Das Baltische Schlachtfeld:
Russlands asymmetrische Kriegsführung als Belastungsprobe für die NATO-Ostflanke
Von Justina Budginaite-Froehly[1][1]
Seit der russischen Invasion der Ukraine hat sich der Ostseeraum zu einem der exponiertesten sicherheitspolitischen Schauplätze Europas entwickelt. Litauen, Lettland und Estland zeichnen sich dabei nicht nur durch ihre geostrategische Lage aus, sondern auch durch ihre konsequente Haltung gegenüber Moskau.
Die Unterstützung der baltischen Staaten für Kyiv sticht quantitativ und qualitativ hervor: Alle drei Länder haben in Relation zu ihrer Größe finanzielle und militärische Beiträge in Rekordhöhe geleistet.[2] Auch waren sie die ersten in der EU, die sich von russischer Energie unabhängig machten, Öl-, Strom- und LNG-Importe stoppten und sich schließlich auch vom russischen Stromnetz trennten.[3] Litauen beantragte beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) Ermittlungen zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine[4], was maßgeblich zu den Haftbefehlen gegen Wladimir Putin und der Kinderbeauftragten[5] Maria Lwowa-Belowa im März 2023 beitrug.
Die geographische Nähe des Baltikums zu Russland verstärkt seine Sicherheitsrisiken erheblich. Die drei Staaten liegen zwischen dem russischen Kernland, der hochmilitarisierten Exklave Kaliningrad und dem mit Russland verbündeten Belarus. Die sogenannte Suwałki-Lücke – mit nur 65 Kilometern Breite die einzige Landverbindung zwischen Polen und den baltischen NATO-Staaten – könnte im Krisenfall durch Russland abgeschnitten werden. Die estnische Stadt Narva im Norden liegt im direkten Sichtbereich russischer Streitkräfte, der litauische Teil der Kurischen Nehrung im Südwesten ist der Beobachtung und Reichweite von Raketen- und Radarsystemen in Kaliningrad ausgesetzt.
Die Geografie allein definiert jedoch nicht die Bedrohung. Solange ein direkter militärischer Konflikt mit NATO-Streitkräften für Russland mit unkalkulierbar hohen Kosten verbunden bleibt, nutzt Moskau geschickt die Ambivalenz seiner asymmetrischen Instrumente, um die baltischen Staaten und die NATO unter Druck zu setzen. GPS-Störungen, Eindringen der Drohnen, Cyberangriffe und Sabotage erzeugen Kosten und Unsicherheit, ohne Artikel 5 des Washingtoner Vertrags auszulösen. Für die NATO liegt die Herausforderung daher nicht nur in der Vorbereitung auf eventuelle militärische Konflikte, sondern in der strategischen Bereitschaft, asymmetrischen Angriffen entschlossen zu begegnen. Diese Bereitschaft muss im Vorfeld entstehen, nicht erst nach dem Auftreten konventioneller Feindseligkeiten. Dies gilt insbesondere angesichts der Tatsache, dass die Provokationen Russlands immer dreister werden und sich der Schwelle eines offenen militärischen Konflikts nähern – wie die jüngsten Beispiele des massiven Drohneneindringens in Polen[6] und des Eindringens russischer Militärjets in den estnischen Luftraum[7] zeigen.
Die Architektur asymmetrischer Druckmittel
Russland operiert in der Ostsee im Graubereich: genügend intensiv, um Kosten zu verursachen, aber bewusst unterhalb der NATO-Artikel-5-Schwelle. Diese regelt, dass angegriffene NATO-Staaten mit dem militärischen Beistand ihrer Verbündeten rechnen können. Ziel Russlands ist es daher, die Baltischen Staaten unter konstantem Druck zu halten, das Vertrauen in die NATO-Handlungsfähigkeit zu schwächen und die russischen Aktionen als unvermeidbar erscheinen zu lassen.
Die unterseeische Infrastruktur stellt einen besonders kritischen Bereich dar. Seit Ende 2023 wurden mindestens elf Kabel und Pipelines unter der Ostsee beschädigt oder gestört.[8] Eine eindeutige Zuordnung bleibt schwierig. Doch mit modernster Technik immer besser zu erkennende wiederkehrende Muster – verdächtige Schiffspfade, zeitliche Koinzidenzen mit politischen Ereignissen und Methoden, die früheren Vorfällen ähneln – deuten stark auf russische Operationen hin. Unterseeische Infrastruktur ist unentbehrlich, aber schwer zu schützen und mit einfachen mechanischen Mitteln (z.B. Schleppankern) zu sabotieren. Beschädigungen verursachen wirtschaftliche Kosten, erfordern Notfallreparaturen und untergraben Vertrauen in die maritime Stabilität. Strategisch gesehen, bindet dies Ressourcen und politische Aufmerksamkeit, die sonst der Ukraine zugute kämen.
