Kyjiw im Krieg. Ein persönlicher Bericht
Von Jörg Drescher[1]
Vorgeschichte
Es war irgendwann im Frühjahr 2010, als ich in der Nähe von Kyjiw bei einer Familie zu Besuch war, die noch die Sowjetzeit miterlebt hatte. Damals erfolgte gerade der Wechsel von Juschtschenko, dem Präsidenten, der 2005 aus der Organgenen Revolution hervorgegangen war, zu Janukowytsch. Eher zufällig fragte ich, ob es zwischen Russland und der Ukraine zu einem Krieg kommen könnte. Das wurde vehement verneint, mit dem Argument, Russland hätte genügend eigene Probleme und bräuchte nicht noch zusätzliche Aufgaben, die sich durch die Ukraine ergeben würden.
Euromaidan
Bei der „Revolution der Würde“ 2013/14, auch unter dem Begriff „Euromaidan“ bekannt, ging es eigentlich darum, dass Janukowytsch ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterschreiben sollte. In dieser Zeit übersetzte ich unter anderem Argumente, die tatsächlich gegen das Abkommen sprachen.
So hieß es in einem Artikel, dass die wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland leiden würden. Gemeint waren damit vor allem Industriestandards, die nicht in der EU galten. Durch eine Umstellung solcher Standards wären Arbeitsplätze in der Ukraine gefährdet, weshalb sich Janukowitsch eine langsamere Annäherung wünschte. Dass die Bevölkerung allerdings politische und gesellschaftliche Änderungen wollte, schien in der politischen Elite keine Rolle zu spielen.
So verweigerte Janukowytsch seine Unterschrift. Aber die Protestierenden harrten bei eisiger Kälte auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kyjiw aus. Im ganzen Land gab es Proteste, um der Forderung nach einem politischen Wandel Nachdruck zu verleihen.
Nachdem in Kyjiw im Februar 2014 versucht worden war, den Protest gewaltsam niederzuschlagen, floh Janukowytsch schließlich. Als die Dekadenz seines Wohnsitzes öffentlich wurde, schwiegen selbst die Leute, die seine Argumente gegen die Unterzeichnung noch akzeptiert hatten.
Anti-Terror-Operation (ATO)
Russland hingegen nutzte die „Gunst“ der Stunde und übernahm die Krim. Im Donbas bildeten sich bewaffnete Milizen, die gegen den aus ihrer Sicht „gewaltsamen Sturz“ der Regierung Janukowitsch in Kyjiw waren. Daraufhin versuchte der angeschlagene Staat, sein Gewaltmonopol durchzusetzen und diese Milizen zu entwaffnen.
Eingesetzt wurde hierfür das Militär, aber auch selbstorganisierte und bewaffnete Gruppierungen aus der Westukraine zogen in den Donbas. Diese Aktion wurde „Antiterror-Operation“ (ATO) genannt und hatte das Ziel, die staatliche Ordnung wiederherzustellen. Für mich ist das der eigentliche Beginn des Kriegs.
Damals übersetzte ich Artikel über den Verlauf dieser ATO, welche durch Verhandlungen in Minsk wenn nicht gelöst, so doch zumindest eingefroren werden sollte. Das erste Abkommen scheiterte, doch im Frühjahr 2015 kam es zu einem zweiten Abkommen (Minsk II), demzufolge die Konfliktparteien - bestehend aus zwei selbsternannten „Volksrepubliken“ (Luhansk und Donezk) auf der einen und dem ukrainischen Staat auf er anderen Seite - eine Art Friedensplan abarbeiten sollten. Dabei wurde eine Kontaktlinie festgelegt, die von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) überwacht werden sollte.
Wirklich ruhig war es dort allerdings nicht. Es gab immer wieder Verstöße gegen Auflagen und Scharmützel zwischen den Konfliktparteien.
Eigene Besuche in der ATO-Zone
Ich war im Frühjahr 2017 erstmals bei einer Fahrt mit humanitärer Hilfe im Donbas. Dabei kam ich in die Städte Slowjansk, Nowoajdar und Pokrowsk. Ich sah nicht nur die dortigen Zerstörungen, sondern hörte bei Nowoajdar erstmals auch, wie geschossen wurde.
