Sein oder Nichtsein?: Ostdeutscher als Schicksal oder Erfindung

2. Juni 2023

Von Rainer Eckert[1]

Seit Monaten tobt die Diskussion um die Frage danach, ob es Ostdeutsche gibt, wer diesen Begriff geprägt hat, ob er heute noch gültig ist und wer dieses Thema erstmals aufgegriffen hat. Dazu kommt die Kontroverse darüber, ob die SED-Diktatur neu interpretiert werden müsse und ob jetzt jüngere Historiker endlich einen Durchbruch zu neuen Sichten ermöglichen würden. Die Frage nach den Ostdeutschen warf der Leipziger Literaturprofessor Dirk Oschmann auf[2] und für die jüngere Generation steht ie in London am renommierten King`s College lehrende und forschende Katja Hoyer[3] Beide sind Ostdeutsche – allerdings unterschiedlicher Generationen. Und die von ihnen veröffentlichten Bücher schafften umgehend den Sprung auf die Bestsellerlisten – Oschmann im SPIEGEL sogar auf Platz eins und Hoyers Buch schnell auf dem siebten Platz. Deren Wirkung stehen vor allem Rezensionen und Diskussionsbeiträge von Ilko- Sascha Kowalczuk entgegen.[4]

 

Bei Oschmann lautet die entscheidende Fragestellung, ob der Begriff des Ostdeutschen eine westdeutsche Erfindung sei oder ob es dafür einen anderen Ursprung gibt. Das ist eine legitime Frage, die aber zuerst dazu anregt, sich nach der eigenen Herkunft und Selbstdefinition zu fragen – wenn man dann in der DDR geboren wurde. Für mich ist die Antwort eindeutig: Ja, ich bin Ostdeutscher.[5] Allerdings ist diese Aussage nur teilweise richtig, da sie mich nur unzulänglich beschreibt. Denn ich bin ebenfalls Europäer, Deutscher, Protestant, Wissenschaftler, Museumsmensch, Sozialdemokrat und auch Linksliberaler – wenn dieser Begriff inzwischen auch kaum noch definitorisch zu fassen ist. Aber diese Teilidentitäten zusammen machen mich zu der Person als die ich mich selbst sehe. Und dazu kommt, dass daraus für mich verpflichtende Denkweisen und Handlungen resultieren. Dazu gehört das Engagement, für die „Werte des Westens“ und die der Friedlichen Revolution – also für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte. Ein geeintes Europa ist mir genauso wichtig wie der Erhalt christlicher Grundüberzeugungen. Immer geht es auch um die Verbesserung unserer Welt, um Frieden, Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und Gleichheit der Menschen. Man könnte dies auch als weltweit verbindliche Grundrechte betrachten.    

 

Eines war ich jedoch nie: DDR-Bürger – allerdings nur in meiner Selbstsicht, nicht in der der in der kommunistischen Diktatur Herrschenden. Das gilt sicher auch für viele andere Ostdeutsche. Ich lebte jedenfalls zwar 39 Jahre in der DDR, war also formal Staatsbürger dieses Lands, jedoch war diese nie meine Heimat. Grundlegend bin ich heute der Meinung, dass ein Staat, der den in ihm lebenden Menschen die Bürgerrechte verweigert, auch keine Bürger hat, sondern Einwohner oder Insassen. So war für mich vor 1989/1990 Heimat etwas anderes. Es waren Freunde, Familie und ein Leben, das sich den Anforderungen der Diktatur soweit entzog wie ich es wagte. Wichtig waren auch die Junge Gemeinde und die dort geführten Diskussionen sowie und die von uns praktizierte Lebensweise. Geographisch war Heimat meine Geburtsstadt Potsdam, es war die Gegend, die wir als Kinder und Jugendliche mit unseren Fahrrädern erreichen und erkunden konnten. Auch West-Berlin mit meinen Großeltern gehörte dazu und später dann Ost-Berlin als Studien- und Arbeitsort.[6] Nach der Wiedervereinigung kamen Deutschland und Europa, ja der gesamte Westen, zu meiner Heimat dazu. Und auch 19 Jahre Arbeit in Leipzig waren für mich eine neue und gute Erfahrung.

