus-retorika

[11] Durch den Widerstand Budapests wurde die Eröffnung der Fudan-Universität bisher verhindert.

[12] https://www.economx.hu/belfold/orban-viktor-nemzeti-unnep-marcius-15-beszed.786863.html

[13] https://telex.hu/velemeny/2024/10/07/ungvary-krisztian-1956-usa-segitsegnyujtas-szabad-europa-radio-orban-balazs-bencsik-andras

[14] „Die Behörde für den Schutz der Souverenität” ist im Jahr 2023 mit dem Ziel ins Leben gerufen worden, ausländische Beeinflussungsversuche zu detektieren und zu unterbinden.

[15] Wegen den

[16] András Rácz: Krieg, Kurswechsel, Kontinuität. Ungarns Ukraine- und Russlandpolitik. In: Osteuropa, OSTEUROPA, 72. Jg., 4–5/2022, S. 155–163

[17] https://telex.hu/belfold/2025/09/01/schmidt-maria-ukrajna-maganrepulo-orban-viktor

[18] https://telex.hu/belfold/2025/05/08/magyar-peter-bizonyitek-oszodi-beszed-beke-fidesz-ruszin-szendi-romulusz

[19] https://magyarnarancs.hu/narancsblog/szalay-bobrovniczky-es-a-haboru-nulladik-fazisa-avagy-kimondani-vegre-hogy-mi-veszelyezteti-a-magyarok-biztonsagat-276387

[20] So der Fidesz-Propagandist Kristóf Trombitás in der Überschrift eines Artikels, den er später löschte.

[21] https://444.hu/2023/03/10/karpataljai-magyar-katonakat-alaz-a-fideszes-influenszer

[22] Scandal Reveals Russian Orthodox Bishop Was Secretly Granted Hungarian Passport | Balkan Insight

[23] Gazdaság: Kétszer annyi orosz kapja meg a magyar állampolgárságot, mint a háború előtt

[24] https://www.origo.hu/itthon/2024/05/szijjarto-peter-szuveren-kormany-444-interju

[25] https://www.spiegel.de/politik/ausland/chemnitz-deutschlands-daemmerung-in-ungarns-regierungsmedien-a-1226488.html

[26] https://telex.hu/direkt36/2025/06/12/fideszes-propagandista-orosz-titkosszolgalati-kapcsolatai-buktak-ki-egy-nemzetbiztonsagi-ellenorzesen

[27] https://444.hu/2016/08/17/tetotol-talpig-atvizsgaltak-az-ufo-k-a-kormany-kedvenc-biztonsagpolitikai-szakertojet, ferner https://alien.de/cenap/cenapnews/zeigen.php?satzid=8589

[28] https://www.szabadeuropa.hu/a/orban-viktor-szerint-ha-ukrajna-nyer-ismet-keleti-szlav-katonak-erkezhetnek-magyarorszagra-/33170197.html

[29] Zelenskij und Magyar: „Wie zwei Eier” lautet der Unterschrift des diesbezüglichen Plakates.

[30] https://index.hu/belfold/2024/10/17/kozvelemeny-kutatas-zavecz-research-haboru-oroszorszag-ukrajna-honvedseg-nato-europai-unio/?token=2511cafffc5523c4ef180580c14bb3bd