Seit dieser Fahrt war ich dann des Öfteren im Donbas, um mir von meinen neuen Kontaktpersonen mehr zeigen und erklären zu lassen. In Awdijiwka, einer Industriestadt kurz vor der Metropole Donezk, erlebte ich Beschuss aus nächster Nähe. In Marjinka lachten mich die Bewohner aus, als ich von der Straße in die Küche kam und meinte, dass gerade in der Nähe geschossen würde. Sie meinten, das sei ja schließlich direkt an der Kontaktlinie und die Regel.
Überall erhielt ich auf die Frage, warum die Leute nicht aus dem faktischen Kriegsgebiet in den Westen des Landes gingen, Antworten wie: „Wer braucht uns dort? Hier haben wir alles – unser Grundstück, unsere Wohnung, unseren Besitz. Was soll ich dort? Von was soll ich leben?“
Dann kam Covid. 2021 hatte ich die einzigartige Möglichkeit, in einem größeren Maßstab im Donbas humanitäre Hilfe zu organisieren und vor Ort zu sein. Mehrfach besuchte ich deshalb Mariupol, Kostjantyniwka und Pokrowsk. Meine Ansprechpartner waren nicht einfach nur Empfänger und Partner, sondern wurden zu Freunden.
Kurz vor dem Krieg
Im Februar 2022, als das Wort „Krieg“ in der Luft lag und viele Ausländer das Land verließen, blieb ich. Gut erinnere ich mich noch daran, wie das ZDF fast zwei Wochen vor dem Einmarsch der Russen bei mir zu Hause war und fragte, ob ich an einen wirklichen Krieg glaube. Meine Antwort war, dass es Argumente für einen Angriff, aber auch Argumente dagegen gäbe. Nicht nur, wie ich eingangs geschrieben habe, weil die Russen genug mit ihren eigenen Problemen zu tun hätten, sondern auch, weil sie sich sicher an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erinnern würden. Damals versuchten Partisanen in der Ukraine bis Ende der 1950er Jahre, sich gegen die sowjetische Besatzung zu wehren. Ihr Ziel war die Eigenstaatlichkeit.
Einen Tag vor der Vollinvasion war ich noch bei einer Partnerorganisation, die gute Kontakte in die Staatsführung und zum Geheimdienst pflegte. Dort fragte ich, wie sie die Gefahr eines Krieges einschätzen würden. Mir wurde gesagt, dass es mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit im Donbas zum Krieg kommen werde; in der Region Kyjiw hingegen stünden die Aussichten bei 50:50. Einen Tag später, am 24. Februar 2022, wurde ich frühmorgens durch den Lärm von Artillerie und GRAD-Raketenwerfern, wie ich ihn bereits im Donbas gehört hatte, mitten in Kyjiw geweckt. Eine Freundin rief mich an und sagte: „Der Krieg ist da.“
Erste Kriegszeit
In der ersten Kriegswoche war ich in Kyjiw und hörte den Beschuss bei Irpin und Butscha, was von mir aus ca. acht Kilometer Luftlinie entfernt war. Die ersten drei Tage bestand Ausgangssperre. Ich saß also zu Hause und klärte übers Internet, wie humanitäre Hilfe zu organisieren sei.
Als dann immer mehr von nächtlichen Angriffen mit Iskander-Raketen auf Kyjiw die Rede war, ging ich mit einem recht hohen Adrenalinpegel abends ins Bett und wachte morgens unausgeschlafen auf. Ich hatte das Gefühl, in Kyjiw nicht wirklich nützlich zu sein und entschied, nach Lwiw auszuweichen, um zu sehen, wie humanitäre Hilfe ins Land kommt und wie ich mich an dieser Logistik beteiligen könnte.
An dem Tag, an dem ich mit dem Zug nach Lwiw fahren wollte, ging ich nachmittags mit dem Nötigsten los. Just in dem Moment gab es Luftalarm. Auf dem Weg zur Metrostation, von der aus ich glaubte, zum Bahnhof fahren zu können, hörte ich über mir ein Pfeifen. Kurz darauf folgte der Einschlag. Ich spürte die Druckwelle. Als ich um eine Häuserecke ging, sah ich den Feuerball am Fernsehturm.
