Rezension zu Oschmann und Hoyer

Von Eckhard Jesse

Dirk Oschmann: Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung, 5. Aufl., Berlin 2023, 222 S. (UIlstein).

Katja Hoyer: Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990, 4. Aufl., Hamburg 2023, 576 S. (Hoffmann und Campe).

 

Zwei diesjährige Bücher zur DDR, die schnell auf die Bestsellerlisten des „Spiegel“ kletterten und innerhalb kürzester Zeit gleich mehrere Auflagen erlebt haben, ohne dass ein „Jubiläumsjahr“ vorlag oder ein spektakuläres Ereignis passierte, sind ein Politikum: Dirk Oschmanns „Der Osten“ und Katja Hoyers „Diesseits der Mauer“. Die Werke fallen ähnlich und doch höchst unterschiedlich aus. Ähnlich deshalb, weil der Tenor in eine ähnliche Richtung zielt: Der Text wirbt jeweils um Verständnis für die Menschen im Osten des vereinigten Landes. Unterschiedlich deshalb, weil Hoyer ihre Sicht auf den damaligen Alltag richtet, während Oschmann die Zeit nach der Einheit in den kritischen Blick nimmt. Kommt bei Hoyer diese Zeit kaum vor gilt Gleiches bei ihm für die Jahrzehnte davor. Beide – das mag ein Zufall sein – haben an der Universität Jena studiert, freilich zeitversetzt und unterschiedliche Hauptfächer.

            Dirk Oschmann, Jahrgang 1967, gebürtiger Thüringer, der seit 2011 an der Universität Leipzig Neuere deutsche Literatur lehrt, hatte am 4. Februar 2022 in der FAZ unter dem Titel „Wie sich der Westen den Westen erfindet“ einen Gastbeitrag zur Diskursmacht des Westens veröffentlicht. Da dieser hohe Wellen schlug, entstand daraus nun eine Schrift: Der Autor artikuliert in neun Kapiteln sein Unbehagen über die anhaltende Hegemonie des Westens auf den unterschiedlichsten Gebieten, der Justiz, den Medien, dem Militär, der Wirtschaft, der Wissenschaft. West-Professoren hätten den eigenen Nachwuchs mitgebracht und somit jungen Ostdeutschen den Qualifikationsweg in die Wissenschaft verbaut. Stimmt folgende These in ihrer Pauschalität: „Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall hat sich an dieser Situation nichts geändert, denn bekanntlich rekrutieren Eliten in Form eines strukturellen Nepotismus ihren Nachwuchs aus den eigenen Netzwerken“ (S. 68).

            Oschmanns Klagelied richtet sich gegen die vielfältige Vernachlässigung des Ostens. Der Westen gelte als Maßstab, der Osten als Abweichung davon. Da ist Wahres dran: Zum einen war dies berechtigt, jedenfalls anfangs, zum anderen, in späterer Zeit, nicht mehr. Allerdings greift der Verfasser gerne zu Extrembeispielen, er baut also einen Popanz auf, wenn sich gegen die Thesen von der DDR als Kolonie gewehrt wird. Für ihn läuft Kritik an „dem“ Westen auf kein Plädoyer für den Osten hinaus. In der Tat gilt die DDR ohne Wenn und Aber als „ein Unrechtsstaat“ (S. 176), der keine Träne nachgeweint wird. Der Autor vermisst eine neue gemeinsame Verfassung und eine neue gemeinsame Hymne, „statt die von den ersten Strophen chauvinistisch verseuchte beizubehalten“ (S. 52). Oschmann, ein bekennender Wähler der Grünen seit 1990, „obwohl sie gegen die Wiedervereinigung waren, was ich ihnen bis heute übelnehme“ (S. 43), erwähnt eine Reihe von Beispielen aus dem eigenen Leben als Beleg zur Untermauerung seiner Sichtweise. In einem Fall ist Widerspruch wahrlich nicht angesagt: Hatte Oschmann in der DDR die Überprüfung auf ideologische Zuverlässigkeit gestört, so regen ihn heute Fragen zur Diversität bei Stellenbesetzungen auf. „Es ist nichts weiter als ein leeres Ritual moralischer Selbstermächtigung, mit dem sich die jeweils eingesetzte Kommission ein gutes Gefühl gibt und mit dem sich die Institutionen den Anschein ethischer Avanciertheit, Reflektiertheit und Höherwertigkeit zu geben bemühen“ (S. 175).

Die Schrift, die maßlos übertreibt, und im Grunde weiß dies der Autor, der zu provozieren sucht, ist nicht frei von Wiederholungen, so dass sich manches im Kreise dreht. Vielleicht wäre es deswegen besser gewesen, mehr Lösungsmöglichkeiten für die wahrgenommenen Defizite zur Sprache zu bringen. So wirkt die Argumentation etwas fatalistisch. Der Schluss trifft ins Schwarze: „Man könnte überhaupt aufhören, das unfaire und idiotisch binäre West-Ost-Schema zu bedienen, das ich hier zwangsweise selbst noch einmal vorgeführt habe, und stattdessen das ganze Land im historisch gewachsenen Reichtum seiner unterschiedlichen Regionen, Dialekte und Kulturlandschaften sehen und zugleich als eigentliches Zukunftspotenzial ernst zu zunehmen beginnen“ (S. 200). Eben! Niemand – einen „Zwang“ jedenfalls gab es nicht – hat Oschmann gezwungen, „das unfaire und idiotisch binäre West-Ost-Schema zu bedienen“.