 

Dagegen ist mir bis heute vollkommen fremd geblieben wie – außer der Gruppe der Träger und Profiteure der Diktatur – Ostdeutsche die DDR als ihre Heimat betrachten können. Der engere Lebensbereich ja, die ostdeutsche Region in der man lebte kommt dafür in Frage, aber doch nicht die SED-Diktatur. Darüber hinaus bleibt mir aber noch etwas anderes festzustellen. Vieles, was ich in meinem Leben in der kommunistischen Diktatur lernte und vertrat, ist auch heute noch gültig. Insofern halte ich es für falsch, wenn immer wieder zu lesen oder zu hören ist, dass die Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung alles neu lernen mussten. Für die Steuererklärung gilt das sicherlich, für anständige menschliche Verhaltensweisen und moralische Überzeugungen dagegen jedoch keinesfalls. Da erscheint es mir eher so, dass besonders widerständiges Verhalten heute wieder gefragt ist – Jammern über das angeblich Verlorene hilft jedenfalls nicht weiter. Wenn ich von einem solchen Verhalten spreche, meine ich damit jedoch nicht den Widerstand gegen eine notwendige und vernünftige Impfung und gegen Anti-Corona-Maßnahmen sondern genau das Gegenteil. Heute geht es wieder um die Verteidigung einer richtig verstandenen Freiheit, um Menschenrechte und die Würde des Einzelnen. Und genau dies ist zu erreichen, wenn egoistische Eigeninteressen zugunsten des Wohls der Allgemeinheit zurückgestellt werden. Besonders die Schwachen in unserer Gesellschaft benötigen Rücksicht und Unterstützung. Das muss gelingen, um Deutschland als eine wirkliche Heimat zu erleben. Und dazu gehört aktuell auch, den Widerstand der Ukraine gegen einen barbarischen Aggressionskrieg Russlands zu unterstützen. Dass Ostdeutsche dagegen den heutigen Aggressionskrieg billigen, weil sie sich in der DDR der Sowjetunion so nahe gefühlt hätten, glaube ich nicht.

 

Und so kann ich Oschmanns Behauptung, dass die Ostdeutschen eine Erfindung des Westens seien, nicht zustimmen. Recht hat er dagegen, wenn er die Dominanz Westdeutscher in allen gesellschaftlichen, wissenschaftlichen oder medialen Bereichen des Ostens beklagt. Richtig ist auch, dass diese nicht geringer wird, sondern eher noch zunimmt. Allerdings ist das bereits in den letzten Jahren immer wieder, so ganz herausragend durch Kowalczuk, thematisiert worden.[7] Oschmann weiß das und schreibt auch, dass seine Ausführungen nicht auf eigenen Forschungen beruhen, hat trotzdem aber mit seinem Buch einen sensationellen Erfolg und ist für viele die Stimme des Ostens. Das wirft natürlich die Frage nach den Gründen für diese ungeheure Wirkung auf. Sicher hat er ein richtiges Momentum „erwischt“ und sicher wird das Buch hervorragend durch (West-)Medien vermarktet. Wobei zur Einleitung dieser Kampagne ein vierseitiger Beitrag im SPIEGEL wohl ausschlaggebend war.

 

Aber das kann nicht alles sein. Wahrscheinlich ist der eigentliche Erfolg des Buches die gegen den Westen gerichtete Wut und Härte des Autors, die Anklage im Osten verhöhnt und gedemütigt zu werden. Eine solche Argumentationsweise ist anderen in aller Regel so nicht gegeben, bedingt aber die Wirkung. So etwas kann natürlich auch „daneben gehen“, aber für Oschmann garantierte es dessen Erfolg. Daran ändert dann auch nichts, wenn andere Autoren in seinem Text Fehler entdecken[8] oder dass er die Entwicklung die zur Wiedervereinigung führte, nicht thematisiert. Für mich entscheidend ist allerdings, dass Oschmann mehr als 30 Jahre verborgen hat Ostdeutscher zu sein um seine Karriere nicht zu gefährden. Dann kam er mit dieser Tatsache „um die Ecke“ und war sofort einer der prominenten Stimmen des Ostens. Ich habe mich dagegen immer aktiv dazu bekannt, Ostdeutscher zu sein und war trotzdem oder deswegen erfolgreich.[9] Über diese beiden unterschiedlichen Wege wird noch zu sprechen sein. Jedenfalls erscheint mir das Verschweigen der eigenen Herkunft aus dem Osten nicht die Voraussetzung für einen beruflichen Erfolg im wiedervereinten Deutschland zu sein. Und auch die Auffassung von Oschmann und vielen anderen, dass die Geschichte immer von den Siegern geschrieben wird, müssen wir weiter kritisch diskutieren. Das ist notwendig, weil aus meiner Sicht die Geschichte der kommunistischen Diktatur im Osten Deutschlands vorrangig in wichtigen Arbeiten von Ostdeutschen aufs Papier gebannt wurde, und auch über die Frage, wer denn nun diese Sieger sind ist eine Klärung notwendig. In meiner Sicht waren dies nicht die Altbundesdeutschen sondern diejenigen, die gegen die Diktatur erfolgreich auf die Straße gingen und eine Revolution ermöglichten.

