Kaliningrad, eine Zwitterexistenz
Kaliningrad, eine Zwitterexistenz[1]
Von Lutz Rathenow
Das Jahr 2003: Zum Beispiel in Rauschen an der russischen Ostseeküste, es ist Sommer und Breakdancer führen eine wirbelnde Show vor. Acht Personen zeigen am Rande der Straße in dreißig Minuten akrobatische Leistungen, professionell choreografiert. Die Passanten klatschen mit und werfen großzügig Geldscheine in den Hut. Ein paar Hundert Meter weiter ein teures neues Hotel und seine Gaststätte mit aparter Speisekarte. Ein Gericht plus Wein gibt es für die monatliche Mindestrente eines russische Bürgers. Offiziere sitzen dort und trinken und prosten auf Stalin und die bessere Zeit. Früher? In einer neuen großrussischen Zukunft?
Meine Frau und ich laufen durch die Straßen von Rauschen und ich versuche vergeblich, mir den russischen Namen zu merken, den der aus der deutschen Geschichte bekannte Kurort heute trägt. Etwas mit weiß, Stadt an der weißen Steilküste. Eine verschmuddelt mondäne Enklave in einem immer noch vernachlässigten Teil von Russland. Oder schon bevorzugt? Luxuriöse Villen der Oberschicht künden davon, viele Gaststätten, neue Hotels, nicht jedes wirklich fertig gebaut. Daneben Behausungen, die auf den Stillstand der Zeit hoffen – nur der könnte ihr allmähliches Zerfallen verhindern. Der Strand lädt zum Liegen und Baden ein. Das Meer, weiß-gelber Sand und Steilküste mit Wald sind eine unwiderstehliche Kombination, die die Ostsee in Deutschland, Polen, Russland und weiter im Osten anbietet.
In Russland ist diese Küste nicht ganz so schmutzig wie in Tunesien die von einem anderen Meer. Auch das Wasser wirkt sauber. Die Reiseleiterin fragt am nächsten Tag wegen Ölflecken an den Füßen und empfiehlt ein natürliches Reinigungsmittel. Erfahrungswerte. Vorbeifahrende Schiffe würden manchmal etwas illegal herauslassen. Tage danach zurück im Westen, also in Polen, lese ich in der FAZ über die russische Erdölbohrinsel vor der kurischen Nehrung. Mindestens mehrmals soll von ihr der Strand verschmutzt worden sein. Militär wurde zum Säubern eingesetzt, eine litauische Zeitung nennt das Verhalten des Nachbarn rüpelhaft.
Den Kaliningrader Russen passen viele Entscheidungen aus Moskau auch nicht, sie wollen mehr Autonomie, aber als Teil von Russland. Und sie brauchen das Geld von dort. Die Bohrinsel gehört einem großen privatisierten Energieerzeuger, der von Leuten geführt wird, die schon zu Sowjetzeiten den staatlichen Erdölhandel abwickelten. Die Chefs seien Millionäre oder Milliardäre, erklärt mir einer die Situation, sie lassen Villen und Gästehäuser in Nizza und auf Zypern bauen. Seit am Schwarzen Meer durch gelegentliche Feuergefechte von Georgiern mit Rebellen Geschosse die Luft durcheilen, bauen sie eben auch in Rauschen.
Wir sehen die wandernden Sanddünen in der kurischen Nehrung. Und blicken auf Nidden, aber da ist wieder eine Grenze dazwischen. Plötzlich zeigt sich der Westen schon im Osten und heißt Litauen. Dort könnte die Thomas-Mann-Gedenkstätte besichtigt werden, wenn die Ausreise- und vor allem die Wiedereinreiseformalitäten das zuließen. Hier, in dieser russischen Enklave weisen alle Himmelsrichtungen nach Westen – in eine Zukunft, die mit EU und NATO buchstabiert wird. Und von der dieses Stück Russland vielleicht auch profitieren will. Ich blättere im russischen Playboy und frage vergeblich nach einer politischen Wochenzeitung. Es gibt private russische Fernsehsender und aus Deutschland werden die dämlichsten Programme eingespeist: zum Beispiel ein Verkaufskanal.
