Ein Museum für den Frieden?
Die Veränderung des Museums in Berlin-Karlshorst in Zeiten des Ukraine-Krieges
Von Jörg Morré[1]
Als ich gefragt wurde, diesen Beitrag zu schreiben, bot man mir als Thema „Umkämpftes Kriegsmuseum“ an. Ich habe einen anderen Titel gewählt. Der Ort, an dem sich das Museum in Berlin-Karlshorst befindet, ist für mich ein friedlicher: Hier beendeten am 8. Mai 1945 die alliierten Siegermächte den Zweiten Weltkrieg in Europa durch die Annahme der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht vor dem sowjetischen Oberkommando. Rund 46 Stunden zuvor, am frühen Morgen des 7. Mai, hatte die Wehrmacht vor dem amerikanisch-britischen Oberkommando im französischen Reims eingewilligt, ihren sinnlosen Widerstand aufzugeben. Der Blick in die Geschichte sollte in der Gegenwart ein Gespür dafür entstehen lassen, wie sinnvoll es sein kann, Kriege zu beenden.
Die Bedeutung des historischen Ortes Karlshorst stand für mich an erster Stelle, als ich Anfang 2009 den Posten des Museumsdirektors übernahm. Sehr bewusst übernahm ich die Aufgabe, im engen Austausch mit insbesondere den Weltkriegsmuseen in Moskau, Minsk und Kiew die Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen im Zweiten Weltkrieg aufzuarbeiten; ebenso mit den einschlägigen Museen in St. Petersburg („Leningrad“) und Wolgograd („Stalingrad“). Es störte mich damals nicht, dass ich einem „Deutsch-Russischen Museum“ vorstand. Übrigens störte der Museumsname damals meine Kollegen in Minsk und Kiew ebenso wenig. Besser gesagt, akzeptierten meine belarusischen und ukrainischen Kollegen, dass das Karlshorster Museum 1994 als ein deutsch-russisches Regierungsprojekt gestartet war. Einträchtig hatten damals Berlin (Bonn) und Moskau durch den Austausch diplomatischer Noten ein Abkommen geschlossen, wonach die Bundesrepublik ein Museum betreibt (vollständige Finanzierung durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien), in dem der Russischen Föderation eine bevorzugte Mitsprache eingeräumt wurde. Das frisch vereinigte Deutschland, aus dem 1994 die letzten russischen Soldaten nach knapp 50 Jahren Besatzungszeit abzogen, war erleichtert, mit „Russland“ die Schrecken des deutsch-sowjetischen Vernichtungskriegs von 1941-1944/45 aufzuarbeiten. Dass die Sowjetunion weitaus mehr als nur Russland war, stand damals den Wenigsten vor Augen. Immerhin wurden wenig später auf Betreiben der Museumsleitung die nationalen Weltkriegsmuseen von Belarus und der Ukraine 1997/98 als institutionelle Mitglieder in den Verein aufgenommen, der formal der Träger des Museums ist. Andere, post-sowjetische Länder sind bis heute institutionell nicht in die Trägerschaft einbezogen. Anfang der 1990er Jahre erschien es aus deutscher Sicht folgerichtig, dass ein ehemals sowjetisches Militärmuseumam für die deutsche Geschichte historisch ebenso wichtigen Ort der Kapitulation zusammen nur mit Russland weiterbetrieben wurde. Das galt als ein Zeichen der Versöhnung mit der ehemaligen Sowjetunion.