 

Katja Hoyer widmet sich einem anderen Thema als Oschmann.[10] Sie nimmt ausgehend vom Leiden und der Verfolgung deutscher Kommunisten in der stalinistischen Sowjetunion die gesamte Geschichte der DDR in den Blick. Spezifisch für dieses gut lesbare Buch ist, dass jedes der kurzen Kapitel durch die Beschreibung eines Lebensschicksals eingeleitet wird. Das ist natürlich legitim und wissenschaftlich vertretbar. Das Problem ist jedoch, dass Hoyer nicht klar macht, wen sie warum auswählte und auch interviewte. Das bringt natürlich sofort die Frage mit sich, ob nicht bestimmte Menschen oder Personengruppen bewusst ausgeklammert werden. In jedem Fall gilt das für Opposition und Widerstand gegen die kommunistische Diktatur, die nicht als solche benannt wird.

 

Trotzdem wurde „Diesseits der Mauer“ nach seinem Erscheinen in Großbritannien bejubelt, in mehrere Sprachen übersetzt und auch in Deutschland ein Erfolg. Gleichzeitig wurde in der Bundesrepublik harte Kritik – so von Kowalczuk[11] - schnell laut. Die Kritiker monierten aus meiner Sicht zu Recht, dass Hoyer mit „unfassbarem Selbstbewusstsein“ den zu ihrer Thematik vorhandenen Forschungsstand und auf diesem Gebiet entscheidende Forscher ignorierte. Auch der Besuch von Archiven scheint ihr nicht in den Sinn gekommen bzw. zu aufwendig gewesen zu sein. Letztlich benutze sie nur Angaben und Aussagen, die der eigenen Sicht entsprächen. Kowalczuk meint weiter zu Recht, so würden Diktatur, Gesellschaft und Alltag entkoppelt und die ständige ideologische Indoktrination vernachlässigt werden.[12] Die Staatspartei SED wird so zu einem kleinen Verein starrsinniger Männer, die mit dem Alltag nichts zu tun hatten – was Kowalczuk weiterhin hart kritisiert. Und er hat auch Recht wenn er ausführt, dass Hoyer letztlich ein „kuscheliges Leben“ in der DDR schildert, in der nach dem Bau der Berliner Mauer bis kurz vor 1989 die meisten Ostdeutschen zufrieden waren. Die flächendeckende Herrschaft der SED, ihre Geheimpolizei, die Ideologie, die Propaganda, der politische Druck und das bundesdeutsche Magnetfeld treten dagegen zurück oder werden nicht erwähnt. Auch wird der Antifaschismus ganz einseitig zum Gründungsmythos der DDR, der Marxismus-Leninismus wird dagegen vernachlässigt.

 

