Rasender Stillstand: Belarus - eine Revolution und die Folgen

von Ingo Petz[1][2]

Die Erschütterung

Der Kultur- und Museumskomplex Mystezkyj Arsenal befindet sich im historischen Zentrum von Kyjiw, neben dem Höhlenkloster und unweit des Maidans. Ab März 2021 fand dort die Ausstellung „Every Day. Art. Solidarity. Resistance“ statt. Sie zeigte ein breites Spektrum künstlerischer, subversiver Interventionstaktiken: welche Rolle die belarusische Kunst bei der Revolution spielte, wie belarusische Künstler und Künstlerinnen seit vielen Jahren mit schöpferischer Widerstandskraft ihren Kampf gegen die Autokratie führen, wie sie autoritäre Mechanismen und Narrative auseinandernehmen, aber auch das Leben in einer Gesellschaft unter autoritärer Herrschaft verarbeiten. Dass diese Ausstellung in der ukrainischen Hauptstadt stattfinden konnte, war kein Zufall. Die enge Verbindung zwischen dem Teil der belarusischen Gesellschaft, der auf politische Selbstbestimmung drängt, und der Ukraine als wahrgewordenes Symbol dieser Selbstbestimmung hat eine lange Geschichte.

Schon im 19. Jahrhundert wurde die belarusische Unabhängigkeitsbewegung von der ukrainischen Freiheitsidee ermutigt. Die Poeme eines Taras Schewtschenko haben die Entwicklung der belarusischen Literatur durch Maksim Bahdanowitsch oder Janka Kupala geprägt. Die Anfänge des belarusischen Theaters wären ohne die nationalbewussten Stücke eines Iwan Kotljarewsky kaum denkbar. Die ukrainische Nationalbewegung hatte insgesamt günstigere Voraussetzungen.
Im Westen der Ukraine, der mit den Teilungen der polnisch-litauischen Adelsrepublik an Habsburg gegangen war, gab es mehr Freiraum für Intellektuelle, Wissenschaft Kultur und Religion. So konnte sich die ukrainische Idee besser entwickeln und verfestigen. Die belarusischen Gebiete hatte sich das Zarenreich vollständig einverleibt. Vor allem nach dem Aufstand von 1863 / 64 ging Russland vehement gegen jegliche nationalen Bestrebungen vor, belarusischsprachige Schulen und Publikationen wurden verboten, Intellektuelle und Kulturschaffende wurden verfolgt, die Unierte Kirche – bis dahin so etwas wie die belarusische Nationalkirche – war schon liquidiert und die Gemeinden zwangsweise in die russisch-orthodoxe Kirche eingegliedert worden.

Im langen Widerstandskampf gegen Lukaschenka war das beharrliche Aufbegehren der Ukrainer den Belarusen, die von einem politischen Wandel träumten, Inspiration und Motivation. Schon 2004 blickten viele gebannt Richtung Maidan; einige meiner belarusischen Freunde fuhren hin, um die Ukrainer zu unterstützen, aber auch um nachzufühlen, wie es ist, Teil einer Solidargemeinschaft zu sein, die sich im Widerstand gegen die Macht nicht so leicht vertreiben lässt. 2005 war ich in Minsk bei einer Lesung junger belarusischer Dichter. Bei seinem Auftritt sagte Andrej Chadanowytsch: „Ich habe Mandarinen verteilen lassen. In der Ukraine gab es Orangen zur Revolution, bei uns Mandarinen. Wir sind ja auch ein kleineres Land.“ Auch 2013, als der Euromaidan begann, waren belarusische Aktivisten und Kulturschaffende auf der Seite ihrer Nachbarn. Lavon Volski trat mit seiner Band Krambambulya im Zentrum von Kyjjw auf, um die Demonstranten bei eisiger Kälte zu unterstützen. Der erste, der von Scharfschützen im Februar 2014 erschossen wurde, war ein Belaruse. Als Russland die Krim annektierte und den Krieg in der Ostukraine lostrat, war dies ein Weckruf für junge Belarusen, sich nicht nur mit der Ukraine zu solidarisieren, sondern sich auch für die eigene Selbstbestimmung einzusetzen. Belarusische Bürger gingen in die Freiwilligenbataillone, um der Ukraine in ihrem Widerstandskampf beizustehen. Bei Freundschaftsspielen zwischen den Fußball-Nationalmannschaften von Belarus und der Ukraine grölten beide Fanlager zusammen den bekannt gewordenen Gesang „Putin – chuilo“, sinngemäß: Putin ist ein Arschloch. Einer der bekanntesten Songs über die ukrainische Revolution und die Folgen schrieb der belarusische Musiker Sergej Michalok, der Schriftsteller Serhij Zhadan hat den Song „Woiny sweta“ (Krieger des Lichts) ins Ukrainische übersetzt. 2018 gratulierte Pawlo Klimkin, damals Außenminister der Ukraine, der belarusischen Bevölkerung zum Ausruf der Belarusischen Volksrepublik, der BNR, der sich zum 100. Mal jährte. Ein wichtiges Ereignis, das die Opposition jedes Jahr am 25. März – dem sogenannten Dsen Woli, dem Tag der Freiheit – begeht, das aber vom Lukaschenka-Staat ignoriert wird. Für die belarusische Unabhängigkeitsgeschichte spielt die BNR eine wichtige Rolle, auch wenn der Rumpfstaat 1918 nur einige Monate überlebte und kaum internationale Anerkennung fand. In einem Essay zeichnete der damalige ukrainische Außenminister die Geschichte der beiden Völker nach, deren Schicksal immer wieder eng miteinander verknüpft war. Er sei überzeugt, resümierte Klimkin, dass die Ukraine und Belarus „nicht nur eine gemeinsame Vergangenheit, sondern auch eine gemeinsame Zukunft haben“ werden. „Und diese Zukunft ist ein geeintes, demokratisches Europa. Schließlich lässt sich die Logik der Geschichte nicht umgehen, sie gewinnt am Ende immer.“

Angesichts der Repressionen in Belarus war die Ukraine für zehntausende belarusische Bürger wegen der kulturellen und sprachlichen Nähe die erste Wahl als Zufluchtsort, aber auch, weil kein Visum notwendig war für eine Einreise, die nicht selten Hals über Kopf passieren musste. Zudem hatte Wolodymyr Selenskyj im Oktober 2020 ein Dekret erlassen, das belarusischen Fachkräften die Aufenthaltsgenehmigung erleichterte. Eine Kunstausstellung, die den Widerstandskampf der belarusischen Gesellschaft thematisierte und im geographischen und metaphysischen Zentrum der Ukraine stattfand, war also ein starkes Zeichen. Zur Eröffnung wiederholte der bereits erwähnte Ales Puschkin eine Performance, die er 1999 vor dem Präsidentenpalast im Herzen von Minsk inszeniert hatte. Die Ausstellungsmacher würdigten so den langen Kampf der Kunst und der Kreativen gegen das Regime. Mit einer Schubkarre hatte Puschkin eine Ladung Mist vor dem Präsidentenpalast im Zentrum der belarusischen Hauptstadt abgeladen, dekorierte den Haufen mit einem Bild von Lukaschenka und stach eine Mistgabel hinein. Die Aktion nannte er: „Ein Geschenk an den Präsidenten für fünf Jahre fruchtbringende Arbeit!“ Freunde versuchten, Puschkin nach seinem Besuch in Kyjiw davon zu überzeugen, in der Ukraine zu bleiben und nicht nach Belarus zurückzureisen. Aber der blieb bei seiner Entscheidung. Er fuhr und wurde am 30. März 2021 festgenommen, was letztlich seinen Tod bedeutete.

Die Verbindungen zwischen den Freiheitskämpfen der Belarusen und Ukrainer wurden am 24. Februar 2022 erschüttert und auf vielen Ebenen jäh durchtrennt. Durch Russland, das die Geschicke der beiden Länder seit Jahrhunderten beeinflusst und das immer wieder das nationale Selbstbestimmungsrecht der Belarusen und Ukrainer untergrub. Der Beginn der vollumfänglichen Invasion und eines blutigen Angriffskrieges bedeutete nicht nur eine Zäsur für Europa, sondern eben auch für die Beziehung zweier Nationen, deren Schicksal eng verwoben ist. Wer in der belarusischen Gesellschaft trotz der düsteren Lage im eigenen Land bis dahin noch auf die Möglichkeit eines Wandels gehofft hatte, für den zerstoben alle Hoffnungen mit den ersten Raketen, die in Kyjiw und anderen Städten explodierten.