„Sehen Sie die Vögel auf der Telefonleitung?“, spottet die Reiseleiterin, „das sind KGB-Krähen, die kontrollieren irgendwie weiter. Auch jede Postkarte, egal wohin, wandert die 1000 Kilometer nach Moskau …“ Vor zwanzig Jahren hätte sich das keine russische Reiseleiterin vor aller Ohren getraut. Vor 15 Jahren wären wir gar nicht in dieses militärische Sperrgebiet gekommen. Heute kann man nach zweieinhalb Stunden Kontrolle ein- und ausreisen. Einzelreisende im PKW oder LKW-Fahrer benötigen deutlich länger. Und wo keine Felder bestellt werden, kommen die Störche und bleiben. So viele Störche wie bei dieser Fahrt durch die Masuren und dann vor allem in Russland sah ich in meinem ganzen Leben davor nicht. Ein Land im Umbruch, das weder sein WOHER noch das WOHIN wirklich kennt. Alle Namen gibt es doppelt. Die Orte werden einmal deutsch, einmal russisch ausgesprochen, am besten immer deutsch und russisch. Und das von unseren Reisebegleitern im breiten ostpreußischen Dialekt, den sie geradezu pflegen und der nur durch sie weiterlebt ? Die deutsche Vergangenheit auf einmal Teil sowjetischer und nun russischer Geschichte? Welche Grenzen müssen da bereits beseitigt sein, dass das möglich ist. Deutsche Vergangenheit als touristischer Wirtschaftsfaktor.
Wo bin ich? Ein Stück Russland sucht seine Identität: näher an oder weiter entfernt von Westeuropa. Brücke oder Sperrriegel, potentielle Konfliktzone mit noch viel Militär oder kultureller Begegnungsraum? Bei der Ein- und Ausreise werden wir daran erinnert, was Grenzen einmal waren und vielerorts noch sind. Wenigstens liegen keine Minen und es wird nicht geschossen. Ich bin in einem Reisebus mit vorwiegend älteren Leuten aus vorwiegend der ehemaligen DDR unterwegs. Man schimpft öfter und gern auf die neue westliche Gesellschaft. Man verreist seiner Rente zum Trotz und aus Neugier.
An der Grenze, im Angesicht des russischen Uniformierten, wird man ruhig. Und als die Rentner aus dem Osten Deutschlands die Renten in Russland vernehmen, schweigen sie vollends. Der Fahrer muss an der Grenze ein neues D kaufen, das am Auto sei zu klein. Es werden drei Flaschen Bier für eine rasche Abfertigung mitgenommen, nicht mehr sagt unsere russische Begleiterin, das verderbe sonst die Preise. Wir müssen heraustreten – in einen schönen neuen Transitraum. Dort warten wir 45 Minuten. Dann dürfen wir wieder heraus und hinein in den Bus.
Viel später, im Herbst kamen auch die Postkarten von dort an. Und eine Schriftverwischung durch einen Schweißtropfen erinnert an eine schweißtreibende Lesearbeit des Postüberwachers. Und wir dürfen darüber nachdenken, wie viel Russland das künftige Europa verträgt oder braucht. Und ob da die Grenzen eher gefallen und welche mit Geld neu errichtet werden.
Aktuelle Bemerkung des Autors: „Besonders die Texte nach der DDR im Buch werden immer schwerer verständlich. Es ändern sich nicht die Texte, sondern die Resonanzräume für diese grundlegend. Der russische Angriff 2022 auf die Ukraine begann gerade, da nahm ich die eher durchschnittliche Reportage aus Kaliningrad in die Sammlung in letzter Minute auf. Heute wirkt sie, wenn ich sie vorlese, wie eine utopische Vision aus guten Zeiten, in denen bessere möglich schienen, ohne dass diese allerbeste Zeiten verheißen würden.“
[1] Quelle: Lutz Rathenow “Trotzig lächeln und das Weltall streicheln. Mein Leben in Geschichten.“Hrsg. Marko Martin, Kanon Verlag, Berlin 2022, Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlags.