Sibylle Plogstedt “Warum hat das niemand erzählt”, Ulrike Helmer Verlag 2024
Rezension von Joachim Goertz
Die eigene Familiengeschichte zu ergründen hat gegenwärtigauch hierzulande Konjunktur. Hape Kerkeling erforscht seine Ahnentafel, Caroline Peters verarbeitet die Geschichte ihrer Mutter, Annette Hildebrandt die ihrer Vorfahren in einem Roman, Anne Rabe und Ines Geipel Gewalterfahrungen in ihren Elternhäusern. Vor Jahren interessierten höchstens Familiengeschichten der DDR-Nomenklatura (Marion Brasch, Eugen Ruge, Maxim Leo). Seitdem immer mehr klar wird, wie sehr die eigene Familie unser soziales und auch politisches Verhalten prägt, wächst das Interesse an solchen Darstellungen.
Sibylle Plogstedt kannte ich bisher nur von ihrer Schilderung ihrer politischen Haft in Prag von 1969-1971, die sie als Westberliner 68-igern erleben musste – eindrucksvoll beschrieben in “Im Netz der Gedichte”, 2001 im Christoph Links Verlag erschienen.
Mit dem reichlich sperrigen Untertitel “Vom Entdecken meiner unbekannten Großfamilie zwischen Riga, Königsberg, Prag und Berlin”, nimmt die 1945 in Berlin geborene Sibylle Plogstedt geb. Gentzen uns auf eine Reise mit, die die Leser bis nach Australien, die USA und das 18. Jahrhundert führt. Dabei erinnert mich die Lektüre dieser Reise an meine jahrzehntelangen Erfahrungen in Trauergesprächen mit Angehörigen von Verstorbenen, in denen höchste Konzentration auch dafür gefordert ist, die mitunter komplexen Verwandtschaftsverhältnisse so nachzuvollziehen, dass die Übersicht nicht verlorengeht. Allein das Register der erforschten Familie der Autorin umfasst 10 Seiten und erinnert an Romane von Isabel Allende und Gabriel Garcia Marquez.
2 Fotos und ein Briefkopf stehen am Anfang ihrer Erkundung: Als erstes das Foto ihres Vaters Walter Fenske, das sie mit 6 Jahren entdeckt, dessen Geschichte sie aber erst Jahrzehnte später erfährt.1991hat sie darüber geschrieben in “Niemandstochter”.
Plogstedt wollte ihr Buch erst “Familiengeheimnisse” überschreiben, hat sich aber dann für die eindringliche Frage im Titel entschieden.
Im Mittelpunkt steht die Mutter Ilse Gentzen, verheiratete Plogstedt (zwischenzeitlich Sekretärin bei Alfred Bauer, dem Leiter der Berliner Festspiele), die bis zu ihrem Tod im Jahre 2001 ihrer einzigen Tochter wesentliche Fragen nach ihrer Tätigkeit als Chefsekretärin hochrangiger SS- und Polizeigrößen in Bromberk (Bromberker Blutsonntag) und Riga mit Schweigen beantwortet hat (Schweigen statt Lügen?)- oder mit geheimnisvollen und unheimlichen Sätzen ”Dann wäre alles nicht nötig gewesen”. Beschwiegen werden in der Familie auch Schicksale von sogenannten Tunichtguten, die nach Amerika auswandern müssen oder im Osten Deutschland nach dem 2.Weltkrieg unterkommen. Auch die Rolle des Großvaters Felix Gentzen während des 3. Reiches lässt letztlich Fragen offen. So wie die rausgerissenen Bilder des SS-Mannes Werner Ostendorff aus Königsberg, wo die Gullideckel noch die beste Orientierung über das alte Königsberg, das jetzt Kaliningrad heißt, geben und wo jetzt Putins 1. Frau lebt und Immanuel Kant bald wohl mal wieder nicht verehrt werden wird.
Anschaulich schildert die Autorin ihre Kindheit in Berlin-Ruhleben, in der Heerstraße und in Berlin –Zehlendorf, als gelernte Soziologin vermittelt sie nicht nur hier überzeugend Bilder sozialer Verhältnisse in der Nachkriegszeit. Auch wenn sie über den wirtschaftlichen Aufstieg anderer Familienmitglieder vorderer Zeiten erzählt, etwa der Familie Wispler (Vorfahren der Großmutter Sophie)im Westen Deutschlands im 19.Jahrhundert, kann nicht nur dem Rezensenten klar werden, woher Wirtschaftskraft über Generationen hinweg wachsen kann. Hier spielte übrigens das oben erwähnte 2. Foto eine große Rolle bei der Entschlüsselung, ebenso wie der oben genannte Briefkopf.
Mit den Orten rücken uns auch die Zeiten näher: 2014 fährt Sibylle Plogstedt mit einer Verwandten nach Riga und erinnert an den 23. August 1989, an dem zum 50-jährigen Jubiläum des unseligen Hitler-Stalin-Paktes mit einer Menschenkette durch Lettland, Litauen und Estland diese ihren Freiheitswillen zum Ausdruck bringen.
Bei so einer breiten Familienaufstellung wundert es nicht, dass auch noch eine Stasi-IM auftaucht: Werner Ostendorff, ein Verwandter der Autorin in der DDR, der über die junge Sibylle in den sechziger Jahren dem MfS wertvolle Hinweise gibt, bevor sie in Prag gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Petr Uhl verhaftet wird.
Immerhin hat ihre Mutter ihr auf den Weg gegeben, nie mit einem Geheimdienst zusammen arbeiten zu sollen, sodass Sibylle allen Anwerbungsversuchen der Stasi widerstanden hat.
Beeindruckende Geschichten, die die Autorin uns nahebringt (das Schicksal der Radoks oder das von Gerhard Gentzen, der 1945 im selben Gefängnis umkam, in dem auch Sibylle saß, sei hier noch erwähnt).
In die Bestsellerlisten wird dieses Buch vielleicht nicht gelangen (wie die von Kerkeling oder Peters), verdient hätte es aber schon allein wegen der seelischen Anstrengung der Autorin, die Abgründe ihrer Familie zu erforschen und trotzdem am Ende “Zufriedenheit” zu empfinden.
“Du weisst viel mehr als alle anderen”, sagte ihr am Anfang ihrer Recherche eine Psychotherapeutin. An diesem Wissen Anteil haben zu können, lässt auch zufriedene Leser zurück.
Joachim Goertz