Der Schock, dass ihre Heimat in einen verbrecherischen Krieg gegen den Nachbarn involviert war, ließ viele Belarusen ihre Angst vergessen. Hunderte trieb es zum Protest in Minsk und an anderen Orten am 27. und 28. Februar 2022 auf die Straße – trotz des hochrepressiven Regimes, das Lukaschenkas Machtapparat errichtet hatte. Mehr als 1.700 Personen wurden laut Angaben von Menschenrechtsorganisationen bis 2024 verurteilt, weil sie sich solidarisch mit der Ukraine zeigten: mit einem Slava Ukraini! in den sozialen Medien oder indem sie an einer Antikriegsaktion teilgenommen haben. Spenden an die ukrainische Armee oder an andere Ukraine-nahe Organisationen werden mit drei Jahren Freiheitsentzug oder mehr bestraft. Aber es gibt andere Wege, die Unterstützung für die Ukraine zu zeigen. Nach Bekanntwerden der Massaker in Butscha und Irpin durch russische Truppen legten Belarusen Blumen, Stofftiere oder selbstgemalte Bilder an der Botschaft der Ukraine in Minsk ab. Sehr mutige Belarusen zog es dennoch aktiv in den Kampf und den Widerstand. Hunderte Männer reisten aus dem sicheren Exil in den Krieg oder schlossen sich vor Ort der ukrainischen Armee oder der Territorialverteidigung an. Daraus entstanden mehrere Freiwilligen-Verbände, von denen das Kalinouski-Regiment die größte Bekanntheit erlangte. In dieser Einheit kämpften zeitweise über 400 Belarusen, mehr als 60 sind bis heute gefallen. In der Gestalt Kalinouskis als Symbol des belarusischen Unabhängigkeitskampfes manifestiert sich der Kampf gegen die russki mir und das russische Imperium. Mittlerweile wurden zahlreiche Straßen in der Ukraine nach ihm benannt. Auch der belarusische Ruder-Olympionike Pawel Schurmei schloss sich dem Regiment an, seit 2024 ist er Kommandant. „In unserer Einheit sind viele Freiwillige, denen das Jahr 2020 in Bezug auf die Situation in Belarus und den russischen Einfluss auf Belarus die Augen geöffnet hat“, sagte er in einem Interview mit der Ukrajinska Prawda. „Die Belarusen müssen verstehen, dass unsere Zukunft von uns selbst abhängt. Es hat keinen Sinn, darauf zu warten, bis die Ukraine, Europa oder Amerika unser
Schicksal entscheiden. Wir sind selbst die Herren unserer Zukunft. Geholfen wird nur denen, die kämpfen.“ Denjenigen, die sich für den Kampf auf Seite der Ukraine entschieden haben, ist der Rückweg nach Belarus vollständig verschlossen, solange Lukaschenka an der Macht ist.

Vasil Weramejtschik war stellvertretender Kommandant des Kalinouski-Regiments. Er war mit seiner Familie in die Ukraine geflohen, nachdem er infolge der Proteste von 2020 zwei Haftstrafen verbüßt hatte und befürchtete, als ehemaliger Offizier der Armee seines Landes erneut verhaftet und für lange Zeit weggesperrt zu werden. Mit Beginn des russischen Angriffskrieges entschied er sich zum Kampf auf Seiten der Ukraine. Nach seiner Demobilisierung ging er nach Litauen, wohin seine Familie geflohen war. Die litauischen Behörden verweigerten ihm aus „Sicherheitsgründen“ eine Aufenthaltsgenehmigung, weil er als Berufsoffizier in der Armee Lukaschenkas gedient hatte. Vasil ging nach Vietnam. Dort wurde er im November 2024 festgenommen und an belarusische Geheimdienstmitarbeiter übergeben, die ihn nach Belarus verschleppten. Das Lukaschenka-Regime hat das Kalinouski-Regiment als „terroristische Organisation“ eingestuft. Veteranen und Kämpfern, die gefasst werden, drohen 20 Jahre Haft oder die Todesstrafe. Häufig werden auch Verwandte und Freunde unter Druck gesetzt. Der Herrschaftsapparat fürchtet, dass sich eine schlagkräftige Einheit formiert, die einen Systemwechsel mit Waffengewalt erzwingen könnte.

