Russlands Kriegsziele in der Ukraine und in Europa

Von Franziska Davies[1]

Über drei Jahre nach der russischen Vollinvasion der Ukraine sind Russlands Kriegsziele unverändert: es geht um die Zerstörung der Ukraine als Staat und Nation, um die Ent-Ukrainisierung der Ukraine. Die Verlautbarungen aus Moskau sowie das Vorgehen der Besatzer in den von Russland okkupierten Gebieten lassen keinerlei Zweifel zu. Erst kürzlich, am 7. Oktober, hat Wladimir Putin in einem Treffen mit dem russischen Verteidigungsminister und dem Generalstab bekräftigt, dass die Entscheidung zur „militärischen Spezialoperation“ vom Februar 2022 „richtig und rechtzeitig“ gewesen sei. Seine Behauptung, der russischen Armee obliege zweifelsohne die „strategische Initiative“ und dass die Drohnenschläge der Ukraine tief ins Innere der Russischen Föderation nichts ändere, sind dagegen fragwürdig. Immerhin war der Kreml (genau wie die Mehrheit der westlichen Kommentator:innen) davon ausgegangen, dass Russland die Ukraine innerhalb weniger Tage fallen würde und ein Marionettenregime in Kyjiw installiert werden könne.

Von der Erreichung dieser Ziele ist Russland noch weit entfernt. Die Verluste belaufen sich auf mehr als eine Million russischen Soldaten und territorial kommt Russland in der Ukraine kaum mehr voran.

Die Ukraine leistet Widerstand, aber ihre Menschen zahlen dafür einen hohen Preis. Viele Soldaten dienen seit Beginn der Vollinvasion an der Front und sind erschöpft. Die Hilfe aus dem Westen nach Februar 2022 hat zwar das Überleben der Ukraine gesichert, aber hat sie nicht ausreichend militärisch ertüchtigt, um Russland zu besiegen. In den besetzten Gebieten wird der öffentliche Raum gewaltsam russifziert; ukrainische Denkmäler und Museen durch russische Symbole ausgetauscht;im Bildungssystem werden die ukrainischen Lehrbücher durch russische ersetzt; Menschen werden verfolgt und terrorisiert – besonders jene, die als Rückgrat des ukrainischen Staates gelten; sexuelle Gewalt gegen Frauen wird von russischen Soldaten ausgeübt. Allein die Entführung ukrainischer Kinder nach Russland zwecks Russifizierung erfüllt den Tatbestand des Genozids, wie er in der UN-Konvention von 1948 definiert ist. Der nächtliche Terror gegen ukrainische Städte, gegen die Infrastruktur und zuletzt vermehrt gegen Passagierzüge geht unvermindert weiter.

Der russische Terror erhält aber deutlich weniger internationale Aufmerksamkeit als in den Monaten unmittelbar nach der Totalinvasion. Europa scheint sich in weiten Teilen an den genozidalen Krieg gewöhnt zu haben. Das stellt nicht nur ein moralisches Versagen gegenüber der Ukraine und ihren Menschen dar, sondern gefährdet auch europäische Interessen. Schließlich, auch daran lassen die Verlautbarungen der russischen Staatsführungen keinerlei Zweifel, sieht Russland sich auch im Krieg gegen den Westen, gegen Europa, gegen Demokratie und Freiheit. Es sieht sich in einem Krieg der Weltanschauungen und in einer messianischen Mission Europa zu dominieren. Die ideologische Dimension dieses Krieges, auf die kürzlich die Wissenschaftlerinnen Botakoz Kassymbekova und Annette Werberger hingewiesen haben, wird immer noch unterschätzt. Danach ist die „russische Idee“  in den letzten Jahrzehnten zur Staatsdoktrin geworden. Sie beruht auf der Überzeugung, dass Russland ein Imperium ist und bleiben muss und somit das Recht hat andere Länder zu beherrschen, deren Kultur zu vernichten, wenn sie sich dieser „russischen Idee“ entgegenstellen. Das ist der ideologische Kern des Kriegs gegen die Ukraine. Die russische Nation kann nur als Imperium gedacht werden.

Das Austesten der Wehrhaftigkeit und der Entschiedenheit des Westens und der NATO durch das Eindringen russischer Drohnen in den Luftraum europäischer Staaten, die Teil des Verteidigungsbündnisses sind, gehört in diesen Kontext. Ein solches Austesten von Grenzen gehört seit Jahrzehnten zum Playbook von Putins Russland und die nicht-Reaktion des Westens auf die zahlreichen Aggressionen Russlands (gegen Georgien im Jahr 2008, der Angriff auf die Ukraine von 2014, das Bündnis mit dem verbrecherischen Regime des syrischen Machthaber Baschar al-Assad) haben sehr wahrscheinlich zur Entscheidung des Kreml zur Totalinvasion der Ukraine beigetragen. Der hybride Krieg gegen den Westen ist im vollen Gange und Militärexpert:innen weisen regelmäßig darauf hin, dass auch ein offener Krieg mit Russland ein denkbares Zukunftsszenario für die nächsten Jahre sen kann.

Anders als 2022 sitzt aber nun mit Donald Trump ein Präsident im Weißen Haus, der sich dem transatlantischen Bündnis nicht verbunden fühlt, und der außerdem mit der russischen Führung die Verachtung für Demokratie, Menschenrechte und Freiheit teilt. Insofern erlebt Europa gerade einen grundlegenden Wandel. Das nach 1945 etablierte System, das auf der Garantie der Friedensordnung in Europa durch die Vereinigten Staaten von Amerika beruhte, existiert nicht mehr. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob die europäische Politik in der Lage sein wird, nun die Verantwortung für die eigene Sicherheit zu übernehmen. Gelingt es Russland die europäische Friedensordnung zu zerstören, die auf dem Prinzip beruht, dass die Grenzen souveräner Staaten nicht mit Gewalt geändert werden dürfen, wird die Welt eine noch unsicherereals jetzt sein. 


[1] Osteuropaforscherin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZZF Potsdam,