Kreisau – ein Gedenkort des europäischen Widerstands für die Auseinandersetzung mit Herausforderungen der Gegenwart

von Peter Steinbach[1]

 

„Kann man das Vergangene erkennen, wenn man das Gegenwärtige nicht einmal versteht? –Und wer will vom Gegenwärtigen richtige Begriffe nehmen, ohne das Zukünftige zu wissen?  Das Zukünftige bestimmt das Gegenwärtige und dieses das Vergangene.“  Johann Georg Hamanns 

Ein der wegweisenden Gedenkstätten deutscher Geschichte befinden sich in Kreisau, nahe Schweinitz, auf polnischem Staatsgebiet. Im Unterschied zu vielen Gedenkorten, die sich auf dem Bundesgebiet befinden, ist Kreisau als ein authentischer Ort deutscher Erinnerungen im Ensemble der Gedenkorte, die sich mit den beiden deutschen Diktaturen auseinandersetzen, eher randseitig wahrgenommen worden, obwohl Besucher, die Auschwitz besuchen, ohne große Umwege über Kreisau reisen könnten.

Im kommenden Frühjahr wird in Kreisau an die Geschichte des europäischen Widerstands erinnert werden. In diesem Zusammenhang versuche ich mit meinem Beitrag die Problematik und die Bedeutung von Schloss und Gut Kreisau als einen authentischen Erinnerungsort zu beschreiben. Die Auseinandersetzungen zwischen Diktaturen und Demokratien prägten nicht nur das vergangene, sondern bereits auf eine bisher kaum vorstellbare Weise das 21. Jahrhundert und machen deutlich: Dieses Spannungsverhältnis bleibt auch weiterhin eine Grundvoraussetzung historisch-politischer Bildungsarbeit. In diesem Beitrag geht es darum, Kreisau als einen authentischen Erinnerungs- und Gedenkort stärker in das Bewusstsein zu rücken. Ende März wird dort eine Tagung über den europäischen Widerstand stattfinden, die an die zurückliegende Erschließung Kreisaus als einen Erinnerungsort der deutschen und polnischen Geschichte anknüpft.

Kreisau als Brennspiegel politischer Selbstermächtigung

Eine der wichtigsten deutschen Widerstandsgruppen, als deren geistiges und politisches Zentrum Kreisau gilt, hat die Vorstellungen deutscher Regimegegner von der deutschen und europäischen Neuordnung nachhaltig beeinflusst und stellt den vielleicht bedeutendsten Beitrag der deutschen Geschichte zum Widerstands- und Menschenrechtsdenken dar. Sie hat sich seit Sommer 1940 um den Freundeskreis von Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg gebildet und lässt wie in einem Brennspiegel, ein Grundproblem des 20. Jahrhunderts sichtbar werden. Denn es geht nicht nur um Konturen der Neuordnung, sondern auch um die politisch-ethische Fundierung des Gemeinwesens und die politische Moral ihrer Bürger. Im Zentrum der Überlegungen und Diskussionen steht die Frage, wie sich die Autonomie des Individuums im Spannungsverhältnis von Staat, Wirtschaft, Kultur und Kirche bewahren lässt. Dabei geht es in der Auseinandersetzung mit dem NS-Staat immer auch um die Grundlagen menschlichen Verhaltens in einem feindlichen, rechtswidrigen, menschenverachtenden System.

Wie aber, so ist seitdem immer wieder zu klären, lassen sich die Distanzierung von Individuen und Gruppen Gleichgesinnter von den Sog- und Zeitströmungen, von Zeitgeist und „Zeitpolyp“ erreichen? Wie schafft sich der einzelne Mensch in den mit Gleichgesinnten geführten Diskussionen die notwendige Grundlage vertrauensvoll geführter Auseinandersetzungen? Wie nimmt man Sogströmungen der Zeit wahr und praktiziert Handlungsweisen, die totalitären Systemen nicht nur eine Grenze weisen, sondern auch Alternativen entwickeln? Die Diskussionen zeigen ein Ringen um Positionen, die in der Zukunft wirksam werden sollten. Es ging um das Danach und zugleich um die Bewältigung der Gegenwart, um menschliche Bewährung und Fundierung einer Grundlage neuen Zusammenlebens. In den Diskussionen ging es, wie das Ende der meisten Mitglieder dieses oppositionellen Kreises ethisch anspruchsvoller und moralisch unbedingt Handelnder zeigt, um existentielle Bedrohungen, um Leben und Tod, um alles.

Deshalb ist „Kreisau“ schließlich seit den achtziger Jahren zu einem Ort grundsätzlichen Nachdenkens, zu einem Erinnerungs- und Gedenkort geworden, über die Ziele und Zwecke des Staates und Europas, um Formen und Inhalte menschlichen Zusammenlebens in einem Spannungsverhältnis, das durch die gegensätzlichen Pole Staat und Individuum, Wirtschaft und Kultur, Kirche und Bildung bestimmt wird.