Im Land selbst entfachten Belarusen einen „Schienenkrieg“, benannt nach den Sabotageaktionen der sowjetischen Partisanen gegen die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg. In den ersten Monaten nach Beginn der russischen Großinvasion wurden an vielen Bahnstrecken Schaltkästen in Brand gesetzt, um den Transport russischen Militärgeräts zu behindern. Die Anschläge wurden gemeinsam mit oppositionellen Organisationen im Exil koordiniert – beispielsweise mit Bypol. In der Folge wurden mindestens 13 Personen verhaftet und zu insgesamt 200 Jahren Haft und Straflager verurteilt. Ein weiterer Anschlag galt einem russischen Militäraufklärungsflugzeug im Februar 2023 auf einem Flughafen in der Nähe von Minsk, für den im Oktober 2024 zwölf Personen, zum Teil in Abwesenheit, zu zwei bis 25 Jahren verurteilt wurden. Auch Hacker wie die Cyberpartisanen – eine Gruppe, die sich während der Revolution gegründet hatte, um Lukaschenkas Herrschaftsapparat und seine Staatsunternehmen zu attackieren – beteiligten sich an dem Widerstand. Sie legten die Webseiten von Ministerien lahm, stahlen Datenbanken des KGB oder unterstützten die „Eisenbahnpartisanen“. Für die Initiative Belaruski Hajun sammelten Belarusen im Land Informationen und Daten über russische Truppenbewegungen und Raketenangriffe aus Belarus – ein hochgefährliches Engagement, das die Beteiligten für viele Jahre hinter Gittern bringen kann. All diese Aktivitäten und Proteste sollen nicht nur den Widerstand der Ukraine unterstützen und ein Zeichen der Solidarität sein, sondern sie demonstrieren auch die radikale Ablehnung der fatalen Einflussnahme Russlands in Belarus und das Beharren auf dem Recht auf Selbstbestimmung. Sie sind also Ausdruck dessen, was die Revolution 2020 zum Lodern gebracht hat.

Aber sind die Antikriegsproteste und Sabotageakte ein Beweis dafür, dass die belarusische Gesellschaft den russischen Krieg gegen die Ukraine insgesamt ablehnt? Hinweise geben die Umfragen von Chatham House, die in regelmäßigen Abständen Stimmungen und Sichtweisen unter den Belarusen abfragen. Demnach befürworten nur sehr wenige der Befragten ein Eingreifen in den Krieg mit eigenen Truppen, auch lehnt eine deutliche Mehrheit den Krieg insgesamt ab. Dennoch erfährt Russland für seinen verbrecherischen Krieg relativ hohe Zustimmungsraten – zwischen 30 und 40 Prozent – vor allem bei Leuten, die angeben, Staatsmedien zu konsumieren. Soziologen weisen darauf hin, dass pro-russische Haltungen durch die Beschneidung der Informationsfreiheit und die Stärkung russischer Propaganda verstärkt werden. Aufgrund der Repressionen gegen unabhängige Medien, die mit ihren dezidiert belarusischen Sichtweisen als Korrektiv wirkten, erobern russische Propaganda und Narrative deutlich mehr Raum. Über Fernsehen und digitale Plattformen finden sie in Belarus unkontrolliert Verbreitung. Bis 2020 dominierten in Belarus anders als in Russland unabhängige Medien und Informationsquellen, die Anfälligkeit der Bevölkerung für Staatspropaganda war insgesamt deutlich geringer. Auch spielt eine Rolle, dass die Angst vor einem Szenario wie in der Ukraine Stimmungsbilder in der belarusischen Gesellschaft beeinflussen. Mariupol, Bachmut, Awdijiwka – viele kennen die Bilder der Städte, die Russland dem Erdboden gleichgemacht hat. Die Umfragen geben auch Hinweise darauf, dass die Zustimmungswerte für Lukaschenka gestiegen sind. Manche Belarusen sehen es möglicherweise als seinen Erfolg an, dass der Krieg sich noch nicht auf belarusisches Territorium ausgeweitet hat.
Solche Meinungen sollten aber aufgrund des „Angst-Faktors“ mit Vorsicht behandelt werden: Menschen tendieren in hochrepressiven Regimen dazu, die Antworten zu geben, von denen sie glauben, dass sie der Meinung der Herrschenden entsprechen. Zudem werden die Umfragen nur online durchgeführt.

Der Krieg hatte also von Anfang an gravierende und langwierige Folgen für Belarus: Er wirkte auf vielen Ebenen als Beschleuniger der belarusischen Abhängigkeit von Russland. Lukaschenka beschwor mehr als zuvor den „Kampf gegen innere und äußere Feinde“. Dies bestärkte die Hardliner, die Repressionsmaschinerie unter Dampf zu halten, die Radikalisierung und Militarisierung des Regimes und der totalitäre Umbau schreiten voran. Der Freiheitskampf sowie die Leidensgeschichten der politisch Verfolgten rückten in der internationalen Berichterstattung und in der öffentlichen Diskussion in den Hintergrund. Den Belarusen, die 2020 noch so eindrucksvoll für ihre Selbstbestimmung gekämpft hatten, hing nun wegen Lukaschenkas fataler Rolle die Schmach und Schuld an, Co-Aggressor zu sein. Für Belarusen, die sich zur Ukraine bekennen, eine schmerzhafte Erfahrung. Sie sehen den Krieg auch als ihren Krieg an.