Das elektromagnetische Spektrum ist ein weiteres umkämpftes Terrain. Navigationsstörungen durch das Unterdrücken der GPS-Signale (GPS-Jamming) oder durch das Absenden falscher Signale (GPS-Spoofing), mit dem Ziel, Flugzeuge und/oder Schiffe von ihrem Kurs abzulenken, sind in der gesamten Ostsee und entlang der NATO-Ostflanke mittlerweile Routine. Sowohl die zivile als auch die militärische Navigation sind betroffen.[9] Jüngstes Beispiel: Das Flugzeug der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wurde über Bulgarien massiv gestört, offenbar durch russische Systeme.[10] Die Crew musste die Satellitennavigation aufgeben und auf klassische Navigationsmethoden ausweichen. Im Baltikum werden inzwischen monatlich über tausend solcher Vorfälle registriert.[11]
Diese Operationen dienen nicht nur taktischen Zwecken. Sie „normalisieren“ Instabilität, testen Reaktionsprotokolle und konditionieren Streitkräfte und Zivilbevölkerung auf das Operieren unter Störungen. Langfristig untergraben sie das Vertrauen in die grundlegende Infrastruktur – Stromnetze, digitale Netzwerke, Luftsicherheit – und erzeugen den von Moskau beabsichtigten psychologischen Effekt: Die baltische Sicherheit erscheint fragil, die NATO-Abschreckung unsicher, die Kosten eines Standhaltens hoch.
Der Belarus-Faktor
Belarus fungiert zunehmend als zweite Achse hybrider Kriegsführung. Das Land dient als Basis für Drohnenoperationen, Grenzverletzungen und psychologische Kampagnen gegen die baltischen Staaten.
In Litauen wurde in diesem Sommer das Eindringen von zwei Gerbera-Drohnen aus Belarus registriert: eine unbewaffnete Plattform, gefolgt von einer bewaffneten Drohne, die auf einem Militärübungsplatz gefunden wurde.[12] Lettland meldete bereits im Jahr 2024 den Absturz einer russischen Drohne, die über Belarus in lettisches Gebiet eingedrungen war.[13] Belarus nutzt zudem Migration als Druckmittel und erzeugt Grenzkrisen[14] in Litauen, Lettland und Polen, die Infrastruktur belasten, Gesellschaften polarisieren und die politische Aufmerksamkeit von strategischen Fragen abziehen.
Diese Taktik zwingt die baltischen Staaten und NATO-Partner zu defensivem Handeln und dient dem Ziel Moskaus, Provokation und Aggression zu vermischen, um Reaktionsspielräume zu testen. In diesem Kontext wurden auch die gemeinsamen Militärübungen Russlands und Belarus Zapad, die Mitte September stattgefunden haben, vom Baltikum aus beobachtet. Um Eskalationen zu vermeiden und die Reaktionsgeschwindigkeit zu erhöhen, haben Litauen und Polen frühzeitig Gegenmaßnahmen eingeleitet: Litauen hat seinen Luftraum entlang der Grenze zu Belarus geschlossen[15], Polen sogar seine Landesgrenze[16].
Das neueste Eindringen von 25 meteorologischen Ballons aus Belarus in den litauischen Luftraum Anfang Oktober hat eine mehrstündige Flughafensperrung in Vilnius verursacht und etwa 30 Flüge beeinträchtigt (https://www.lrt.lt/naujienos/lietuvoje/2/2701301/lietuvos-oro-erdve-nakti-pazeide-25-meteorologiniai-balionai-is-baltarusijos). Dieser Vorfall, obwohl nicht neu in seiner Art, war außerordentlich in seinem Ausmaß. Das Abschicken der Ballons aus dem belarussischen in das litauische Territorium dient vordergründig Zwecken des Schmuggels, aber die Funktion solcher Vorfälle ist viel breiter: den zivilen Alltag zu stören, politischen Druck aufzubauen, Reaktionen zu prüfen und zugleich relevante Informationen über die ergriffenen Gegenmaßnahmen zu sammeln.