Bruch: heute Museum Berlin-Karlshorst
Welch krasser Bruch war daher das Statement des Museums am Morgen des 24. Februar 2022: Demonstrativ wurde aus dem Schriftzug vor dem Haus die Zuschreibung „deutsch-russisch“ gestrichen. Seitdem nennt sich das Haus lediglich „Museum Berlin-Karlshorst“ (was übrigens schon immer der amtlich im Vereinsregister verankerte Name war). Aus Solidarität mit der überfallenen Ukraine wurde nur noch die ukrainische Fahne vor dem Haus aufgezogen. Die anderen drei – die russische, belarusische und deutsche –, die da sonst seit 2020 hingen (für die vier Nationen im Trägerverein), werden seit jenem 24. Februar nicht mehr gehisst. Nach einer spontanen Welle großer Zustimmung setzte ebenso Kritik ein: Es sei ahistorisch, vor dem Haus nur die ukrainische Fahne zu hissen; durch das Weglassen der russischen Fahne werde die historische Rolle der Sowjetunion vergessen gemacht; ein Museum müsse eine politisch neutrale Haltung wahren; Frieden sei ohne Russland nicht möglich.
Interessanterweise werden insbesondere bei den Kritikern des Museums „Russland“ und „Sowjetunion“ synonym verwendet. Präsident Putin wird dann umstandslos zugestanden, das historische Erbe des sowjetischen Beitrags über die Bezwingung des Nationalsozialismus (immerhin in einer Kriegskoalition mit Großbritannien und den USA) allein vertreten zu dürfen. Dabei gerät dann aus dem Blick, wie der Kreml historisierende Argumente als Legitimation für seine aktuelle Kriegspolitik einsetzt. Solcherlei Verkürzung historischer Betrachtung kann das Museum natürlich nicht unwidersprochen stehen lassen. Es steht seit dreieinhalb Jahren in einem lebhaften Diskurs mit seinen Besuchern. Und die ukrainische Fahne bleibt hängen.
Die Entscheidung des Museums im Februar 2022 war mitnichten unüberlegt. Sie entsprang der Erkenntnis, dass mit der am Vorabend des vollumfänglichen Angriffs vom russischen Präsidenten Putin unmissverständlich geäußerten Absicht, den ukrainischen Staat vernichten zu wollen, eine Grenze überschritten worden war. Als Museum hatten wir seit 2014 – was als Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine gesehen wird – hautnah das Zerwürfnis unserer Partnerländer mit ansehen müssen. Lange hielten wir uns zurück und versuchten, auf Basis der gewachsenen Kontakte nicht alle Beziehungen wegbrechen zu lassen. Das funktionierte nur bedingt. Ukrainische Kollegen setzten sich mit russischen oder belarusischen nicht mehr an einen Tisch, begrüßten aber, dass in der Person des Karlshorster Museumsleiters indirekt Kontakte konserviert werden konnten. Seit 2022 ist das vorbei, weil die Museumsleitung offen Partei ergriffen hat.
Staatlich verordnetes Geschichtsbild
Schon Jahre zuvor war dem Museum klar, dass der russische Staat Geschichte nicht Wissenschaft, Forschung, Kultur und Meinungsfreiheit überlässt, zumal es diese geschützte Sphäre inzwischen in der russischen Gesellschaft nicht mehr gibt. Die russische Regierung betrachtet Historie als ein Instrument der Innen- wie auch Außenpolitik. Zwei wesentliche Zäsuren seien an dieser Stelle benannt: Die Gründung der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft 2012, die mit immensem Budget das öffentliche Geschichtsbild innerhalb der Russischen Föderation dominiert, und der Aufsatz Vladimir Putins 2020 anlässlich des 75. Jahrestages der Weltkriegsendes. Durch diesen Aufsatz – einen kurzen Moment als politisches Pamphlet belächelt – definierte der Staatspräsident die Geschichte des Zweiten Weltkrieges in Europa qua seiner staatlichen Autorität. Forschungsresultate wurden obsolet, eine monokausale und zudem den jeweiligen politischen Zielen förderliche Wahrheit festgesetzt. Jegliche ergebnisoffene Diskussion um historische Einsichten, Perspektiven oder Bewertungen wurde unterbunden. Der russische Staat setzt das seit Jahren mit voller Härte durch, d.h. durch geheimpolizeiliche Befragungen, Vernehmungen und Verurteilungen bis hin zu Freiheitsentzug. Die Anfänge dieser Entwicklung sehe ich in den späten Nullerjahren an. Diese Entwicklung verlief zudem nicht zielgerichtet linear, sondern war von einer Reihe externer Faktoren abhängig, wie beispielsweise der fehlenden „Sicherheitsarchitektur“ in Europa nach dem Implodieren des Warschauer Pakts, der Renaissance nationalstaatlicher Egoismen in Ostmitteleuropa, der Corona-Pandemie und einigen mehr. Auf diesem Vorlauf baute Präsident Putin im Februar 2022 auf, als er den vollumfänglichen Angriff auf die Ukraine mit propagandistisch verdrehten historischen Bezügen zum Zweiten Weltkrieg rechtfertigte: Aus seiner Sicht musste Russland seine Bürger – gemeint waren damit auch die Ukrainer – vor Angriffen der Faschisten – gemeint war damit die Regierung der Ukraine – schützen, wie das 1941 ebenso gewesen sei. Bis heute ist Putin, ist der russische Staat und ist inzwischen leider auch ein großer Teil der russischen Gesellschaft von dieser Sichtweise nicht abgerückt.