Die ukrainische Gesellschaft hingegen hat sich von dem Nachbarland, das vor dem Beginn des großen Angriffskriegs ein gutes Ansehen genoss, weitgehend abgewandt. In einer Umfrage des Ukraine Razumkov Centre im September 2024 gaben 84 Prozent der Befragten an, eine negative Einstellung gegenüber Belarus zu haben. 43,8 Prozent vertraten die Meinung, dass man die Beziehungen auch nach einem Sieg der Ukraine vollständig abbrechen müsste. Vor allem zu Beginn des Angriffskrieges wallten Hass und Wut gegen Belarusen auf, was sich nicht nur in Beschimpfungen in den sozialen Medien entlud. Ukrainer beschuldigten die Belarusen, sich Lukaschenkas Machtspielen nicht stark genug widersetzt zu haben. Der Schriftsteller Alhierd Bacharevič reagierte mit einem Offenen Brief auf diese Schuldzuweisungen: „Ist es wirklich die Schuld der Belarusen, dass wir die Mauer nicht zerstören konnten? Dass wir Putin unser Land besetzen ließen? Dass wir dem russischen Faschismus erlaubten, unser Land zu benutzen? In historischer Perspektive – ja, vielleicht. Aber wir leben hier und jetzt. Zehntausende Belarusen sind Repressionen ausgesetzt und sitzen im Gefängnis. Und ich werde nie zustimmen, dass sie Hass und Verachtung verdienen.“ Ukrainische Autoren, die über Jahre ein gutes Verhältnis zu ihren belarusischen Kollegen pflegten, distanzierten sich. Aber es gab auch Handreichungen. Der ukrainische Schauspieler und Dichter Stas Dombrovskiy erklärte: „Ihr seid meine Brüder – trotz allem.“ Bei einem Konzert in Warschau im Herbst 2023 holte Serhij Zhadan Lavon Volski, die Ikone der belarusischen Alternativmusik, auf die Bühne. Gemeinsam sangen sie einen Song von Volski. Oleksandra Matviichuyk verteidigte die Entscheidung, den Friedensnobelpreis mit ihren Kollegen aus Russland und Belarus zu teilen. Der Preis werde nicht an Länder vergeben, sagte sie, sondern an Menschen, die sich dafür einsetzen, diese Länder zu verändern. Damit reagierte die Menschenrechtlerin, die sich schon lange für politische Gefangene in Belarus einsetzt, auf die Kritik ihrer Landsleute an der Entscheidung des Nobelpreiskomitees. Der Medienexperte Serzh Charitonau erklärte in einem Interview mit Radio Svaboda die pauschalen Anfeindungen damit, dass Lukaschenkas Propaganda dazu geführt habe, dass das Regime und Belarus für viele Ukrainer zu einer Einheit verschmelze. „Das liegt zum großen Teil an der mangelnden Bereitschaft der ukrainischen Medien, sich mit Belarus und seinem poli- tischen Leben zu befassen“, sagte er. „Man kann nicht sagen, dass sich die Belarusen irgendwie besonders für die ukrainische Politik interessieren, und doch scheint mir, dass das allgemeine Bewusstsein der Belarusen für die ukrainische Politik viel größer ist als das der Ukrainer für Belarus.“ Einer, der sehr wohl zwischen dem Regime und der belarusischen Gesellschaft unterscheidet, ist der ukrainische Historiker Yaroslav Hrytsak. Er sagte: „Wir sympathisieren mit den Belarusen, verstehen aber, dass sie selbst nicht viel ändern können. Wir sind dankbar für das, was sie unter diesen schwierigen Umständen bereits tun. Wir glauben, dass es die Ukraine ist, die Belarus verändern kann, und nicht Belarus die Ukraine.“ Ein Schlüsselsatz, der erklärt, warum sich Belarusen bis heute derart aufopferungsvoll für die Ukraine einsetzen. Nur rund 12.000 belarusische Staatsbürger leben noch dort. Zu Zehntausenden sind sie von dort geflohen, vor dem Krieg und aus Angst vor Anfeindungen. Häufig hatten sie gerade erst Arbeit und eine Wohnung gefunden, hatten sich in ihrem neuen Leben eingerichtet – nun waren sie ein zweites Mal auf der Flucht. Diesmal vor allem in Richtung Westen, in die EU. Der ukrainische Staat macht der kleinen verbliebenen Gemeinschaft das Leben nicht gerade leicht, indem Aufenthaltsgenehmigungen beispielsweise nicht problemlos verlängert werden. Dennoch engagieren sich viele im Überlebenskampf der Ukraine.