Glaubwürdigkeit und Resilienz der NATO
Die Kombination aus geographischer Nähe und hybriden Angriffen schafft ein besonders fragiles Operationsumfeld im Baltikum. Die NATO muss deswegen insbesondere zwei Aspekte der Baltikum-Strategie stärken: Glaubwürdigkeit und Resilienz.
Glaubwürdigkeit hängt davon ab, ob die NATO auf sub-Artikel-5-Provokationen geschlossen, schnell und angemessen reagieren kann. Verzögerungen bei Zuschreibungen oder Reaktionen ermöglichen Russland, Handlungsgrenzen zu testen und ein eigenes Narrativ zu formen. Eine fragmentierte oder langsame Reaktion signalisiert, dass hybride Angriffe risikofrei sind; schnelle und koordinierte Aktionen können Abschreckung erzeugen.
Auf die jüngsten Vorfälle in Polen und Estland reagierte die NATO schnell, aber mit Vorsicht: Vier von neunzehn russischen Drohnen wurden über Polen abgeschossen, während die Militärjets über Estland von NATO-Alliierten abgefangen und aus dem Luftraum begleitet wurden. Ob dies als ausreichender Erfolg gewertet werden kann, ist fraglich – Russland lässt sich davon nicht beeindrucken und wird weiter provozieren, solange die NATO an ihrer passiv-reaktiven Haltung festhält, anstatt sich proaktiver zu positionieren.
Resilienz bedeutet, dass Gesellschaften trotz fortdauernder Störungen und unter Druck handlungsfähig bleiben. Neben technischer Härtung von Infrastrukturen umfasst dies die psychologische und politische Wachsamkeit. Hybride Operationen normalisieren Instabilität – Stromausfälle, Drohnenüberflüge und Internetunterbrechungen sollen Routine suggerieren. Institutionalisierte zivil-militärische Koordination ist erforderlich, damit hybride Vorfälle koordinierte Reaktionen über alle Ebenen auslösen.
Das Baltikum als strategisches Labor der Allianz
Die NATO passt sich diesen Herausforderungen an. Seit Anfang des Jahres sichert die Mission Baltic Sentry die Unterwasserinfrastruktur[17], Militärübungen wie BALTOPS in der Ostsee integrieren zunehmend hybride Szenarien. NATO-Experten prüfen Lücken der Luftabwehr Litauens[18]; Litauen verstärkt zudem Anti-Drohnen-Systeme zum Schutz kritischer Energieinfrastruktur[19]; durch ihre neulich ins Leben gerufene Mission „Eastern Sentry“ verstärkt die NATO die Luftverteidigung, inklusive gegen Drohnen, entlang der gesamten Ostflanke[20]. Die baltischen Staaten sind damit experimentelle Räume für hybride Kriegsführung – nicht nur für Russland, sondern auch für die NATO.
Erfolg der NATO hängt von der Entwicklung einer kohärenten Grauzonen-Verteidigungsarchitektur ab. Diese muss flächendeckende Aufklärung, widerstandsfähige Infrastruktur, synchronisierte zivil-militärische Reaktionen und klar definierte Handlungsschwellen enthalten. Die Besonderheiten der Region machen sie zum idealen Prüfstand. Gelingt die Anpassung, lassen sich Erkenntnisse von der Nordsee bis zum Schwarzen Meer übertragen. Scheitert sie, wird die NATO auch an anderen Fronten in Reaktionszwänge geraten.
[1] Dr. Justina Budginaite-Froehly ist Nonresident Senior Fellow beim Europe Center and Scowcroft Center for Strategy and Security, Atlantic Council
[2] Kiel Institut für Weltwirtschaft, Ukraine Support Tracker, https://www.ifw-kiel.de/de/themendossiers/krieg-gegen-die-ukraine/ukraine-support-tracker/
[3] Justina Budginaite-Froehly, Baltic states unplug from Russia’s power grid—but Moscow still looms over critical infrastructure, New Atlanticist, 05.02.2025, https://www.atlanticcouncil.org/blogs/new-atlanticist/baltic-states-unplug-from-russias-power-grid-but-moscow-still-looms-over-critical-infrastructure/
[4] Reuters, Lithuania asks international criminal court to investigate war crimes in Ukraine, 28.02.2022, https://www.reuters.com/world/europe/lithuania-asks-international-criminal-court-investigate-war-crimes-ukraine-2022-02-28/
[5] Lwowa-Belowa befasst sich damit, unkrainische Kinder aus den besetzten Gebieten nach Russland zu verschleppen.
