Krim: Verfolgung und Vertreibung der Krimtataren – Spielball im Krieg
Von Sarah Reinke[1]
Mit einer Rückgabe der Krim an die Ukraine sei nicht zu rechnen, sagte US-Präsident Donald Trump im Sommer 2025 am Rande der Treffen mit dem russländischen[2] Präsidenten Putin und wenige Tage später mit dem Präsidenten der Ukraine Wolodymyr Selenskyj sowie europäischen Politikern. Die Halbinsel wurde 2014 völkerrechtswidrig von Russland annektiert. Seitdem hat sich Russland dort festgesetzt. Die Krim wurde vollkommen in die russländische Verwaltungsstruktur eingegliedert: Unterrichtet wird nach russischen Lehrplänen, die Krimbewohner*innen werden teils unter Zwang zum russländischen Militär eingezogen und müssen gegen die ukrainische Armee kämpfen, Menschen ohne russländischen Pass sind auf der Krim illegal, die vormals beliebten ukrainischen Produkte - gerade auch Lebensmittel - sind aus den Regalen verschwunden.
Für die indigene Bevölkerung der Krim, die Krimtatar*innen, bedeutet die Annexion die systematische Verfolgung ihrer Gemeinschaft. Zu dieser Einschätzung kam die Parlamentarische Versammlung des Europarates schon vor der russländischen Vollinvasion 2022. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR) fällte im Juni 2024 eine Grundsatzentscheidung - Ukraine v. Russia (re Crimea) - bezüglich der Menschenrechtsverletzungen auf der Krim. Dabei stellte der ECHR fest, dass Krimtatar*innen insbesondere ein Ziel von Einschüchterungstaktiken, Druck, physischen Attacken, Durchsuchungen, Festnahmen und Bestrafungen seien.[3]
Systematische Verfolgung der Krimtatar*innen
Mit Stand Juli 2025 hält Russland illegal 220 Menschen von der Krim aus ethnischen, religiösen und politischen Gründen gefangen. Davon sind 133, also mehr als die Hälfte, Krimtatar*innen, und das bei einem Bevölkerungsanteil der Krimtatar*innen von weniger als zwölf Prozent.[4]
Krimtatar*innen werden unter fabrizierten Anschuldigungen (zum Beispiel Terrorismus) verhaftet, ihre Anwält*innen werden schikaniert und verfolgt.[5] Die Selbstvertretungsorgane der Krimtatar*innen, der Medschlis und der Kurultaj, wurden verboten[6]
Die NGO Crimean Tatar Resource Center[7] sammelt und veröffentlicht regelmäßig Berichte über Menschenrechtsverletzungen auf der Krim. Im ersten Halbjahr 2025 verzeichnete sie 101 Verhaftungen; 50 der Festgenommenen waren Krimtatar*innen. Ebenfalls betrafen 15 von 65 zeitweiligen Festnahmen Krimtatar*innen.[8]
Willkürliche Hausdurchsuchungen
Eine Methode, die Bevölkerung in Angst zu halten, sind willkürliche Hausdurchsuchungen. Früh am Morgen kommen Mitarbeiter des Geheimdienstes und der Polizei, dringen in Häuser und Höfe ein, führen Durchsuchungen durch und platzieren nicht selten beispielsweise ein in Russland verbotenes Buch, um einen Grund für eine Festnahme zu schaffen. Anfang Februar dieses Jahres wurden etwa in den Orten Istochne, Novokrymske, Lobanove (Dzhankoi Distrikt) und Yarke Pole (Feodosiia Distrikt) Häuser und Wohnungen durchsucht. Die Sicherheitskräfte nahmen dabei die Krimtataren Emir Kurtnezirov, Abibulla Smedliaiev, Rustem Mustafaiev, Myrzaali Tazhybaiev und Bakhtiiar Ablaiev fest. Emir Kurtnezirov zwangen sie gewaltsam mit seinen Händen auf dem Rücken zu Boden und konfiszierten auch persönliche Gegenstände, Dokumente und Telefone von Familienmitgliedern. Seit 2014 haben Menschenrechtsorganisationen 464 willkürliche Hausdurchsuchungen an insgesamt 329 krimtatarischen Wohnorten dokumentiert.
