Ein Weckruf aus Polen an den schlafwandelnden Westen
Von Jim Mülder[1]
Es ist der 10. September 2025, ich las eben von den mutmaßlich russischen Drohnen, die vergangene Nacht von 23:30 bis 6:30 Uhr den polnischen Luftraum verletzten und in Teilen abgeschossen wurden. Polens Verteidigungsministerium spricht von 19 drohnenähnlichen Objekten, die sowohl aus der Ukraine als auch aus Belarus kamen.
In den vergangenen Monaten gab es regelmäßig Verletzungen des polnischen Luftraums durch russische Drohnen sowie des NATO-Luftraums an der Ostflanke des Bündnisses und über der Ostsee. Doch Verteidigungsminister Pistorius geht diesmal aufgrund der Route einiger der Drohnen, die zum ersten Mal direkt aus Belarus in Polen eindrangen, sowie aufgrund ihrer Anzahl von einem gezielten Manöver aus. So schloss er bei einem kurzen Statement vor der Presse einen Unfall oder ein Versehen aus. Auch die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas sprach von einem „Gamechanger“. Fast alle NATO-Regierungschefs beziehungsweise -Außenpolitiker beschreiben die Luftraumverletzung als eskalierend, rücksichtslos, aggressiv und provokativ - bei gleichzeitigem Bekenntnis zur NATO-Bündnistreue. NATO-Chef Mark Rutte betonte, dass die Bündnispartner bereit stünden, „jeden Zentimeter NATO-Gebiets zu verteidigen“. Während der US-Gesandte bei der NATO sich angesichts der Vorfälle solidarisch mit den NATO-Verbündeten äußerte und die mittlerweile gängige Phrase „jeden Zentimeter zu verteidigen“ ebenfalls nutzte, ließ sich sein Chef, der wohl wichtigste Mann der europäisch-transatlantischen Sicherheitsarchitektur, Donald Trump, auffallend viel Zeit für ein Statement. Erst am späten Nachmittag meldete sich der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika auf seiner Social Media Plattform Truth vage mit folgenden Worten: „What’s with Russia violating Poland’s airspace with drones? Here we go!“
Eines scheint klar: Mit dem stundenlangen, zahlreichen Eindringen russischer Drohnen in NATO-Luftraum und dem Abschuss ist eine neue Eskalationsstufe erreicht. Putins hybrider Krieg gegen den Westen wird aggressiver; zunehmend verschieben sich die Grenzen der Instrumente beziehungsweise die Mittel von Putins Schattenkrieg („Greyzone-warfares“).
Die Passivität der angegriffenen Staaten gegenüber den hybriden Attacken Russlands in den vergangen Monaten und Jahren scheint sich zu rächen. Diese waren zahlreich, seien es die „grünen Männchen“ 2014 in der Ukraine, die Einflussnahme auf den Brexit-Volksentscheid in Großbritannien 2016 und auf den US-Wahlkampf Ende des selben Jahres oder die tausenden Attacken im Cyberraum auf europäische und US-amerikanische Unternehmen. Allein in Deutschland verursachten sie nach Schätzungen des Branchenverbands Bitkom Schäden in Milliardenhöhe. Hinzu kommen die GPS-Störungen ziviler Passagierflugzeuge in und um Litauen, die mit Sprengstoff gefüllten Pakete in deutschen Logistikunternehmen (bei denen glücklicherweise Schlimmeres ausblieb) und der Mord im Berliner Tiergarten an einem tschetschenischen Oppositionellen, der in Deutschland politisches Asyl gefunden hatte (der verurteilte Täter wurde nach einem Gefangenenaustausch am 1. August 2024 persönlich von Putin empfangen und mit Ehrungen überhäuft).
Die Reaktionen blieben meist rein rhetorisch und wurden zudem durch russische Desinformationskampagnen, die auf die Beeinflussung der Bevölkerung und den Diskurs in Deutschland zielen, konterkariert. Willige Helfer in der deutschen bzw. europäischen Politik diffamierten Reaktionen des Westens als Panikmache, Fake News und kriegstreiberische Propaganda. Dieses Zusammenspiel war bisher sehr wirksam, wenn man sich das trügerische Sicherheitsgefühl und die kollektive Ignoranz von Teilen der Öffentlichkeit in Deutschland und Westeuropa gegenüber dieser massiven Bedrohungen aus Russland anschaut.
Gleichzeitig scheint die antiwestliche Allianz - bestehend aus China, Russland, Iran, Nordkorea und möglicherweise Indien - geeinter und kraftvoller denn je, jedenfalls im Vergleich zum „westlichen Block“, der von Trumps irritierender Zoll- und Sicherheitspolitik verunsichert ist.