Bei genauem Lesen fallen zumindest dem Sachkenner auch verschiedene Faktenverdrehungen und terminologische Unsicherheiten auf. Allerdings wird das die Mehrzahl der Leser nicht berühren bzw. sie wird es nicht bemerken. Für absurd halte ich auch die Meinung, dass die Ostdeutschen nach 1989 die DDR vergessen sollten. Stattdessen gab es mehr als drei Jahrzehnte rege Forschungsarbeit, zahllose Medienberichte, Auseinandersetzungen in Kunst und Literatur, politische Bildung und Milliardenaufwendungen für die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur. Und noch einmal stimme ich mit Kowalczuk überein wenn er meint, dass Hoyer in weiten Teilen ihres Buches eine DDR zeichnet, in der man gerne leben würde, die es so aber nie gab. Sie ist die Behauptung auch falsch, dass das Buch bahnbrechend sei. Aber es gibt auch eine andere Seite der Ausführungen der Autorin. So war die DDR für sie zwar eine Chance ein besseres Deutschland aufzubauen, ein Ideal das allerdings korrumpiert wurde.[13] Außerdem hätte sich der ostdeutsche Staat nicht auf die breite „Unterstützung und Zustimmung seiner Bürger stützen“ können, die DDR wäre einer “der effizientesten und rücksichtslosesten Polizeistaaten aller Zeiten“ gewesen, Tausende wurden unschuldig inhaftiert und den „Launen eines einziger Führers unterworfen“, der Mauerbau war grausam und die deutsche Teilung sei eine „nationale und menschliche Katastrophe“ gewesen. Auch wäre an den Grenzen „von der Schusswaffe rücksichtlos Gebrauch gemacht“ worden und die DDR bzw. die SED hätten einen Menschenhandel betrieben. Weitere solcher Äußerungen lassen sich finden und machen „Diesseits der Mauer“ in einem gewissen Umfang zwiespältig – viele seiner Kritiker übersehen das jedoch. Überdeutlich wird das – im Gegensatz zu den angeführten Zitaten - bei Einschätzungen wie: „Die DDR war eine hoch gebildete, hoch qualifizierte und hoch politisierte Gesellschaft, die selbstbewusst und stolz auf ihre Errungenschaften war und sich weiter entwickeln wollte.“[14] Zumindest bleibt hier offen, was denn nun die wirkliche Meinung der Autorin sein könnte.    

 

Dagegen argumentieren viele Kritiker ähnlich wie Kowalczuk, so Norbert F. Pötzl,[15] der zu Recht die Auffassung Hoyers kritisiert, dass der Westen die Deutungshoheit über vierzig Jahre Geschichte der DDR gewonnen habe. So einfach ist es aber nicht und zu einer solchen Einschätzung kann die Autorin eben nur kommen, wenn sie den Forschungsstand ignoriert. Auch Franziska Kuschel von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur empfindet es als „veritables Ärgernis“, dass Hoyer die bisherige Forschung unsouverän vernachlässigt und behauptet, die DDR würde als „grauer, eintöniger, verschwommener Fleck“ dargestellt werden.[16] Ähnlich wie Kowalczuk meint sie, dass es zwar wissenschaftlich möglich wäre von den Erinnerungen Einzelner und Interviews mit ihnen auszugehen, doch müssen die Gründe für diese Personenauswahl nachvollziehbar sein und auch Gegenmeinungen wären zu hören und in der Darstellung zu berücksichtigen. Die Ostdeutschen waren nämlich kein Kollektiv sondern hier existierten ganz unterschiedliche Meinungen und Haltungen.

 

Die ostdeutsche Schriftstellerin Anne Rabe dagegen führt aus, dass das Buch von Hoyer zeige wie Populismus funktionieren würde und dass das Thema häusliche Gewalt bisher kaum thematisiert sei.[17] Und ganz zu Recht findet sie: „Und dass auch in Diktaturen geheiratet, gelacht und gekocht wurde, ist eine Binse.“ Und genauso richtig ist, dass Hoyer die Sicht von Opfern der Diktatur und von denen, die ihr widerstanden, weitgehend übergeht. Dabei gibt sie zu bedenken, dass es nicht nur Opfer der Staatssicherheit gab, sondern auch andere – so die, denen aus politischen Gründen eine gute Ausbildung verwehrt wurde. Zwar gab es stellvertretend einen staatsfernen Alltag – heißt es weiter – doch wäre es falsch wenn Hoyer diesen von der Diktatur trenne. Das meint auch Christian Eger, der Hoyer jedoch einen kritischen Blick auf die DDR zubilligt.[18] Trotzdem könnte bei der Autorin ein falsches Bild einer DDR-Gesellschaft ohne Zwänge entstehen. Und so scheint es ihm auch sinnvoll zu fragen, ob das noch Geschichtsschreibung oder schon Revisionismus sei. Genauso richtig und wichtig ist es immer wieder zu betonen, dass es keine kollektive Ost-Identität gab und gibt.