Angesichts dieser Umstände musste der in Karlshorst vor 30 Jahren gewählte Ansatz einer auf multiperspektivischer Betrachtung aufbauender Verständigung zwischen den Ländern (Staaten) und ihren Gesellschaften als gescheitert betrachtet werden. Die Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist von Russland zum Politikum erklärt und jeglicher Diskussion entzogen worden. Da bleibt kein Raum mehr für eine unabhängige Beschäftigung mit Geschichte nach wissenschaftlichen Standards sowie Erinnerungskultur in einem gesellschaftlich ausgehandelten und zwischen den Staaten respektierten Prozess.
In seiner inhaltlichen Arbeit hat sich das Museum von der staatlichen Rahmensetzung durch den Trägerverein und zusätzlicher diplomatischer Vereinbarungen emanzipiert. Die staatliche Geschichtssicht in Russland wird als Propaganda bezeichnet und komplett abgelehnt; sie findet in den Diskursen im Haus keine Beachtung. So hat sich der wissenschaftliche Beirat neu konstituiert. Die nach wie vor als notwendig erachtete russische Perspektive vertritt nun ein Kollege, der im Exil unabhängig als Historiker arbeiten kann. War der Beirat lange Zeit nur deutsch-russisch besetzt, sind es nun Beiräte aus Deutschland sowie sechs postsowjetischen Ländern (Lettland, Litauen, Belarus, Ukraine, Moldau, Russland). In seinen Publikumsveranstaltungen pflegt das Museum die Reihe „Geschichte im Konflikt“, in der nationale Sichtweisen auf historische Ereignisse in der Zeit des Zweiten Weltkrieges multiperspektivisch diskutiert werden. Ein Übriges leistet eine Sonderausstellung zu den Folgen des Hitler-Stalin-Pakts („Riss durch Europa“), die unterdessen mehrfach in Deutschland, Moldau und der Ukraine präsentiert wurde (Österreich, Rumänien folgen), zusammen mit einem Begleitband, der Sichtweisen auf den Pakt aus elf Ländern zusammenführt.Das Museum half ukrainischen Museen und Archiven, sich vor den gezielten russischen Attacken zu schützen (Sicherungsmaßnahmen für Objekte/Archivalien; Brandschutz und Notreparaturen nach Bombentreffern; das Geld dazu stellte die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien zur Verfügung). Es ist seitdem in dem deutsch-polnisch-ukrainischen Musemsnetzwerk „Obmin“ aktiv. In einem ebenfalls von der BKM geförderten Bildungsprojekt koordinierte das Museum die Zusammenarbeit von elf deutschen Gedenkstätten und vornehmlich aus der Russischen Föderation emigrierten Kolleg:innen aus dem Arbeitsbereich der Erinnerungskultur (u. a. Memorial).