In meinem Kopf gab es allerdings nur eins: „Du musst zum Bahnhof! Du musst zum Bahnhof! Du musst zum Bahnhof!“
Flucht
Am Eingang der Metrostation zielte ein Soldat mit einer Kalaschnikow auf mich und meinte, ich solle hier verschwinden und drängte mich durch eine Tür in die Schutzräume. Dort angekommen, fuhr keine Metro, aber die Leute ließen mich aus Sicherheitsgründen nicht mehr zurück. So übernachtete ich auf dem kalten Fußboden.
Am nächsten Morgen schaffte ich es bis zum Bahnhof und dort in einen Zug nach Lwiw. Was ich aber nie wieder erleben möchte: So viele Menschen, die sich in die wenigen Waggons drängen und deshalb am Bahnsteig ihre Habseligkeiten zurücklassen.
In Lwiw kam ich in einem Büro unter, ohne Dusche und mit sehr eingeschränkten Möglichkeiten zu arbeiten. Deshalb entschied ich, nach Berlin auszuweichen und dem Krieg vorläufig den Rücken zu kehren.
Zu diesem Zeitpunkt war absolut unklar, was weiter geschehen würde. Ich wusste nicht, was aus den vielen Freunden im Osten geworden war. Es gab keinen Kontakt zu ihnen. Vor allem um Mariupol machte ich mir große Sorgen.
Als die Russen dann Ende April aus der Gegend um Kyjiw verdrängt wurden und bekannt wurde, was sie dort verbrochen hatten (Stichwort Butscha), war für mich klar, dass ich zurückwollte, um zu helfen.
Rückkehr in den Krieg
Im Mai 2022 kehrte ich in meine Wohnung in Kyjiw zurück. Auf der Busfahrt konnte man vor allem auf der Trasse zwischen Schytomyr und Kyjiw die Zerstörungen sehen, welche die Russen angerichtet hatten: zerbombte Häuser, ausgebrannte Autos, zerstörte Brücken …
Seither sammle ich Anfragen, was benötigt wird und vermittle über meine Kontakte geeignete Partner. Seit meiner Rückkehr reiste ich mehrfach durch das Land. Die Freunde aus Mariupol konnten fliehen. Sie bauten in Dnipro eine Flüchtlingsunterkunft auf, um anderen Flüchtlingen zu helfen.
Dieses Phänomen der Selbstorganisation hatte ich bereits bei meinem Besuch 2018 in Marjinka gesehen. Dort eröffneten verbliebene Anwohner eine Bäckerei, um Leute in der Umgebung mit Brot zu versorgen.
Ähnliche Projekte erlebte ich in Poltawa, wo Flüchtlinge Waschmaschinen erhielten, um für andere Flüchtlinge deren Wäsche zu waschen, da es in den Notunterkünften keine solche Möglichkeit gab. Oder eine Näherei, in der geflüchtete Frauen Decken für Soldaten herstellen und den Überschuss verkaufen. Überall bilden sich Synergien.
Dazu muss ich sagen, dass sich die Ukraine nach dem Euromaidan enorm entwickelt hat. Neben einer Gebietsreform, welche Gemeinden effizienter zusammenlegte, spielte die Dezentralisierung eine wichtige Rolle. Viele sagen, ohne die Möglichkeit, Verantwortung auf unteren Ebenen zu übernehmen, wäre der Krieg ganz anders verlaufen. So konnten sich in Dörfern und Städten Einheiten zur Selbstverteidigung bilden. Auch die eigenverantwortliche Verwendung von Ressourcen trug dazu bei, dass nichts im Chaos versank.
Russland hatte sich verkalkuliert, da es die gesellschaftliche Umgestaltung in der Ukraine weder bedachte noch verstand, die es nach dem Zerfall der Sowjetunion selbst nicht durchlaufen hat.
Leben im Krieg
Die Versorgungslage in Kyjiw und in anderen westlichen Städten ist gut, aber nur, wenn man über ausreichend Ressourcen verfügt. Alles ist viel teurer geworden. Und als Binnenflüchtling erhält man vom Staat eine minimale Hilfe, die nicht ausreicht. Angemessen bezahlte Arbeit ist schwierig zu finden. Deshalb kehren viele Flüchtlinge in ihre Heimatorte zurück, um sich die Mietkosten zu sparen, da für sie eine Notunterkunft keine dauerhafte Lösung ist.