Zugleich geht es um Europa, denn die Grenzen von Nationalstaaten, Konfessionen, sozialen Schichtungen und Parteigrenzen werden bewusst ausgelotet und überschritten. Kreisau, das ist ein Hauptort europäischer Geschichte, der Polen und Deutschland verbindet und so Ausdruck eines neuen politischen Nachbarschaftsverhältnisses ist, das ebenbürtig neben dem zweiten politischen Wunder der Nachkriegszeit steht: der Neugestaltung des deutsch-französischen Verhältnisses.

Im Folgenden geht es darum, den europäischen Gedächtnis- und Erinnerungsort Kreisau, eines wichtigen Verbindungsgliedes zwischen Polen und Deutschland, in seiner Bedeutung für eine in die Zukunft tragende grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Widerstand in den europäischen Diktaturen zu verstehen. Denn inzwischen hat es sich als Illusion erwiesen, nicht weiterhin von dem fundamentalen Gegensatz auszugehen, den Diktaturen im Vergleich mit den Verfassungsstaaten darstellen, der sich zu Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, zu Grundrechten und Minderheitenschutz bekennt. Immer geht es in politischen Auseinandersetzungen darum, Ziele und Grenzen des Staates zu bestimmen. Deshalb können Gedenkorte dazu dienen, im Nachdenken über politische Grenzsituationen, die jeder Diktatur inhärent sind, die Konturen einer menschenwürdigen Neuordnung neu zu justieren, um politische Zivilität als Grundlage unverzichtbarer politischer Zivilisation spürbar zu machen.

Diktatur und Demokratie: Kennzeichen des Jahrhunderts

Lässt sich das 20. Jahrhundert nicht als ein immer wieder unternommener Versuch deuten, mit diktatorischen Mitteln und inneren Feindschaftserklärungen neue Gesellschaften zu schaffen? Zeichnet es sich nicht durch den Willen Mächtiger aus, Traditionen zu zerstören, Wahrnehmungen zu verändern, politische Maßstäbe abzuschaffen, um im Zuge einer diktatorisch gelenkten angeblichen Revolution eine „neue Gesellschaft“ zu erzeugen? Deren Voraussetzung ist ein „neuer Mensch“, das Produkt manipulierender Erziehung gegen Tradition und Geschichte. Dient deshalb, so muss weiter gefragt werden, etwa die Erziehung in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts nicht zunehmend weniger der Bildung, „richtet“ sie stattdessen nicht immer vor allem Menschen „ab“: für den Staat und dessen angebliche Zukunft, für das Volk, das Reich, die sozialistische Gesellschaft, den Markt und die Herrschaftssicherung? Verfolgt Erziehung schließlich nicht ganz offen das Ziel, neue Werte durchzusetzen, die rückblickend oft nur als eine „Maskerade des Bösen“ (Dietrich Bonhoeffer) erscheinen?

Der Versuch, mit diktatorischen Mitteln und inneren Feindschaftserklärungen neue Gesellschaften zu schaffen, steht in einer Kontinuität der Ausgrenzung, Entrechtung, Diffamierung und Verfolgung, die viele Herrschaftsordnungen charakterisieren. Der aus vergangenen Jahrhunderten bekannte „innere“, auf innenpolitische Gegner gerichtete, Kampfkurs steigert sich in Diktaturen zum Verfolgungsexzess, denn Diktatoren müssen die Massen ständig in Bewegung halten, die Menschen mobilisieren, indem sie ihre Wachsamkeit gegen Feinde fordern.

Hier wird deutlich, dass der „innere Kampfkurs“, der sich in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts mit wachsender Intensität und immer wieder gegen innere Gegner gerichtet hatte, in enger Verbindung mit dem 19. Jahrhundert steht. Bismarck, ein Repräsentant des 19. Jahrhunderts, hatte die Technik des „inneren Kampfkurses“ hoch entwickelt. Immer wieder hatte er neue Staats- und Reichsfeinde benannt und das Deutsche Reich politisch durch die Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen integriert: gegen ultramontane Katholiken, gegen die Linksliberalen, gegen internationale Sozialdemokraten, die „Reichsfeinde“ schlechthin, gegen Welfen, Dänen, Polen, französisch sprechende Elsässer und Lothringer, schließlich gegen die deutschen Juden. Immer hat sich das politische Selbstverständnis der Deutschen gegen andere gerichtet, wurde die deutsche Gesellschaft dadurch integriert, dass sie von gouvernementaler Seite aufgefordert wurde, Stellung zu ihren Parolen zu beziehen, ohne in der Regierung ein Instrument ziviler Gesellschaft zur Selbstregierung durch die staatliche Administration zu sehen.

Wenn eine Gesellschaft immer wieder durch Regierungsparolen mobilisiert werden kann, liefert sie sich denjenigen aus, die sie regieren. Konflikte werden dann inszeniert, um die Massen zu bewegen und hinter der politischen Führung zu scharen. Bald geht es nicht mehr um Führung, sondern um Verführung, denn die Mobilisierung und geistige Lähmung ist das wichtigste Ziel derjenigen, die ihre Macht nicht in Frage stellen lassen wollen. Dabei hilft ihnen die Verwandlung von Konflikten in Kontroversen, die mit Schlagwörtern ausgetragen werden.