Verschwindenlassen
Am 25. März 2025 durchsuchte der russische Geheimdienst FSB im Dorf Sofiyivka im Bezirk Simferopol das Haus von Susanna Ismailova. Nach der Durchsuchung wurde sie verschleppt.[9] Am 6. Mai 2025 verschwand Hatice Büyühçan auf dem Weg von Eski Kirim nach Simferopol. Über zwei Monate blieb ihr Verbleib unbekannt. Am 14. Juli 2025 veröffentlichte der FSB ein Video, das ihre Festnahme zeigt. Ihr wird vorgeworfen, einen Anschlag auf einen russischen Militärangehörigen geplant zu haben. Büyühçan hatte sich für die Rechte der Krimtatar*innen eingesetzt, nun werden ihr „Terrorismus“ und „Hochverrat“ vorgeworfen, und ihr droht lebenslange Haft.[10] Die Zahl der verschleppten krimtatarischen Frauen steigt. Ein Fall ist aus dem Jahr 2022 bekannt, zwischen 2024 und 2025 kamen weitere neun Frauen hinzu.[11]
Sprache, Kultur und Bildung
Schon vor 2014 galt Krimtatarisch laut Einschätzung der UNESCO 2010 als „severely endangered“ (dt. stark gefährdet). Im Schuljahr 2013/14 waren 3,1 Prozent der Schulen auf der Krim krimtatarisch oder hatten mindestens krimtatarische Klassen oder Unterricht. Doch seit 2014 gelten die russländischen Bildungsgesetze und der entsprechende Lehrplan.[12] Der Unterricht auf Krimtatarisch und zu krimtatarischer Kultur - zwei der noch wenigen Möglichkeiten für Kinder, jenseits ihrer Familien Zugänge zu ihrer Kultur zu bekommen - wurden nicht direkt verboten, sondern das Angebot schrittweise zurückgefahren. Eltern wurden angehalten, Kinder nicht in krimtatarische Klassen einzuschreiben und krimtatarische Schulbücher wurden nicht mehr zur Verfügung gestellt.[13]
Demographie
Vor 2014 machten Krimtatar*innen mit einer Zahl von 200.000 wieder knapp 13 Prozent der Krim-Bevölkerung aus.[14] Diese Zahl sank ab 2014 deutlich und nach 2022 nochmals stärker.
Einschüchterungs- und Repressionskampagnen, Druck auf Journalist*innen und Versuche des Geheimdienstes FSB, Krimtatar*innen auch unter Anwendung von Gewalt als Informant*innen zu akquirieren, haben zu einer Atmosphäre der Angst geführt und dazu, dass Krimtatar*innen von der Halbinsel geflohen sind.
Die russländischen Behörden werben ganz gezielt ethnische Russen zur Ansiedlung auf der Krim an. Auch die Zahl von russländischen Soldaten und anderen Militärangehörigen ist hier stark angestiegen. Fast 3.000 von ihnen haben Grundstücke auf der Halbinsel erhalten.[15] Die Insel und ihre Bewohner*innen werden auf diese Weise russifiziert. Ein Instrument dafür ist auch die Passpolitik: Ohne die russländische Staatsbürgerschaft ist das Leben auf der Krim kaum möglich; sogar im Krankenhaus werden Menschen, die keinen russländischen Pass haben, zurückgewiesen. In allen von Russland aktuell besetzen Gebieten (also auch auf der Krim) hat die Regierung die bevorzugte Bereitstellung von Arzneimitteln und medizinischer Versorgung für schwer kranke Menschen eingestellt, wenn diese nicht die russländische Staatsbürgerschaft haben.[16] In weiten Gebieten der Krim dürfen Menschen ohne russländischen Pass kein Land besitzen. 2024 verboten die Behörden Menschen ohne russländische Staatsbürgerschaft die Arbeit in 35 Bereichen, u. a. in der Landwirtschaft, in der Tierhaltung und im Verkauf.