 

Das scheint mir auch das eigentliche Problem zu sein. Bei Hoyer stehen Aussagen über die diktatorischen Seiten des SED-Staates neben der Schilderung einer heimeligen DDR. Zwar greifen ihre Kritiker mit Recht die Defizite ihres Buches auf, doch sollten – wie ich bereits erwähnte - auch die kritische Aussagen über die SED-Diktatur berücksichtig werden. So meint sie etwa, dass „sich das DDR-Regime vor dem eigenen Volk“ gefürchtet hätte.[19] Unterm Strich sind in dem Buch von Hoyer für mich am ärgerlichsten die Trennung von alltäglichem Leben und der ständigen ideologischen und politischen Indoktrination, die Nichtberücksichtigen der relevanten Forschungsliteratur, zahlreiche Fehler im Detail und terminologische Schwächen. Entscheidend ist die weitgehende Vernachlässigung von Opposition bzw. Widerstand und hier besonders der Friedlichen Revolution. Auch der Freiheitsdrang vieler Ostdeutscher spielt nur eine geringe Rolle. Wichtige Persönlichkeiten des Widerstandes gegen die Diktatur werden nicht erwähnt bzw. wie der Pfarrer und Märtyrer Oskar Brüsewitz oder der kritische Liedermache Wolf Biermann verzeichnet. Die Beschränktheit der Aussagen von Hoyer wird auf den wenigen Seiten über die Opposition in der späten DDR besonders deutlich. Die Entstehung dieser bürgerrechtlichen Opposition wird zu spät auf die Zeit ab 1988 angesetzt, ihre wichtigen Persönlichkeiten werden nicht erwähnt und nur einige Bürgerrechtsgruppen kommen Hoyer in den Blick. Und dabei konzentriert sie sich ganz einseitig auf Ost-Berlin. Jena als zeitweilig „Hauptstadt“ der Opposition und das in der Opposition so aktivistische Leipzig (mit dem zumindest partiellen Zusammenwirken von „Ausreisern“ und Bürgerrechtlern) erwähnt sie nicht.

 

Ganz ärgerlich ist dann das Kapitel über die Friedliche Revolution, einen Begriff, den Hoyer nicht verwendet. Wieder geht es hier um persönliche Erinnerungen – jetzt auch die eigenen – in Ost-Berlin und Rostock. Inhaltlich spielen die Flucht von Ostdeutschen in den Westen, Prozesse in der SED und der Sturz der Berliner Mauer eine Rolle. Das Wesen der Revolution und ihre Entwicklung werden jedoch nicht beschrieben und sind von der Autorin wohl auch nicht begriffen worden. So erwähnt sie den „Tag der Entscheidung“, den 9. Oktober 1989 in Leipzig, mit keinem Wort. Auch hier wären Literaturkenntnis und der Weg in die Archive hilfreich gewesen. Letztlich enthält Hoyers Buch keine Aspekte der DDR-Geschichte die nicht schon behandelt worden wäre. Trotzdem werden viele Leser dieser Sicht und damit einer – zumindest in weiten Ausführungen - Verklärung des Lebens in der SED-Diktatur folgen.

 

Neben den Kritikern stellen sich andere Autoren auf die Seite Oschmanns und vor allem Hoyers.[20] Argumente sind hier, dass sich die Kritiker nicht von ihrer „Kalter-Krieg-Prägung“ lösen oder vom „liebgewordenen Feindbild“ DDR trennen könnten. Außerdem hieß es, dass den Ostdeutschen 1990 ein System übergestülpt worden sei, dass sie nicht verstanden hätten. Insgesamt bleibt als Fazit, wie Felix Bohr in einem Leitartikel des SPIEGELS richtig ausführte, die Gefahr einer immer stärker werdenden „Entsorgung“ der „finsteren Vergangenheit“ der Deutschen „wie Sondermüll“.[21] Dafür würden Autoren wie Hoyer eine „Wohlfühlgeschichtsschreibung“ betreiben. Das eigentliche Problem bestünde allerdings darin zu empfehlen, „die deutsche Obsession der Vergangenheitsbewältigung abzuschütteln“. Das erinnert an die AfD und ihren „Spitzenpolitiker“ Björn Höcke und ist grundlegend falsch, da sich Geschichte nicht „abschütteln“ lässt. Und so kann ich Bohr nur mit seiner Auffassung folgen, dass es falsch ist, den „menschenfeindlichen SED-Unterdrückungsapparat“ zu ignorieren. Allerdings darf das nicht dazu führen, dass andere Lebensbereiche der Ostdeutschen vernachlässigt werden und dass die Einbettung der DDR in das kommunistische Weltsystem keine Rolle spielt. Und auch die Transformationszeit von inzwischen mehr als drei Jahrzehnten muss in ihren internationalen Zusammenhängen stärker ins Zentrum wissenschaftlicher Interessen rücken. Dabei ist es nicht ganz so wichtig, ob es Ostdeutsche als solche gibt oder ob sie eine Erfindung des Westens sind. Wenn die Frage aber ernsthaft gestellt wird so ist es richtig, laut zu antworten: Ja, es gibt Ostdeutsche, sie sind keine Erfindung. Und schließlich ist das Buch von Hoyer nicht die gültige Erklärung der Geschichte der SED-Diktatur sondern reiht sich als ein Beitrag in einen weiträumigen Forschungsdiskurs ein.