Jedoch steckt das Museum in seiner Trägerschaft fest: national definiert durch das Vereinsrecht (ohne russische Zustimmung keine satzungsändernde Mehrheit oder Vereinsausschlüsse); international durch einen völkerrechtlich bindenden Vertrag Deutschlands mit der Russischen Föderation. Postulierten 2022 alle Bundesministerien „keinen Kontakt zu staatlichen russischen Stellen“, gab das Bundeskanzleramt 2023 die Orientierung aus, das bestehende völkerrechtlich Bindungen nicht zu lösen seien. Das Museum sitzt seitdem zwischen den Stühlen. Aufgrund der Vereinsstruktur gibt es die Notwendigkeit, sich einmal im Jahr international abzustimmen. Dabei können wegen der Stimmmehrheit auf der deutschen Seite alle Vereinsbeschlüsse, die der einfachen Mehrheit bedürfen, im Sinne der (deutschen) Museumsleitung herbeigeführt werden. Das ist wichtig für die laufende Arbeit des Hauses in der oben beschriebenen Art und Weise. Raum für Diskussionen bietet die Vereinsstruktur nicht mehr. Der wissenschaftliche Beirat, immerhin ein satzungsgemäßes Gremium, wird von der staatlichen russischen Seite abgelehnt. Er arbeitet quasi autonom und ist dabei der Museumsleitung eine unabdingbare Orientierungshilfe bei ihrer inhaltlichen Arbeit.
Auf außenpolitischer Ebene gleicht der Status des Museums einem „eingefrorenem Konflikt“. Beide vertragsschließenden Seiten wollen eigentlich nicht zusammenarbeiten, lösen aber ihre Verbindung nicht. Völkerrechtlich steht Einiges auf dem Spiel. Die deutsch-russischen Vereinbarungen über das Museum in Karlshorst nehmen Bezüge zum Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 und einem daraus hervorgegangenem deutsch-sowjetischen Freundschaftsvertrag, der 1992 als deutsch-russischer Vertrag fortgesetzt wurde.Die verzwickte Konstellation in Karlshorst ist eine Folge des deutschen Einigungsprozesses von 1990. Sie hängt sicherlich mit einem deutschen Russlandbild zusammen, in dem das Gespür für eine Sowjetunion als Vielvölkerstatt fehlt. Zudem waren die Entscheidungen von damals für die deutsche Außenpolitik von Vorteil. Lange stand das Museum symbolhaft für das gute deutsch-russische Verhältnis, an den beide Seiten ein Interesse hatten.
Unser Interesse an Russland, an seiner Geschichte, seinen Menschen und seinem Umgang mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieg besteht fort. Wir hoffen, dass wir eines Tages frei und selbstbestimmt mit Russland darüber werden diskutieren können. Daneben aber hat das Museum in den vergangenen drei Jahren sehr viele neue Kontakte zu Museen in Ostmitteleuropa aufgebaut; die Verbindung zum ukrainischen Weltkriegsmuseum hält. Aus dem ehemaligen Deutsch-Russischen Museum ist ein Haus geworden, das sich in seiner Arbeit inzwischen auf alle ehemaligen Republiken der Sowjetunion, die seit 30 Jahren souveräne Staaten sind, beziehen will. Zudem darf ein Land wie Polen (ebenso Finnland) nicht ignoriert werden, wenn wir die Geschichte des Zweiten Weltkriegs im Osten Europas verstehen wollen. Das Museum ist in gewisser Weise zu seinen Anfängen Mitte der 1990er zurückgekehrt. Nein, es wählt nicht wie damals den bi-nationalen Ansatz. Aber es setzt sich wie seinerzeit nach dem Ende des Kalten Krieges für eine grenzüberschreitende, friedliche Auseinandersetzung mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges und seiner Folgen ein, eine Geschichte, die alle Länder in Europa betrifft.
[1] Direktor Museum Berlin-Karlshorst