Vergesst Oschman, lest Mau!

Von Christian Booß

Rezension zu Steffen Mau: Ungleich vereint. Warum Ostdeutschland anders bleibt. Berlin 2024

Seit Monaten werden wir mit den Behauptungen eines Bestsellers traktiert, wonach Ostdeutschland eine runtermachende Erfindung des Westens sei. Das Üble daran ist nicht nur, dass die These falsch, die Belege teilweise fragwürdig und dünn sind, sondern dass der Autor vorgibt, die Ostdeutschen zu verteidigen, ihnen dabei aber perfide einen Unterlegenheitskomplex geradezu einredet. Wie die Meisten übersieht Oschmann zudem, dass das ostdeutsche Gefühl,  Bürger zweiter Klasse zu sein, keineswegs die Folge von Vereinigungsüberwältigungen war, sondern -die Stasi hat es 1988 aufgeschrieben- schon vorher zu DDR-Zeiten existierte. Man könnte also allenfalls darüber nachdenken, warum sich diese Sichtweise bei vielen nicht abgebaut hat. Oschmann aber vergiftet weiter den Brunnen, vor dem er dann warnt.

Das Antibuch zu Oschmann kommt weitaus filigraner daher, zieht Umfragen und soziologische Befunde heran, wo Oschmann meinungsstark überzieht. Mit eher leisen Tönen zertrümmert Mau nachhaltig Oschmanns zentrale Behauptung, durch einen Umfragebefund. Während die Westdeuschen die Differenz zwischen Ost und West tendenziell verneinen, beharrten die Ostdeutschen mehrheitlich auf diesem Unterschied. Das passt kaum zu der These der mentalen Dauerstigmatisierung durch den Westen, wie sie Oschmann behauptet.

Mau arbeitet mit zahlreichen sozialen wie mentalen Befunden heraus, dass Ost/West Unterschiede nach wie vor sowohl in der realen wie in der Vorstellungswelt existieren. Konträr zu den Einheitsfeiern ist sogar höchst zweifelhaft, ob die einst erhoffte Angleichung weiter voranschreitet. Mau nennt diese Verfestigung „Ossifikation“. Denn berufliche Chancen in Spitzenpositionen sind immer noch ungleich verteilt, die familiären Vermögen häufeln sich im Westen stärker auf, während im Osten deutlich weniger vererbt wird. Die Abwanderung, der Bevölkerungsschwund, der nur kurzzeitig gestoppt schien, dünnt die Infrastruktur aus und läßt es als unwahrscheinlich erscheinen, dass sich die sozialen Differenzen abbauen. Der dramatische Punkt, dass im Osten 100 Personen in die Rente eintreten und nur 50 neu eine Arbeitsstelle aufnehmen, steht sogar noch aus.

Auch mentale Unterschiede macht Mau aus und spricht, ohne in alarmistische Töne zu verfallen, vom „eigenständigen Kultur- und Deutungsraum Ostdeutschland“. Der Sozialismus werde hier milder gesehen, die negative Umbrucherfahrungen sind präsenter, die Vereinigung gilt weniger als geschlossen als im Westen. Auch bei Fragen der Geschlechterrollen, Russlandbild und Migration gibt es Differenzen. Mau bremst realistisch die Erwartung, dass es schnell zu einer sozialen, demographischen und kulturellen Angleichung kommen könnte. In deutlichem Gegensatzu zu Oschmann konstatiert Mau aus soziologischen befunden eine „Ostdeutsche Identität“. Verschiedentlich verweist er, dass dies keineswegs nur negativ zu sehen ist, sondern auch selbstemanzipatorische Elemente haben kann.

Politisch diagnostiziert der Soziolische eine zivilgesellschaftliche Schwäche, mit weniger Engagement in Vereinen, Stiftungen, Parteien. Mau leitet dies im Wesentlichen aus der „ausgebremsten Demokratisierung“ nach 1989 fest, als der Osten die westlichen Stukturen übernahm. Dabei entgeht Mau -wenn auch nur knapp- der Versuchung anderer Autoren- diese Entwicklung allein dem Westen anzulasten. Anders als die Kolonisierungs-Apostel beschreibt er den Vorgang als eine „Selbstentmachtung“ in unmittelbarer Nähe zur “Selbstermächtigung“ von 1989.

Soziologen sind gewöhnlich in der Gegenwart besser zu Hause als in der Vergangenheit. Kleine Ungenauigkeiten sind verschiedentlich festzustellen. Die Treuhand z.B. hatte sehr wohl ein Programm zum Management buy out (MBO) aufgelegt, dass es ostdeutschen-Führungskräften und -belegschaften ermöglichen sollte, ihre Betriebe weiterzuführen. Dass und warum es weniger gegriffen hat, als erhofft, ist eine andere Frage. Auch die Behauptung von der desastrrösen Niederlage der Bürgerrechtler bei den Wahlen im März, in der Literatur immer wieder wiederholt, ist nur teilweise richtig. Die sozialdmeokratische SDP, war im Ursprung auch eine Bürgerrechtsgründung und diese erreichte damals immerhin 21,9%. Und auch in  Parteienbündnissen wie der CDU-nahen Allianz für Deutschland waren prominente Bürgerrechtler präsent. Derartige kleinere Mängel tun jedoch dem Gesamttext kaum Abbruch.

Natürlich geht Mau auch dem Erfolg der AfD und neuerdings des BSW nach. Unaufgeregt referiert er bekannte Befunde, wie dass die AfD der Linken den Rang bei der ostdeutschen Identitätspolitik abgelauften hat. Stark hebt er neben Anderem ein in Ostdeutschland „weit verbreitetes Gefühl der Nichteinbezogenheit in die Politik“ hervor. Daraus ableitend sucht Mau auch nach Gegenrezepten gegen die Demokratieverdrossenheit in Ostdeutschland. Er schlägt Mau eine Stärkung der Partizipation vor. Das empfohlene Modell, Bürgerräte zu bilden, mag etwas schwach wirken, angesichts der derzeitigen Erosiion der Parteiendemokratie in Ostdeutschland. Der Vorschlag kommt auch reichlich spät, und man kann sich fragen, ob nicht die Rechtspopulisten mit dem Versuch, Bürger einzubinden nicht schon die Nase vorne haben. Andererseits Patentrezepte gibt es nicht, und einen Versuch ist es wert.