Über bildgewaltige Symbolpolitik wie Militärparaden mit Umarmungen führender Politiker hinaus zeugt auch deren konkretes Handeln von einem engen Verhältnis: die immensen Energie- beziehungsweise Rohstoffimporte, die v. a. Indien und China trotz Sanktionen aus Russland beziehen und mit denen sie die russische Kriegskasse liquide halten; die regelmäßig abgehaltenen gemeinsamen Militärübungen; der blühende Handel zwischen den Staaten, mit dem gerade China durch den Export von Hochtechnologie das Tempo der Produktion in der russischen Kriegswirtschaft aufrecht erhält; die massiven Lieferungen von Langstreckenraketen und Drohnen Irans an Russland sowie – besonders perfide – die Entsendung von ca. 14.000 nordkoreanischen Soldaten an die Front, denen nach Angaben des südkoreanischen Geheimdienstes noch in diesem Jahr Zehntausende weitere folgen werden, um Putins verlustreiche Invasion am Laufen zu halten und so dem russischen Diktator mögliche Rekrutierungsprobleme und politische Kosten im russischen Mutterland zu ersparen. Diese Achse der Autokraten präsentiert sich geschlossener und entschlossener denn je, gegenseitige diplomatische Rückendeckung inklusive - auch bei anderen Expansionsbestrebungen wie beispielsweise dem immer aggressiveren Verhalten Chinas im Chinesischen Meer.
Unabhängig von diesen Verschiebungen im globalen Orchester der Mächte zeigen die 19 russischen Drohnen im polnischen Luftraum, dass wir von einer glaubwürdigen Abschreckung – immerhin das herausragende Element der NATO-Sicherheitsstrategie – weit entfernt sind. Weder ist die Abschreckung durch Macht (deterrence by power) – also die Abschreckung eines Angriffs auf NATO-Staaten durch die Erwartung eines Vergeltungsschlages, dessen Kosten den Nutzen des Angriffs für den Aggressor um ein Vielfaches übersteigen - glaubwürdig im Kreml vernommen bzw. verinnerlicht worden, noch funktioniert die Abschreckung durch Verweigerung (deterrence by denial), also die Abschreckung durch das glaubhafte Verhindern des Erfolgs eines Angriffs durch robuste Verteidigungsfähigkeiten.
Der Abschuss von vier von 19 Drohnen in Polen ist keine gute Quote und erst recht kein Signal uneingeschränkten Verteidigungswillens, der einen Angriff auf NATO-Staaten sinnlos machen würde.[2] Um beide Stränge der Abschreckungsstrategie glaubwürdig zu unterfüttern, sind weiterhin massive und zügige Investitionen in die militärische Stärke vonnöten. Dies gilt erst recht in Anbetracht des durch versöhnliche Auftritte europäischer Politiker im Weißen Haus nur notdürftig und oberflächlich gekitteten europäisch-transatlantischen Vertrauensverhältnisses.
In keinem Fall darf die schlafwandlerische Naivität gegenüber Putin und den globalen geopolitischen Realitäten fortgeführt werden, wie sie besonders Parteien an den rechten und linken Rändern der westlichen Parlamente gerne pflegen, um ihren Wählern einfache Lösungen und einen angeblich ruhigeren Schlaf zu versprechen. Eine „Putin wird schon nicht …“-Annahme, die uns von unliebsamen Investitionen und sicherheitspolitischer Lastenverteilung freispricht, ist in Anbetracht der Umstände geradezu absurd. Die NATO steht jetzt vor der Aufgabe, adäquat und wirkungsvoll zu reagieren, um glaubwürdige Abschreckung wiederherzustellen und damit Russland die Lust an solchen Aktionen wie gegenüber Polen zu verderben, zugleich aber keine weitere Eskalation und direkte Auseinandersetzung zwischen NATO und Russland heraufzubeschwören.
Der Drohnen-Vorfall in Polen zeigt die strategische Überlegenheit, die Russland momentan hat. Putin und sein Stab scheinen sich sehr sicher zu sein, keine harte Reaktion seitens der NATO erwarten zu müssen. Aus dieser Position der strategischen Überlegenheit und der „Self-Deterrence“ des Westens verschiebt der Kreml - ob durch Drohnenangriffe, Cyberattacken oder Desinformation - kontinuierlich die Grenzen des Geduldeten und testet so die Fähigkeiten und Bereitschaft der NATO zur Bündnisverteidigung.
Mittlerweile ist der 22. September 2025. Vor drei Tagen drangen drei russische Kampfjets für etwa zwölf Minuten in den estnischen Luftraum ein – während die NATO, allen Rufen nach einer harten Reaktion zum Trotz, bis auf mehr oder minder scharfe Rhetorik noch immer keine gemeinsame Antwort auf den Vorfall in Polen gefunden hat. Putin hingegen scheint sich seiner Position der Stärke und strategischen Überlegenheit sicherer denn je. Die NATO ist an diesem Test krachend gescheitert. Das Schlafwandeln des Westens am Rande des Abgrunds setzt sich ungebrochen fort.
[2] Fairerweise ist zu ergänzen, dass wohl Kosten-Nutzen-Rechnungen auch bei den Abschüssen eine Rolle gespielt haben werden. Ein in Polen stationiertes deutsches Patriot-System beispielsweise trug wohl zur Radaraufklärung bei, wurde aber selbst nicht für Abschüsse genutzt. Das offenbart Defizite in der Fähigkeit der NATO, kostengünstige Kleinstflugkörper abzuwehren. Der scheidende Bundeswehr-Heeresinspekteur Alfons Mais nannte dies „eine unserer größten Schwächen“.