Wenn Russland gewinnt - Ein Szenario. Buch von Carlo Masala

Rezensiert von Christian Booß

Warum wechselt jemand, der für nüchterne Analysen bekannt ist, auf einmal das Genre und verfasst eine fast schon belletristische Distopie? Der Militärexperte Prof. Carlos Masala, seit der russischen Invasion auf die Ukraine aus sozialen Medien und dem Fernsehen bekannt, hat nämliches getan. Man kann vermuten, weniger weil er sich gelangweilt hat, als um auf ein Szenario aufmerksam zu machen, mit dem er als Experte lange nicht richtig durchgekommen war. Schon länger hatten Militäranalysten darüber spekuliert, ob der russische Autokrat Wladimir Putin Schwachstellen in der NATO angreifen könnte, um seinen Herrschaftsbereich zu arrondieren. Dies könnte der Wiederherstellung der Grenzen der Sowjetunion dienen, deren Verlust Putin als traumatisch empfindet. Viel wahrscheinlicher könnte solch ein Angriff in näherer Zeit dazu dienen, die Zusammengehörigkeit des westlichen Militärbündnisses auszutesten. Die Hilfe für ein angegriffenes NATO-Land wirkt ja bekanntlich nicht automatisch, sondern muss entsprechend Art.5 des Bündnisses für jeden Fall bekräftig werden. Und da stellt sich sehr die Frage, ob ein US-Präsident seine GI’s oder eine italientische Ministerpräsidentin ihre Soldaten in Bewegung setzt, um einen Zipfel im Nordosten Europas zu retten. Diskutiert wird dieses Szenario an Hand von kleinen verwundbaren Staaten, Litauen, Estland und Moldawien.

Masala hat als Beispiel Estland, genauer die Stadt Narva, gewählt. Diese Stadt liegt unweit von St. Petersburg in Estland direkt an der russischen Grenze. Nur der gleichnamige Fluss trennt beide Länder, derzeit ist die Brücke drüber einer der wenigen Grenzübergänge zwischen dem Westen und Russland. Narwa-Stadt, jetzt in Estland gelegen, weist noch aus der Sowjetzeit eine hohe Zahl an Russisch sprachigen bzw. russlandstämmigen Einwohnern auf. Vor der Invasion von 2022 wurden ihnen hohe Sympathien für Russland nachgesagt. Die Frage ist allerdings, ob Putins brutales Vorgehen nicht die Stimmung verändert hat, ähnlich wie im ukrainisches Charkiw oder Odesa. Eine Versicherung wäre ein derartiger Stimmungswechsel ohnehin nicht, denn die Fehleinschätzung seiner Akzeptanz hatte Putin ja bekanntlich zum Marsch auf Kiew veranlasst. Dies haben Putins Nachfolger ins Masalas Prognose sehr wohl im Hinterkopf, als sie einen begrenzten Konflikt mit der NATO planen und beginnen. Masala geht davon aus, dass der Westen geschwächt ist. Der Ukraine-Krieg wurde verloren, das Land musste 20% des Territoriums aufgeben und durfte nicht dem westlichen Bündnis beitreten. In der Einschätzung über den künftigen Moskauer Kurs besteht im Westen Uneinigkeit, als Russland eine Reihe hybrider Anlenkungsmanöver startet, die sehr an die Zeit vor der Invasion von 2022 erinnern. Masala geht bei seinem Stilmittel nicht so weit, dass er seine Figuren psychologisch auflöst oder ihnen auch Rollen in privaten Verstrickungen zuweist. Es ist nicht wirklich Belletristik. Aber er läßt die Figuren aus dem Schachspiel der internationalen Macht mit ihnen in den Mund gelegten, aber plausiblen Zitaten auftreten. Das liest sich flott und spanndend, jedenfalls flotter und spannender als reine Fachliteratur. Masala hat dennoch ein ernsthaftes Anliegen. Er will mahnen, dass reale Szenarien anders als im Hollywood-Film nicht zwangsläufig mit einem happy-end enden. Seines, so vermutet man schon, geht als warnendes Beispiel negativ aus. Die Chinesen unterstützen Rußland mit militärischen Scharmützeln im chinesischen Meer. Der US-Präsident will wegen einer kleinen Stadt im Baltikum nicht den dritten Weltkrieg auslösen (was die Russen einkalkuliert haben) und drängt die Verbündeten, ihm ohne öffentlichken Widerspruch zu folgen. Masala schreibt, „In der Regel spielt man Szenarien durch, damit das nicht eintritt, was in ihnen beschrieben wird.“ Entsprechend dieser pädagogische Maxime hat er dem Plot ein längeres Nachwort folgen lassen. Dort geht der eher bedächtige Wissenschafter mit der westlichen Ukraine-Strategie ungewöhnlich scharf um. Er kritisiert- zurecht- dass der Westen gar keine wirkliche Ukraine-Strategie hat. Er fordert eine solche, die glaubhaft macht, dass der Westen bereit und fähig ist, jeden Quadratmeter des eigenen Territoriums zu verteidigen. Und damit ist - siehe Drohnenatacken - nicht nur Narva gemeint.