Kastelewicz: Kultur in Speziallagern

Kastelewicz, Anna Barbara: Musik, wo schweigen ist – Kultura und kulturelle Betätigung in den sowjetischen Speziallagern in der SBZ und DDR 1945-1950[1]

Von Peter Erler[2]

Anna Barbara Kastelewicz – Violinistin, Konzertmeisterin und Lehrbeauftragte an verschiedenen Hochschulen – untersucht  in ihrer überarbeiteten Dissertationsschrift  zum Thema Musik und künstlerische Betätigung in den sowjetischen Speziallagern eine Fragestellung, die in der dargebotenen Ausführlichkeit in der vorliegenden Forschungsliteratur so nicht abgehandelt wurde.

Ihre Studie zeichnet sich durch eine umfängliche Quellenbasis aus. Dazu gehören selbst geführte Interviews, Materialien aus Archiven von Gedenkstätten und Lagergemeinschaften und einzelne, bisher unbekannte Akten aus dem russischen Staatsarchiv (GARF). Als ihr besonderes Verdienst ist hervorzuheben, dass sie in den Haftorten entstandene oder kopierte Partituren und weiteres Notenmaterial sowie in den Lagern geschaffene Gedichte, Liedtexte und weitere künstlerische Werke recherchiert und als Expertin in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt hat. Dagegen ist die zitierte wissenschaftliche und publizistische Literatur überschaubar und berücksichtigt nicht den aktuellen Forschungsstand.

Untergliedert ist das Buch in zwei große Abschnitte. Im Teil A thematisiert die Autorin die diskursive Verortung der Kultura in die Realität der Speziallager. Hier analysiert sie die Motive der Lagerinsassen für eine kulturelle Beschäftigung bzw. Verwirklichung und welche funktionale Relevanz diese mitunter überaus breit gefächerten und professionellen Aktivitäten für die sowjetische Lagerleitung hatte. Auf Grundlage dieser Interessenlage bildeten sich mit der kulturellen Selbstbetätigung in den Baracken und Schlafsälen (Gesang, Rezitationen, Vorträge) sowie mit der zentral organisierten Kultura an den Lagerstandorten praktisch zwei voneinander unabhängige und unterschiedlich ausgeprägte Kulturszenen aus.

Weiterhin umreißt sie die Ambivalenz eines teilweise lebhaften Kulturbetriebes, der parallel zu anderen Lagerphänomenen, wie Hunger, Krankheiten und massenhaften Tod existierte und für die Beteiligten zumeist lebenserhaltende Privilegien garantierte.

Wenig nachvollziehbar ist der offerierte „Versuch einer statistischen Annäherung“ an die Publikumszahlen. So bleiben bei der Berechnung beispielsweise die Probenzeiten und Spielpausen des untersuchten Lagertheaters unberücksichtigt.

Nur am Rande wird erwähnt, dass – wie u. a. die Quellenüberlieferung der (Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) im Bundesarchiv dokumentiert - die Kultura vielfach ein Spielfeld für Missgunst und Intrigen sowie häufig von Spitzeln der sowjetischen Lagerleitung durchsetzt war. So war der bei Kastelewicz nur mit Vornamen erwähnte ehemalige Bühnenvorstand der Landesbühne Gau Wartheland und ab 1947 Leiter des Lagertheaters in Sachsenhausen, Alfred Herzog, ein bekannter Zuträger der dortigen NKWD-Operativgruppe.

Im Kontext des argumentativ schwachen Vergleichs mit der Kultura im GULAG-System bleibt offen, warum die künstlerischen Aktivitäten in den Speziallagern nicht durch die zentrale Leitungsebene (Abteilung Speziallager und ab 1948 Verwaltung Gulag) mit Anweisungen und Befehle reglementiert und von dieser für eine eventuelle Umerziehung der Lagerinsassen genutzt worden sind. Weiterhin vermisst der Rezensent eine Erläuterung des eingeführten Begriffs „Sektion Kultura“, der sich aus dem Textinhalt so nicht erschließt.

Im Teil B ihrer Monographie präsentiert die Autorin ein beeindruckendes Panorama der vielfältigen musikalischen, theatralischen und künstlerischen Aktivitäten an den elf Lagerstandorten. 

Am ausführlichsten ist ihre Darstellung für das Speziallager Nr. 1 in Mühlberg.

In dem ehemaligen Kriegsgefangenenlager aus der NS-Zeit hat es ein weit aufgefächertes kulturelles Angebot mit klassischen Konzerten, Opern-, Balett- und Theateraufführungen, Chorauftritten, szenischen Lesungen bis hin zu Matinees und Variteeprogrammen mit , Artistik und Kabaretteinlagen gegeben, das von verschiedenen Ensemblegruppen bestehend aus ehemaligen Berufskünstlern und Laiendarstellern dargeboten wurde. Für viele der Darbietungen erinnern Zeitzeugen ein hohes künstlerisches Niveau. Die offerierte Informationsfülle resultiert in diesem Lagerfall u. a. aus der außerordentlich guten Quellenüberlieferung, die auch einen detaillierten Ausschnitt aus der ausgeprägten Kompositionstätigkeit der dort internierten Musikschaffenden dokumentiert.

Die im Weiteren von Kastelewicz beschriebene und kommentierte offizielle Kultura in Buchenwald, Fünfeichen, Hohenschönhausen, Jamlitz und Sachsenhausen gestaltete sich dagegen vergleichsweise weniger intensiv. Sie war bezüglich der involvierten Akteure quantitativ geringer ausgeprägt und hatte eher ein kleineres Veranstaltungsspektrum.