 

 


[1] Prof. Rainer Eckert, ehemaliger Leiter des zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig

[2] Oschmann, Dirk: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. – Berlin, 2023. Inzwischen mehrere Auflagen. Als Vorläufer: Derselbe: Wie sich der Westen den Osten erfindet: Wer die gegenwärtige ostdeutsche Bockigkeit verstehen will, muss sich klar machen, wie einseitig die Diskursmacht hierzulande verteilt ist, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Februar 2022. Außerdem gibt es zahlreiche Äußerungen in den Medien, die hier nur in Auswahl erwähnt werden können. So: Interview Michael Pilz`s mit Dirk Oschmann: „Nicht der Osten spaltet die Gesellschaft – sondern der Westen“, in: DIE WELT, 23. Februar 2023; Interview mit Demselben: „Man grenzt die Ostmänner systematisch aus“, in: DER SPIEGEL, 25. Februar 2023; Gespräch Maria Fiedlers und Thomas Trappes mit Demselben: „Der Westen ist mitverantwortlich für den Rechtsextremismus im Osten“, in: Der Tagesspiegel, 28. Februar 2023; derselbe: „Der Westen hat den Osten als das Defizitäre wahrgenommen, das Zurückgebliebene, als etwas, das erzogen werden muss: Das hat sich nie geändert, in: Frankfurter Allgemeine Wochenzeitung, 5. März 2023; Interview Anja Reichs und Wiebke Hollersens mit Demselben: „Die Wut war immer da“, in: Berliner Zeitung, 19. März 2023; Interview Matthias Alexanders mit Demselben: „Wir brauchen eine Ostquote für Führungskräfte“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Mai 2023.

Dazu kommen zahlreiche Beiträge über Oschmann wie: Pollmer, Cornelius: Los Wochos in Lostdeutschland: Professor Dirk Oschmann erwacht aus eiskaltem Schlaf und stürmt die Ost-West-Debatte; Nun heißt es: Aufgepasst und mitgemacht!, in: Süddeutsche Zeitung, 2. März 2023; Locke, Stefan: Den Diskursraum kräftig durchfegen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. März 2023; Richter, Steffen: Deutsche Gedächtnislücken: Trugbild des unsichtbaren Ossis, in: Der Tagesspiegel, 19. März 2023; Osang, Alexander: Geiseln und Entführer, in: DER SPIEGEL, 25. März 2023; Saab, Karin: Dirk Oschmann: „Der Osten kann de facto diese Demokratie gar nicht mitgestalten“, in: Märkische Allgemeine, 10. Mai 2023; Peikert, Denise: Der Seelenstreichler, in: Leipziger Volkszeitung, 27./28. Mai 2023.

 

[3] Hoyer, Katja: Diesseits der Mauer: Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990. – Hamburg, 2023.

 

[4] Vgl. unten.

 

[5] Hier beziehe ich mich auf: Eckert, Rainer: Diktatur als Heimat?: Leben in Potsdam und Ost-Berlin, 1950-1989, in: H-und-G.info, Berlin, Juli 2020; zu meiner Position in der aktuellen Diskussion: Derselbe Interview mit Anja Reich: „Wir haben viel zu lange über Staatssicherheit und SED-Unrecht diskutiert, in: Berliner Zeitung, 20. Mai 2023.

[6] Das beschreibe ich in meinem autobiographischen Text: Eckert, Rainer: Leben im Osten: Zwischen Potsdam und Ost-Berlin 1950-1990; Biographische Aufzeichnungen. Halle/Saale, 2021.

