Hört uns zu! Wir Ostdeutsche und der Westen

Kurzrezension zum ARD/ARTE Film von RBB und NDR

von Christian Booß

Es war die 99ste Diskussion zu "Der Westen liebt und versteht den Osten nicht" und "Die DDR war ganz anders" (als durch den Westen dargestellt). Was Dirk Oschman und Katja Hoyer mit ihren Publikationen um die Jahreswende lostraten, löste mehr einen Sturm im Wasserglas aus. Nur die üblichen Verdächtigen beteiligten sich. Und wer diese Debatte durch AfD-Umfragewerte iim Osten gerechtfertig sieht, nimmt die orientierungslosen Bürger nicht ernst und geht zudem den Rechten auf den Leim. Angesichts der Wirtschafts- und Sozialdaten, die zeigen, dass es Ostdeutschland -vor Beginn der Ukraine-Gas-Inflationskrise 2022- so gut wie fast nie nach der deutschen Einheit ging. In vielen Regionen herrscht eine so niedrige Arbeitslosenquote, dass man sie im Kapitalismus als Vollbeschäftigung bezeichnen würde. Handwerker haben teilweise wieder eine Monopolstellung erreicht, wie zu „besten“ DDR-Zeiten, Schwarzarbeit inbegriffen. Die Städte und viele Dörfer sind weitgehend renoviert, es wird weiter gebaut und gebastelt. Investiert wird auch hier und da, manchmal wie bei den Chips, Elektroautos und Solarequipment, sogar groß. Vom Klischee der blühenden Landschaften will man angesichts der vielen Industrieruinen zwar eher nicht sprechen, aber weit entfernt davon wirkt das auch nicht. Auch im Vergleich zu Problemregionen des Westens übrigens nicht.

So fragt man sich, ob das nicht eine Debatte zur Unzeit war, oder geradezu  ein Indiz dafür, dass es "dem Ossi" eher gut geht, und er mit neuem Selbstbewusstsein mehr Respekt verlangt. Die Argumente dieser verbalen Schlacht sind ohnehin weitgehend so bekannt, das mancher nur noch Plagiate im Werke wähnte. Doch der Wirbel war groß genug, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis auch die elektronischen Medien sich hier einschalten würden. Der RBB und NDR, beide mit Publikum sowohl im Osten wie im Westen Deutschlands, haben es jetzt getan. Unter dem „einfallsreichen“ Titel “Hört uns zu! Wir Ostdeutsche und der Westen“ 45 Minuten Interviews mit fast ausschließlich Ostdeutschen. Mit ewig der gleichen Leier? Als wenn es 30 Jahre nach der Einheit nicht auch ein paar andere wichtige Themen gäbe, jenseits vom „Osten“? Wer will solche eine Litanei noch hören? Wirklich? Doch schon ab dem ersten Gespräch wird der Zuschauer reingezogen. Ein Flugzeugmechaniker klagt über die Benachteiligung, dass er mit seinem Ostvertrag einige Stunden länger arbeiten muss als seine Westkollegen. Dass er die Klage aber aus einem schmucken Einfamlienhaus und bei der Fahrt mit seinem kommoden Audi heraus führt, setzt einen unaufgeregten, ironischen Kontrapunkt. Sein Ärger ist sicher verständlich, aber leiden tut der junge Mann offenbar nicht. So subtil geht es weiter. Die Interviewerin, von Haus aus eigentlich Sportmoderatorin, bringt kreuz und quer (meist) durch den Osten der Republik Menschen vor dem Mikrofon zum Reden. Auch AfD-Anhänger in Brandenburg, sonst scheu angesichts der „Lügenpresse“. Scheinbar nachvollziehbar und dennoch absurd anmutend, führt einer Klage, dass die Regierung das ganzes Geld ausgebe, nur damit es Ausländern gut gehe. Klar wird, dass sie die Berliner Regierenden für Idioten halten, aber vollkommen naiv sich offenbar nicht scheuen, die Demokratie für Leute wie Höcke aufs Spiel zu setzen. Die Interviewerin bohrt nach, nicht sehr, eher dezent, aber beharrlich, lässt sich, auch durch Worttrash nicht aus der Ruhe bringen. So geht es weiter. Auch mal mit dem sächsischen Ministerpräsidenten, der fast bewundernswert stur, wenn auch mit zweifelhaftem Ausgang, versucht, mit seinen Sachsen im Gespräch zu bleiben. Ein Höhepunkt sicher das Interview mit Mitgliedern der Kultgruppe "Blond" aus Chemnitz. Die gestehen (gerade, nachdem ihre Stadt in Verruf gekommen war) gerne in Chemnitz zu leben, gerade weil sie das andere Chemnitz verkörpern. Allmählich begreift man, wo die Sache hinläuft. Ein weiterer Höhepunkt: Die einzige Stelle, wo die Journalistin, die mit der ihr eigenen Mischung aus freundlicher Coolness und Empathie die Menschen aufzuschließen versteht, aus der Rolle fällt. Das Interview mit dem Germanisten Oschmann, der sich und die Seinen mit Bittermiene vom Westen abgestempelt sieht, gerät zum Streitgespräch (in echt wohl 4 Stunden lang!). Jessy Wellmer wehrt sich gegen das Ost-Opfer-Klischee. Nach 45 Minuten ist klar, dass eigentlich sie die wirkliche Protagonistin dieses Filmes, ist -für einen Dokumentarfilm ungewöhnlich genug und wohl auch nicht beabsichtigt. Die junge Journalistin aus Güstrow (Ostnordeutschland), die bei Ihrer Arbeit jenen neuen Typ von gut ausgebildeten selbstbewussten jungen Menschen darstellt, die ihre Herkunft nicht verleugnen, aber sie auch keineswegs zur steten Klagemauer machen. Im Gegenteil. Das lässt hoffen, das sich derartige Debatten (und Filme) irgendwann erübrigen, zumindest auf das Level normaler Regionalbefindlichkeiten, die es vielfach in Deutschland gibt, schrumpfen werden. Wirklich sehenswert Nur der Titel hängt noch sehr im Retro.

Foto: RBB/NDR

Mehr zur Debatte um Ostidentität auf H-und-G.info

http://h-und-g.info/.../kontroverse-x-wie-war-die-ddr-und...

Mehr auf http://h-und-g.info/forum/schwerpunkt-1/22-heimat-ddr

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