Wegen den baulichen Gegebenheiten sowie aus anderen Gründen gab es in Bautzen, Frankfurt an der Oder, Ketschendorf, Weesow und Torgau nur marginale und temporär veranstaltete oder keine Kultura-Ereignisse. An diesen Haftorten herrschte eine individuelle und in kleinen Gruppen praktizierte künstlerische Selbstbetätigung vor. So brachte in Bautzen etwa ein Puppentheater Abwechslung in den tristen Lageralltag.

Hervorzuheben sind die Passagen der Abhandlung, in denen die Autorin die von ihr recherchierten Noten und Partituren analysiert sowie die überlieferten Varianten von Liedern, Musikstücken und Konzerten fachkompetent interpretiert und kommentiert.

Im Gegensatz dazu kann sie bei der historischen Einordnung anderer Sachverhalte oft nicht überzeugen.

Spekulativ bleibt z. B. die Frage, warum die NKWD/MWD-Lagerkommandanten von Mühlberg und Buchenwald, N. Samoilow und F. Matuskow die Kultura gefördert bzw. wieder verboten haben. Bezogen auf andere Lager wird diese relevante Frage zum überwiegenden Teil nicht aufgegriffen. Ihre Leiter bleiben aus nicht nachvollziehbaren Gründen zumeist gänzlich unerwähnt. Im Fall von Ketschendorf wird der Haftort überdies der Kommandantur der Stadt Fürstenwalde unterstellt.  Im Zusammenhang mit angeblich fehlenden biographischen Informationen über das verantwortliche sowjetische Lagerpersonal verweist die Autorin auf gesperrte Aktenbestände im GARF. Diese Argumentation ist jedoch nicht plausibel, da detaillierte Lebensdaten der betreffenden Offiziere auch in Publikationen von N. Petrow, N. Jeske und anderen Autoren zu finden sind. So ist vom „gebildeten und feinsinnigen“ Hauptmann Samoilow, der „Botschaftsattache in Paris“ gewesen sei, ist u. a. bekannt, dass er nach dem Abschluss der 7. Klasse einer Mittelschule eine Grundausbildung als Milizangehöriger erhielt und ab 1942 in Lagern des NKWD tätig war.

Zu hinterfragen ist zudem der dominierend ungefilterte und distanzfreie Umgang mit Egodokumenten und Selbstzeugnissen von in die historischen Geschehnisse involvierten Personen. Mitunter stehen sich widersprechende Zitate von Zeitzeugen zu Geschehnissen und Sachverhalten gegenüber. Eine kritische Analyse und abschließende Bewertung bleiben aus.

Zweifelhafte Erinnerungsausschnitte werden nicht hinterfragt und kritiklos aufgegriffen. So wird der Lagerchef in Sachsenhausen Major A. Kostjuchin bedenkenlos als Hinterwälder dargestellt, der „selbst Mozart unter Faschismus-Verdacht“ stellte. Bei Heinrich George konstruiert die Autorin eine kurzzeitige Verlegung („12 Tage Abwesenheit“) aus dem Lager Hohenschönhausen nach Weesow und Frankfurt an der Oder, was im Text mehrfach als einer der wichtigsten Erkenntnisgewinne der Studie postuliert wird. Stützen tut sie sich dabei auf zwei vage und nicht verifizierbare Zeitzeugenaussagen sowie auf haltlose Argumente („Schweigeverpflichtung“).

Gleichfalls problematisch gestaltet ist der durch weitere Personeneinträge ausbauwürdige Erläuterungsapparat für die im Darstellungstext zitierten und erwähnten Lagerinsassen. Bis auf einige Ausnahmen werden den Lesern wesentliche Informationen über das erwerbsmäßige und politische Engagement der Kultura-Aktivisten (Berufs- und Laienkünstler) während der NS-Zeit und die daraus oft resultierenden Inhaftierungsgründe vorenthalten.

Bezüglich Georges übernimmt die Autorin vorwiegend die idealisierend-verklärende Deutungsversion von Berta Drews und des älteren Sohnes Jan. Demnach kam der begnadete Schauspieler nicht wegen seiner herausragenden Rolle an der medialen Propagandafront des NS-Regimes, sondern auf Grund von haltlosen Denunziationen und als linker politischer Renegat in Haft.  

Der kleine Dokumentenanhang enthält die für die Studie verwendete Fragebögen, Unterlagen zum Theater- und Musikschaffen in Mühlberg sowie eine Aufstellung der 1950 in Sachsenhausen vorhandenen Musikinstrumente. Ergänzt wird er durch eine Vielzahl über das gesamte Buch verteilte teils mehrseitiger Abbildungen, Fotos und Faksimiles überwiegend von Notenblättern, Partituren und Lagerplänen der einzelnen Lager.

Den Abschluss der Publikation, die viele unnötige inhaltliche Wiederholungen und vermeidbare Druckfehler enthält, bildet eine voluminöse, aber wenig stringent sortierte und dadurch unübersichtliche Bibliografie der eingesehenen Quellen und der berücksichtigten Literatur.

Fazit: Die Autorin hat eine äußerst interessante Ausarbeitung über die kulturelle Betätigung in den sowjetischen Speziallagern vorgelegt. Für künftige Studien zu diesem Thema wäre die Einbeziehung weiterer, insbesondere biographischer Quellen gewinnbringend. Ihr Forschungsansatz ließe sich so ausbauen und könnte durch weiterführende Fragestellungen ergänzt werden.

Anmerkungen


[1] Göttingen 2024

[2] Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Gedenkstätte Hohenschönhausen