Krimtatar*innen flohen zwischen 2014 und 2022 hauptsächlich nach Kyjiw, Lwiw, Winnytsja und Charkiw, also in die Festlandukraine. Nach der Vollinvasion im Februar 2022 mussten viele zum zweiten Mal die Flucht antreten, weitere flohen direkt von der Krim etwa nach Polen, Deutschland oder in die Türkei.
Krim: Basis für den Krieg
Besonders bitter ist es für viele Krimtatar*innen, für Ukrainer*innen auf der Krim sowie für Menschen, die die Ukraine unterstützen, dass der Krieg gegen die Ukraine wesentlich von der Krim aus geführt wird. Die Halbinsel ist massiv militarisiert worden: Militärbasen, Flugplätze, Abschussstellen, Militärkrankenhäuser und Soldatenfriedhöfe wurden eingerichtet. Die aus der Ukraine verschleppten Kinder wurden zeitweise auf der Krim festgehalten. Punktuell regt sich Widerstand: Es gibt Menschen, die unter hohem persönlichen Risiko Informationen über Raketenabschüsse oder Militäroperationen auf der Krim an das ukrainische Militär weitergeben. Und es gibt Verbände, die militärischen Widerstand leisten.
Halbinsel russischer Gefängnisse
Auf der Krim errichteten die russländischen Behörden ein weites Netz an Gefängnissen. Hierhin werden Ukrainer*innen aus den anderen von Russland besetzten Gebieten der Ukraine gebracht, darunter die entführten Kinder, aber auch Zivilist*innen, Kriegsgefangene, ehemalige ukrainische Soldat*innen und lokale Beamt*innen. Diese Haftanstalten stehen unter der vollständigen Kontrolle des russländischen Geheimdienstes FSB. Aus diesen Haftanstalten werden die Gefangenen oft in russländische Gefängnisse überführt. Auf diese Weise fungiert die Halbinsel als düstere Transitzone in einem größeren System der Unterdrückung. Am 20. August 2025 verabschiedete die russländische Regierung die Resolution Nr. 1240, mit der Änderungen am föderalen Programm „Entwicklung des Strafvollzugssystems (2018–2035)“ gebilligt wurden. Das Dokument sieht einen weiteren groß angelegten Ausbau der Strafvollzugsinfrastruktur auf der Krim vor. Weitere Untersuchungshaftanstalten mit 366 Plätzen sollen gebaut werden; in zwei Phasen wird ein neues Gefängnis mit 1.500 Plätzen errichtet. Geplant ist auch der Umbau einer Strafkolonie mit 20 zellenartigen Räumen und die Anschaffung von 85 Produktionseinheiten, um Gefangene in Zwangsarbeit einzubeziehen.[17]
Exil und Perspektive
Seit ihrer kollektiven Deportation von der Krim am 18. Mai 1944 auf Befehl Stalins war das wichtigste Ziel der gewaltfreien krimtatarischen Nationalbewegung die Rückkehr auf die Krim. Über Jahrzehnte setzten sich ihre Aktivist*innen während der Sowjetzeit dafür ein, akzeptierten lange Haftstrafen, Schikanen und Verfolgung. Die Rückkehr auf die Krim war dann erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1990-er Jahren möglich. Gegen viele Widerstände versuchten die Krimtatar*innen, ihre Sprache und Kultur wiederzubeleben. Dann kam 2014 die russländische Annexion und damit wieder Vertreibung, Verfolgung und die Verzweiflung über den erneuten Verlust der Heimat.