            Katja Hoyer, geboren 1985 in Brandenburg und schon länger in London Geschichte lehrend, schildert in neun, chronologisch gegliederten Kapiteln die Geschichte der DDR – allerdings ist es keine “neue Geschichte der DDR“, so aber der Untertitel. Die Stärke des Werkes: das Verknüpfen der Alltagsgeschichte einzelner bekannter und weniger bekannter Personen mit der „großen Politik“. Das Buch, ausgesprochen lebendig und bildhaft geschrieben, zeichnet die Schicksale bekannter und unbekannter Personen nach. Gewiss, über die Auswahl der Sachverhalte lässt sich immer streiten – so irritiert die unterproportionale Gewichtung der Bürgerrechtler, die den „Realsozialismus“ herausforderten. Deren Sichtweise dürfte nicht die der Autorin widerspiegeln. Hoyer wollte offenkundig keineswegs erneut das Bild vom „Stasi-Staat“ revitalisieren, dominierte doch im ersten Dezennium nach dem Ende der DDR das Bild vom „Stasi-Staat“ als eine Reaktion auf die Vernachlässigung der repressiven Elemente in den 1979er und 1980er Jahren. In den letzten Passagen des Werkes finden sich manche Faktenfehler und Ungereimtheiten. Woher weiß Hoyer, dass „die Mehrheit der Ostdeutschen 1988 weder die Abschaffung des Staates wünschte noch von einer baldigen Wiedervereinigung mit den Westen träumte“ (S. 488) und 1989 die „meisten Ostdeutschen […] nicht [auf] den Zusammenbruch des Staates“ (S. 501) hofften? Wurden erst durch die verhärtete Haltung der Obrigkeit auch Personen, die „nicht offen politisch waren, zunehmend unzufrieden“ (S. 506)?

Eine Apologie der ostdeutschen Diktatur ist gleichwohl nicht entstanden, wiewohl die Begründung für das Buch irritiert: „Jetzt ist es endlich an der Zeit, einen neuen Blick auf die DDR zu wagen. Wer dies mit offenen Augen tut, wird eine bunte Welt entdecken, keine schwarz-weiße. Es gab Unterdrückung und Brutalität, ja, aber auch Chancen und Zugehörigkeit. […] Die Bürger der DDR lebten, liebten, arbeiteten und wurden alt“ (S. 23). Was ist an derartigen Befindlichkeiten der Menschen erwähnenswert oder gar neu? Und wenn der LDPD-Politiker Carl Klußmann 1957 in der DDR-Presse erklärte, es sei die Pflicht „für jeden Menschen in der Deutschen Demokratischen Republik, sich zu diesem Staat zu bekennen“ (S 149), folgerte Hoyer daraus, es sei „also für einen liberalen Politiker möglich [gewesen], innerhalb der SED-Diktatur einen sinnstiftenden Platz zu finden“ (S. 149). Aber war Klußmann ein Liberaler – und überhaupt überzeugt von den Floskeln?

Manche Einschätzung, etwa zum Neutralitätsangebot Stalins von 1952, das sich entgegen der Annahme Hoyers nicht an Konrad Adenauer richtete, fällt einigermaßen kühn aus. Die Deutschen in Ost und West hätten damals die Wiedervereinigung unterlaufen, wobei es doch sonst heißt, sie seien Teil eines weltpolitischen Machtspiels gewesen [gewesen], in dem sie zunächst Figuren waren, die von den Sowjets und den Amerikanern nach Bedarf eingesetzt oder geopfert wurden“ (S. 220). Eine Schwäche: Die Autorin wirft der DDR-Führung in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre mangelnde Reformbereitschaft vor. Aber eben diese Abwehrhaltung war aus Sicht der Herrschenden notwendig, um einem Systemzerfall vorzubeugen. Honecker dachte weitsichtiger als Gorbatschow. Wenn Oschmann Heinrich August Winkler „Westalgie“ (S. 187) vorwirft, muss „Ostalgie“ erst recht für Hoyer gelten.

Der Erfolg der beiden Werke beim (Ost-)Publikum – Oschmann argumentiert emotionaler, Hoyer abgeklärter – ist kein Indiz für ihre Wissenschaftlichkeit, aber eines für das Rumoren in Teilen Ostdeutschlands, mehr als eine Generation nach dem Ende der DDR. Die jeweils gut komponierten, weil mit eingängigen Beispielen anschaulich ausgestatteten Publikationen kommen einem „Stich ins Wespennest“ gleich. Oschmann zielt gegen die Arroganz des Westens, Hoyer auf eine Aufwertung der DDR. Offenbar fühlt sich mancher „Ossi“ noch immer fremd im eigenen Land – die politische Kultur in Ost und West weicht bekanntlich nach wie vor voneinander ab. Wenn Menschen 40 Jahre lang in zwei politisch und gesellschaftlich unterschiedlichen Systemen gelebt haben, kann dies vielleicht nicht anders sein. Bei aller Kritik an Versäumnissen und Verletzungen, wie sie die beiden Autoren zur Sprache bringen: Ein einheitliches Deutschland in Freiheit ist ein Glücksfall der Geschichte. Die DDR war niemals lebensfähig Und die Frage, ob jemand demokratische Positionen akzeptiert oder nicht, ist allemal wichtiger als die Haltung im (tatsächlichen oder vermeintlichen) Ost-West-Konflikt, der mit zunehmender Zeit immer weniger Emotionen hervorrufen dürfte. Gleiches gilt für die DDR-Geschichte.

Dass die beiden Werke, die sich thematisch ergänzen, zu solchen Erfolgen avancierten, muss zunächst einmal verwundern. Neues wird im Kern nicht geboten. Die jeweils lebendige Art der Präsentation gefällt, auch wenn sie in ihrem Schwarz-Weiß-Denken mitunter reichlich plakativ anmutet und dadurch Bestätigung hervorruft. Vielleicht erklärt sich das große Interesse des (Ost-)Publikums mit dem Eindruck, hier werde westlicher Deutungshoheit der Marsch geblasen.