Die belarusische Aktivistin Tatsiana Hatsura-Javorskaja reiste sogar in die Ukraine, als der Angriff im Februar 2022 begann. Ihr Mann, ein bekannter ukrainischer Menschenrechtsanwalt, war bereits aus Belarus ausgewiesen worden. Ihr selbst drohte eine neuerliche Verhaftung. Sie wollte die Ukrainer unbedingt unterstützen. Ihr sei aber klar geworden, „dass ich mich hinter den feindlichen Linien befand. Von hier aus konnte ich den Ukrainern nicht helfen.“ In Kyjiw wurde sie aktiv. Zusammen mit Gleichgesinnten initiierte sie Crowdfunding-Kampagnen zur Unterstützung der ukrainischen Armee. Zudem plant sie ein Rehabilitationszentrum für Soldaten. Und sie wollte Belarusen und Ukrainer ins Gespräch bringen, um Vorbehalte abzubauen und mehr voneinander zu lernen. So entstand das Filmfestival 1084. na mjazhy. Die Zahl steht für die Länge der gemeinsamen Grenze zwischen der Ukraine und Belarus: 1084 Kilometer. Die Grenzregion ist heute schwer vermint.

In seinem Essay „Von Fischen und Menschen“ zeigt der belarusische Philosoph Ihar Babkou, wie die Schicksale der beiden Nationen kulturell und historisch verbunden sind und warum der Abwehrkampf der Ukraine eine solche Bedeutung für die ganze Region hat. Die vielfältige, in sich verschachtelte, von zahlreichen Ethnien, Religionen und Geistesströmungen geprägte Kulturlandschaft Ostmitteleuropas sei Hauptangriffsziel Russlands imperialer Gelüste, erklärt Babkou. Sein Ostmitteleuropa ist jenes, das der tschechische Schriftsteller Milan Kundera im Sinn hatte, als er 1983 in seinem berühmt gewordenen Essay „Der entführte Westen“ die Ignoranz der westlichen Länder gegenüber den vermeintlich kleinen Literaturen und Völkern dieser verkannten Region sezierte. Eine Ignoranz, die die russische Dominanz zementiere und die kulturelle Gleichschaltung im Sinne des russischen Imperiums zur Folge habe. Babkou setzte an diesen Gedanken Kunderas an und folgerte: „Wir könnten also sagen, dass das osteuropäische Grenzgebiet nicht nur für die Verteidigung der Ukraine bestimmt ist. Oder für die Unterstützung der belarusischen Revolution. Es geht vor allem um die Verteidigung der Diversität. Um einen Krieg für die Diversität. Einen Krieg zwischen Kunderas Mitteleuropa und Osteuropa.“


[1] Auszug aus: Rasender Stillstand: Belarus - eine Revolution und die Folgen“, Edition FotoTapeta, Berlin 2025.https://www.edition-fototapeta.eu/rasender-stillstand. Die Veröffentlichung des Kapitels erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

[2] Ingo Petz, 1973 in Stolberg/Rheinland (Deutschland) geboren, ist Leiter des Belarus-Projektes und Gesellschafter bei der gemeinnützigen Medien-Plattform dekoder.org. In politischen Analysen und kulturhistorischen Essays beschäftigt sich Petz seit über 25 Jahren mit Osteuropa und vor allem Belarus. Seine Beiträge sind u.a. regelmäßig in SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG oder im STANDARD erschienen. Neben seiner journalistischen Tätigkeit hat er zahlreiche Kulturprojekte mit belarussischen Partnern initiiert, er ist Mitgründer des Demokratisierungsprojektes „Fankurve Ost - Fußball-Fankultur in der Offenen Gesellschaft“ und er hat Journalismus an belarussischen und ukrainischen Bildungseinrichtungen unterrichtet. Petz hat Osteuropäische Geschichte, Slawistik und Politikwissenschaft in Köln und Russland studiert.