In der Ukraine, in der Türkei und in Europa entstanden seit 2014 und verstärkt seit 2022 Netzwerke auch junger Krimtatar*innen, die sich das Überleben ihrer Gemeinschaft zur Aufgabe machen. Sie organisieren Kulturabende und Ausstellungen, publizieren über ihr Volk, knüpfen Kontakte in die Politik und zu Unterstützer*innen. Sie wollen gehört werden und mischen sich ein. Im Exil setzen sie auf Bildung und Weiterentwicklung und sind bestrebt, sich nicht dem Gefühl des endgültigen Verlustes ihrer Heimat hinzugeben. Das gelingt nicht immer. Als Menschenrechtsorganisation arbeitet die Gesellschaft für bedrohte Völker e. V. eng mit krimtatarischen Partner*innen zusammen, damit ihre Stimmen nicht im Lärm der großen Politik untergehen.
[1] Sarah Reinke ist bei der Gesellschaft für bedrohte Völker Geschäftsleiterin des Bereichs Menschenrechte und als Osteuropahistorikerin außerdem verantwortlich die Arbeit zu Osteuropa/GUS.
[2] Als russländisch werden die auf den (Vielvölker-)Staat Russland bezogenen Aussagen benannt. Russisch hingegen bezeichnet die Sprache oder die Zugehörigkeit zur russischen Nationalität.
[3] Ukraine v. Russia (re Crimea). Multiple violations in case brought by Ukraine against Russia concerning Crimea, 25.06.2024, European Court of Human Rights Grand Chamber Judgement, URL: https://hudoc.echr.coe.int/eng-press#{%22itemid%22:[%22003-7981802-11134245%22]}, S. 7, 02.07.2025.
[4] https://crimea-platform.org/en/news/sytuatsiya-v-okupovanomu-krymu-15-lypnya-2025-roku/, 15.07.2025.
[5] Genauer dargestellt in: Krim. Zehn Jahre Besatzung und die systematische Verfolgung der Krimtatar*innen im Jahr 2024. Memorandum, Gesellschaft für bedrohte Völker (Hrsg.), Dezember 2024.
[6] Malek, Martin, Die Krimtataren 1991–2015. Von der Repatriierung zur Russländischen Besatzung, in: Die Krimtataren. Geschichte Kultur Politik (Ukrainian Voices, vol. 85), hrsg. v. Sarah Reinke und Mieste Hotopp-Rieke, Stuttgart/Hannover 2025, S. 242.
[7] https://ctrcenter.org/uk, 20.07.2025.
[8] https://ctrcenter.org/uk/activities/analiz-porushen-prav-lyudyny-v-okupovanomu-krymu-za-i-pivrichchya-2025-roku-prezentacziya, 16.07.2025.
[9] https://ctrcenter.org/uk/activities/analiz-porushen-prav-lyudyny-v-okupovanomu-krymu-za-i-pivrichchya-2025-roku-prezentacziya, 16.07.2025.
[10] https://mezha.net/eng/bukvy/crimean-tatars-detained-by-russian-fsb-on-terrorism-charges-amid-human-rights-concerns/, 20.07.2025.
[11] https://krymsos.com/en/koly-tysha-staye-zbroyeyu-strahu-nasylnyczki-znyknennya-zhinok-u-krymu/, 01.07.2025.
[12] Malek, Krimtataren, S. 245.
[13] https://ru.krymr.com/a/27227363.html, 02.07.2025.
[14] Ungebrochen. Für die Freiheit, in: Die Krimtataren. Geschichte Kultur Politik (Ukrainian Voices, vol. 85), hrsg. v. Sarah Reinke und Mieste Hotopp-Rieke, Stuttgart/Hannover 2025, S. 10; Malek, Krimtataren, S. 226.
[15] https://ctrcenter.org/ru/activities/analiz-narushenij-prav-cheloveka-v-okkupirovannom-krymu-za-i-kvartal-2025-goda-prezentacziya, 26.06.2025.
[16] https://ctrcenter.org/uk/activities/analiz-porushen-prav-lyudyny-v-okupovanomu-krymu-za-i-pivrichchya-2025-roku-prezentacziya, 16.07.2025.
[17] crimea-platform.org/en/news/rf-zberihaie-v-planakh-budivnytstvo-novykh-slidchykh-izoliatoriv-v-okupovanomu-krymu-cherez-perepovnennia-isnuiuchykh/, 14.09.2025.