Die Zukunft der Vergangenheit

von Johannes Beleites

Die Pläne der Havemann-Gesellschaft bieten Chancen für die weitere Aufarbeitung der SED-Diktatur

„Ein guter Bauer“, so sagte mir einmal ein Landwirt, „fängt an seinem 50. Geburtstag an, sich mit der Hofnachfolge zu beschäftigen.“ Ihren 50. Geburtstag haben inzwischen alle gefeiert, die noch vor 1989 in der DDR oppositionell aktiv waren. Ein neues Zentrum, ein „Forum Opposition und Widerstand 1945-1989“ ist also eine gute Idee für den Übergang in eine Zukunft, in der dann die nächsten Generationen das Erbe sichern sollen.

Grundsätzlich macht die Havemann-Gesellschaft hier schon vieles richtig. Auch an ihr geht die Zeit nicht spurlos vorüber. Viele, die einstmals in der DDR als jugendliche Oppositionelle Geschichte geschrieben haben und später dann das Domaschk-Archiv und die Havemann-Gesellschaft gründeten und betrieben, sind in die Jahre gekommen und werden im kommenden Jahrzehnt das Rentenalter erreichen. Es ist also höchste Zeit, sich um eine zukunftssichere Unterbringung und Nutzung des oppositionellen Nachlasses zu kümmern. Die Magazine sollten großzügig bemessen werden, wird doch in den nächsten Jahren noch der eine oder andere Vor- und Nachlass unterzubringen sein.

Mit der Machbarkeitsstudie setzt die Havemann-Gesellschaft ein Zeichen. Sie zeigt deutlich, dass sie die Zeitabläufe erkannt hat. Die gegenwärtigen Akteure wollen offenbar, dass es auch nach ihrer Zeit weitergehen soll. Und sie wissen, dass ein geordneter Übergang langfristig organisiert werden muss. Die Machbarkeitsstudie sieht die Zukunft – trotz der ortsunabhängigen Neubau-Studie – offenbar im Rahmen des von Roland Jahn initiierten „Campus' für Demokratie“ auf dem ehemaligen Gelände des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg. Das ist grundsätzlich gut so, zumindest wenn die Nähe zum Stasi-Unterlagen-Archiv des Bundesarchivs hier produktiv genutzt wird.

Natürlich lässt sich berechtigt fragen, ob sich Berlin, wie in der Darstellung behauptet, wirklich so besonders gut eignet. Zwar „bündelt sich hier die Geschichte der deutschen und europäischen Teilung und deren Überwindung“ und vielleicht gilt Berlin tatsächlich „weltweit als ein Symbol für die mutig selbsterkämpfte Freiheit“. Aber doch vielleicht nur bei jenen, die Plauen, Dresden und Leipzig nicht kennen. Doch die Geschichte der Havemann-Gesellschaft beginnt in Berlin, also ist Berlin auch ein guter Ort für ihre Zukunft. Wichtig ist nur, dass dabei nicht eine Berlin-Zentrierung einsetzt, die die Museen, Gedenkstätten und Archive und vor allem die oppositionelle Geschichte in der Provinz an den Rand drängt.

Doch gerade dieser Ort lädt dazu ein, das Verhältnis von Berlin und Provinz zu thematisieren, vergingen doch bis zur Besetzung der Stasi-Zentrale am 15. Januar 1990 sechs Wochen, nachdem die Stasi-Dienststellen in den Bezirken und Kreisen der DDR schon längst nicht mehr arbeitsfähig waren. Aber auch die besondere Situation der Ost-Berliner Oppositionellen mit ihrer Nähe zu West-Berlin, zu westlichen Journalisten und Diplomaten kann hier gut dargestellt und aufgearbeitet werden.

Die im Konzept genannten vier Säulen, Ausstellung, öffentliche Bildung und Diskussion, Bibliothek und Archiv sowie schließlich wissenschaftliche Forschung, sind zunächst einleuchtend, wenn auch nicht wirklich originell. Fraglich ist durchaus, wie groß in Berlin dafür der konkrete Bedarf ist. Immerhin gibt es mit dem Stasi-Unterlagen-Archiv, der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, der Stiftung Aufarbeitung oder dem Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam – um nur einige Akteure zu nennen – durchaus gewichtige Mitbewerber um Nutzer in einem Themenfeld, an dem das Interesse prinzipiell abnehmend sein dürfte. Insbesondere im Bibliotheks- und Archivbereich sollte also großes Augenmerk auf den Aufbau eines Kooperationsverbunds, einheitlichen Verzeichnungssystemen sowie einer kurzfristigen digitalen Nutzung liegen. Dann ist es für Interessenten aus Publizistik, Presse und Wissenschaft aus Deutschland und der Welt eher zweitrangig, wo genau sich die Quellen befinden.

Gäbe es beispielsweise ein dem Digitalen Bildarchiv des Bundesarchivs ebenbürtiges und mit diesem in einem Rechercheverbund gekoppeltes Bildarchiv der Opposition und der sonstigen nichtoffiziellen Bilder aus der DDR, wäre die heutige Darstellung der DDR weniger stark von deren staatlicher Bildüberlieferung dominiert. ADN-Bilder sind über die Website des Bundesarchivs für jede Redaktion binnen Minuten nutzbar. Bilder aus den diversen Archiven der Opposition hingegen müssen bisher mühsam recherchiert werden; nicht selten ist das auch nur mit Reisen an den jeweiligen Archivstandort möglich. Für viele Medien ist das viel zu aufwändig, zumal wenn man auch schnell ein themenbezogenes Bild der DDR-Nachrichtenagentur bekommen kann. Dass man so den SED- und Stasi-gelenkten Blick auf die DDR unbewusst heute noch perpetuiert, ist ein großes Manko der Aufarbeitung der SED-Diktatur, das mit einem geschickten und kooperativen Ansatz behoben werden könnte.

Die Machbarkeitsstudie der Havemann-Gesellschaft zum geplanten Forum stellt hinsichtlich des Gebäudes einerseits einen ortsunabhängigen Neubau, andererseits die Umnutzung eines Bestandsgebäudes auf dem früheren Areal des Ministeriums für Staatssicherheit dar. Hier werden Kostenansätze dargestellt, die angesichts der gegenwärtigen Preisentwicklung im Baubereich wohl nur als grobe Schätzungen im unteren Bereich betrachtet werden können. Aber auch unabhängig davon, dass die Umnutzung eines Bestandsgebäudes vermutlich die kostengünstigere Variante sein dürfte, ist hierfür auch unter dem Gesichtspunkt des Klimaschutzes zu plädieren. Schließlich ist der Neubau, soweit erkennbar, vor allem eine Konstruktion aus Stahl, Beton und Glas – die Klimabilanz dieser Baustoffe ist verheerend.

Wenn sich die Havemann-Gesellschaft ihrer Herkunft unter anderem aus der oppositionellen Ökobewegung bewusst ist, kann sie sich allenfalls für einen durch Lehm und Holz dominierten Neubau entscheiden; sinnvoller dürfte die Nutzung des Bestands sein.

Das Projekt der Havemann-Gesellschaft kommt zur richtigen Zeit und birgt bei kluger Herangehensweise ein großes Potential. Wichtig ist es, Konkurrenzverhältnisse zu anderen Aufarbeitungsinitiativen und -institutionen bei Wahrung ihrer Eigenständigkeit abzubauen und nutzerorientiert zu kooperieren. Dann wäre das Feld der DDR-Aufarbeitung mit diesem Forum besser bestellt als ohne.

13.12.2022