[6] Tagesschau, Drohnen über Polen - was bedeutet das?, 10.09.2025, https://www.tagesschau.de/ausland/europa/polen-drohnen-abschuss-russland-100.html
[7] Tagesspiegel, Russische Kampfjets im Ostseeraum abgefangen: Estland hält Reaktion auf Moskaus Flieger für angemessen, 20.09.2025, https://www.tagesspiegel.de/internationales/nach-vorfallen-mit-russischen-kampfjets-im-ostseeraum-polen-versetzt-luftabwehr-in-hochste-bereitschaft--estland-will-artikel-4-beratungen-der-nato-14358383.html
[8] John Leicester, Emma Burrows, 11 Baltic cables damaged in 15 months, pushing NATO to boost security, Defense news, 28.01.2025, www.defensenews.com/global/europe/2025/01/28/11-baltic-cables-damaged-in-15-months-pushing-nato-to-boost-security/
[9] Justina Budginaite-Froehly, Dispatch from the Russian border: The Curonian Spit and the contest of the Baltic Sea, New Atlanticist, 06.08.2025, www.atlanticcouncil.org/blogs/new-atlanticist/dispatch-from-the-russian-border-the-curonian-spit-and-the-contest-of-the-baltic-sea/
[10] Tagesschau, Jet mit von der Leyen wird Ziel von GPS-Störung, 01.09.2025, https://www.tagesschau.de/ausland/europa/leyen-flugzeug-gps-100.html
[11] BNS, Birželį – pilotų pranešimų apie GPS trikdžius rekordas: 22 kartus daugiau nei prieš metus, 20.07.2025, https://www.lrt.lt/naujienos/lietuvoje/2/2618008/birzeli-pilotu-pranesimu-apie-gps-trikdzius-rekordas-22-kartus-daugiau-nei-pries-metus?srsltid=AfmBOor8kRFStpksFU4yXRMwkDfYYp05M7lM2LxX5QslYtp2u0PwXXLH
[12] The Defense Post, Suspected Russian Drone Found in Lithuania, 02.08.2025, thedefensepost.com/2025/08/02/suspected-russian-drone-lithuania/
[13] Reuters, Russian drone that crashed in Latvia carried explosives, Latvian military says, 09.09.2024, https://www.reuters.com/world/europe/russian-drone-that-crashed-latvia-carried-explosives-latvian-military-says-2024-09-09/
[14] Henry-Laur Allik, Poland, Baltics step up border controls amid migrant crisis, DW, 06.16.2024, https://www.dw.com/en/poland-baltics-step-up-border-controls-amid-migrant-crisis/a-69350351
[15] BNS, Lithuania closes part of airspace near Belarus ahead of Zapad military drills, 21.08.2025, https://www.lrt.lt/en/news-in-english/19/2650666/lithuania-closes-part-of-airspace-near-belarus-ahead-of-zapad-military-drills?srsltid=AfmBOooduTW1q3N0RMkMmeOIcLLjCMzMOM3CB_zYy3TN-CUor0nMTekg
[16] Reuters, Poland closing Belarus border due to Russia-led military exercises, PM says, 09.09.2025, https://www.reuters.com/world/europe/poland-closing-belarus-border-due-russia-led-military-exercises-pm-says-2025-09-09/
[17] NATO, NATO launches 'Baltic Sentry' to increase critical infrastructure security, 14.01.2025, https://www.nato.int/cps/en/natohq/news_232122.htm
[18] BNS, NATO probes Lithuanian air defences after Russian drone incidents, 03.09.2025, https://www.lrt.lt/en/news-in-english/19/2663508/nato-probes-lithuanian-air-defences-after-russian-drone-incidents?srsltid=AfmBOoqwGLyexZHUom1-hdcKL8tGJU37oHfDWA8hXDYzGwqvgTHmM_Kt
[19] TVP, Lithuania plans anti-drone system to protect critical infrastructure against Russian threat, 15.07.2025, https://tvpworld.com/87848012/lithuania-to-build-anti-drone-system-to-protect-infrastructure
[20] NATO, NATO launches “Eastern Sentry” to bolster posture along eastern flank, 12.09.2025
Je nachdem, wie ihr mit Doktortiteln umgeht - ich bin Dr., man könnte eventuell hinzufügen