Die Situation weiter von der Front entfernt war 2022/23 einigermaßen erträglich. In jener Zeit kam es zwar zu massiven und längeren Stromausfällen, weil gezielt Infrastruktur mit Fernwaffen wie Drohnen und Raketen angegriffen wurde. Aber das war nicht gefährlich, sondern nur ärgerlich. Die Ukrainer haben es durch Improvisation hinbekommen, in den Städten wieder eine stabile Stromversorgung zu gewährleisten. In Dörfern sieht es leider anders aus – vor allem, je näher man an die Frontlinie kommt.
Seit 2024 greift Russland hingegen willkürlich an, hauptsächlich nachts. Und zu oft trifft es Zivilisten. Im Sommer 2024, als die Kinderklinik „Ochmatdyt“ in Kyjiw getroffen wurde, schlug nur 200 Meter von mir am frühen Vormittag eine Rakete in ein Wohnhaus ein. Dabei starben mindestens 15 Personen. Und ich lebe in einem Schlafbezirk, wo es keinerlei Industrie oder Militärobjekte gibt.
Oder als ich 2024 auf einer Dienstreise in Lwiw war, ging ich an einem Haus vorbei, das nur wenige Stunden zuvor von einer Rakete getroffen worden war. Eine Familie wurde ausgelöscht, der Vater überlebte. Auch dort handelte es sich um einen reinen Wohnbezirk.
Stimmung im Land
Spricht man mit Soldaten oder Leuten, die dem Militär nahestehen, ist die Lage an der Front zwar angespannt, aber im Allgemeinen stabil. Niemand sieht es als wahrscheinlich an, dass die Invasoren die Verteidigung durchbrechen oder gar das Land überrennen.
Aber inzwischen sind die Menschen ausgebrannt. Man lebt in den Tag hinein, ohne zu wissen, ob es ein Morgen geben wird. Auf die Frage, was die Menschen über die Zukunft denken, hört man jetzt, dass der Krieg noch weitere Jahre so gehen werde. Eine Lösung ist nicht in Sicht, geschweige denn die Möglichkeit, dass die Ukrainer die Russen wieder aus ihrem Land vertreiben können. Dabei handelt es sich nicht um Pessimismus, sondern um Fatalismus – man nimmt die Situation, wie sie ist und versucht, das Beste daraus zu machen.
Die westliche Militärhilfe ist wichtig. Vor allem die Flugabwehr, um Drohnen und Raketen abzuschießen. Humanitäre Hilfe aus dem Ausland ist geringer geworden. Selbst große Player wie das Welternährungsprogramm sind nur noch in frontnahen Gebieten aktiv.
Die Verteilung der Binnenflüchtlinge funktionierte gut, so dass zum Beispiel Städte wie Lwiw zwar heute noch voll sind, aber nicht mehr so überfrachtet, wie es in den ersten Wochen des Kriegs der Fall war.
Frontstädte wie Sumy, Saporischschja, Charkiw oder Cherson leiden unter dem Beschuss, da die Reaktionszeit zwischen Alarm und Einschlag sehr kurz ist. Odesa wird ebenfalls immer wieder angegriffen. Und kürzlich noch meinte ich, Czernowitz, Uschhorod oder Mukatschewo seien eigentlich sicher, worauf ich eines Schlechteren belehrt wurde, da es jüngst selbst dort Einschläge gab.
Noch ist nichts verloren, aber eben auch nichts gewonnen. Die Ukrainer verteidigen ihr Land und es ist an uns, sie dabei bestmöglich zu unterstützen. Das ist solange nötig, bis Russland einsieht, dass wir auf der Erde ganz andere Probleme haben als Herrschaftsgebiete zu definieren.
[1] Jörg Drescher leitet seit 2018 das Kyjiwer Büro des Deutsch-Ukrainischen Forums und organisiert unter anderem humanitäre Hilfe in der Ukraine. Er lebt seit 23 Jahren in Kyjiw.