[7] Kowalczuk, Ilko-Sascha: Die Übernahme: Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde. – München, 2019; Derselbe; Ebert, Frank; Kulick, Holger (Hrsg.): (Ost)Deutschlands Weg. – I/II. – 2021; Übersicht: Eckert, Rainer: Umkämpfte Vergangenheit: Die SED-Diktatur in der aktuellen Geschichtspolitik der Bundesrepublik Deutschland. – Leipzig, 2023, S. 250-278.

 

[8] Dies gelang bei Oschmann Ines Geipel (Dieses Buch will spalten, in: DIE WELT, 30. März 2023), deren Schriften ja nun wirklich nicht frei von Fehlern und Übertreibungen sind. Zu Geipels Sicht vgl. auch: Dieselbe: Deutschlands neues Leben?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. Mai 2023.

 

[9] Vgl. Eckert, Rainer: „Nie habe ich verschwiegen, Ostdeutscher zu sein“, in: Berliner Zeitung, 22. März 2023. Dem folgte eine ganze Reihe von Texten unterschiedlicher Qualität zur Frage nach einer ostdeutschen Identität in der Berliner Zeitung. Ein negativer Höhepunkt war die vollkommene Verzeichnung der Situation in der DDR Wissenschaft durch Ulrich van der Heyden (Ostdeutsche Identität: Auch West-Berliner Forscher mussten Reiseberichte schreiben, in: Berliner Zeitung, 16. Mai 2023).

Der vorerst letzte Beitrag in dieser Reihe: Eckert, Rainer: Wir haben viel zu lange über Staatssicherheit und SED-Unrecht diskutiert, in: Ebenda, 20. Mai 2023.

 

[10] Aber auch Katja Hoyer wurde vom SPIEGEL als Kenner der Ostdeutschen promotet, vgl.: Spiegelgespräch mit Hoyer: „Solche Erfahrungen wird man nicht los wie einen Dialekt“, in: DER SPIEGEL, 6. Mai 2023.

 

[11] Kowalczuk, Ilko-Sascha: Sozialismus in Pastell: Katja Hoyers substanzlose DDR-Geschichte, in: Der Tagesspiegel, 9. Mai 2023. Ähnlich auch in: Der Freitag, 11. Mai 2023 u.d.T.: Kleine, feine DDR. Vgl.: Derselbe: Im Osten lebt der Antiamerikanismus weiter, in: epd, 6. Mai 2023; Derselbe: „Freiheit ist wichtiger als Frieden“, in: taz, 6. Mai 2023.

 

[12] Hoyer: Diesseits der Mauer, Vgl. dazu verschiedene Rezensionen vor allem mit Ilko-Sascha Kowalczuk, auch: Interview Stefan Lockes mit Demselben: „Ich bin nun mal diktaturgeschädigt“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 21. Main 2023.

 

[13] Hoyer: Diesseits der Mauer, S. 148. Die folgenden kritischen Äußerungen stehen Ebenda, S. 151, 188, 197, 270.

 

[14] Ebenda, S. 488.

 

[15] Pötzl, Norbert F.: Eine ganz kommode Diktatur, in: Süddeutsche Zeitung, 4. Mai 2023.

 

[16] Kuschel, Franziska: Zu bunt geraten: Es ist richtig, die Erfahrungen der Menschen in der DDR ernst zu nehmen; Aber es ist falsch, dafür die Vergangenheit zu beschönigen, in: DER SPIEGEL, 13. Mai 2023.

 

[17] Rabe, Anne: „Wut hilft da nicht weiter“, in: DER SPIEGEL, 20. Mai 2023. Dabei bezog sie sich auf ihr eigenes Buch: Die Möglichkeit von Glück. – Stuttgart, 2023.

 

[18] Eger, Christian: Endlich sorgenfrei: Historikerin Katja Hoyer erfindet das Bild einer glücklichen DDR-Gesellschaft, in: Mitteldeutsche Zeitung, 23. Mai 2023.

 

[19] Hoyer: Diesseits der Mauer, S. 147.

 

[20] Rennefanz, Sabine: Wieder den DDR-Hass, in: DER SPIEGEL, 12. Mai 2023. Auch: Segert, Dieter: Die Sehnsucht nach einem Sinn: Was hat Katja Hoyer falsch gemacht, dass sie so harsch attackiert wird?; Nichts, in: NEUES Deutschland, 25. Mai 2023.

 

[21] Bohr, Felix: Geschichte zum Wohlfühlen, in: DER SPIEGEL, 20. Mai 2023.