Die Realität - eine Herausforderung

Schlagwörter grenzen dann aus und verblenden. Wir erfahren das aufs Neue, wenn wir Putins Rechtfertigung seines Angriffskriegs bedenken. Schlagwörter verkleiden überkommene Maßstäbe, maskieren sie. Gelungene politische Maskeraden führen in den Massenwahn, in die Bereitschaft, dem zu folgen, der zur Verwirrung der Urteilsgründe und zur Zerstörung des Urteilsvermögens beigetragen hat. Blinde Nachfolgebereitschaft macht Zeitgenossen nicht selten wehrlos, widerstandslos, feige.

Nur im Märchen ist diese Verblendung harmlos, so harmlos wie in Christian Andersens Märchen von des Königs neuen Kleidern. In der Wirklichkeit geht es bei der Kritik an Herrschern bald um Leben und Tod. Im Märchen wird der König betrogen und zum Gespött seiner Untertanen. Das ist nicht furchterregend, nicht einmal moralisch empörend. Denn die Dummheit der Herrschaft soll bestraft werden, und sei es durch Lächerlichkeit. Wie die Geschichte Andersens letztlich ausgeht, wissen wir nicht, und schon gar nicht können wir angeben, wie der König auf seine Entlarvung reagiert. Was macht er mit seinen feigen und deshalb falschen Beratern, was mit den angeblichen Feinwebern und Schneidern, was mit den Menschen auf der Straße, was mit dem Kind?

Die Erzählung aus der Feder von Hans Christian Andersen zeigt: Blindheit ist eine Folge von Eitelkeit und Dummheit. Der wirklichkeitsfremde Herrscher wirkt lächerlich; er amüsiert die Nachlebenden und verstärkt ein Gefühl ihrer Überlegenheit. Unser Jahrhundert zeigt jedoch: Nur im Märchen ist der Untertan kein Unterworfener. Ein aufmüpfiger Witz zur falschen Zeit, vor Denunzianten, eine aufrichtige Äußerung vor Ohren, denen man nicht vertrauen kann, war nicht nur in unserem Jahrhundert lebensgefährlich, nicht selten tödlich.

Unterhaltsam ist die Geschichte, die Andersen überliefert, keineswegs. Die Beklemmung des Lesers wächst mit der zunehmenden Verblendung der Untertanen. Sie übernehmen die Ansichten derjenigen, die den König angeblich bekleiden, folgen den Scharlatanen, fragen nicht, orientieren sich an den Fehlurteilen ihrer Nächsten. Suggestiv bringen die Scharlatane selbst diejenigen auf ihre Seite, die es besser wissen müssen − Minister, Ratgeber, hohe Herren. Diese bewegen sich im Dunstkreis des Herrschers und streben nach Vorteilen, vor allem, um Karriere machen und das Erreichte zu behaupten. Je höher die Position, desto stärker die Selbstlähmung durch Ausschaltung der Vernunft, durch Selbstblendung.

Ein Kind ist es schließlich, das die Selbstlähmung zerstört und den Blick für die Wirklichkeit freimacht. Das ist kein Zufall. Denn ein Kind steht nicht im Zentrum der Macht. Es denkt nicht an seine Karriere und ist deshalb unabhängig, frei, spontan, furchtlos. Nicht aus dem Zentrum der Macht erfolgt die Befreiung von verblendeten Herrschern, sondern dort, wo man sich deren Zwängen und Versprechungen zu entziehen weiß: außerhalb des Sperrkreises, unten, im Schutz der Bevölkerung, die nicht mehr jubelt, sondern, wie die Opposition der belarussischen Frauen zeigte, Empowerment nicht als Lebensstil, sondern als Reaktion auf Unterdrückung, Verblendung, Disziplinierung und Einschüchterung praktiziert.

Das gilt auch im 20. Jahrhundert, das wie kein anderes durch Diktaturen geprägt worden ist. Dennoch ist dies nicht die ganze Aussage. Denn wir dürfen uns nicht noch nachträglich in den Bann der diktatorischen Herrscher begeben. Ebenso bestimmend sind im 20. Jahrhundert jene, die den Herrschern standhalten und sich nicht den Blick auf die Realität, auf das was ist, verstellen lassen. Sie haben einen wachen Blick für das, was sich ereignet. Sie schauen nicht weg, sondern genau hin. Sie haben die Fähigkeit, sich zu empören. Deshalb entscheidet sich ihr Leben durch ihre Aufrichtigkeit. Sie reden sich nichts ein, machen sich nichts vor, beruhigen sich nicht − kennzeichnend ist ihr Mut zum Widerspruch.

Dies ist die Voraussetzung für weitere Fragen: Was soll sein? Was kann ich tun? Woran kann ich mich orientieren angesichts kollektiver Verblendung, wenn nicht an mir, an der Stimme in mir, an meinem Gewissen? Trägt das denn wirklich, und trägt es mich, ganz allein, in der Einsamkeit, die nicht einmal die Deckung kennt? Dieses Fehlen jeglicher Deckung macht den Regimegegner zum einsam Handelnden, zu dem Individuum, das jenseits von „Masse und Macht“ steht und sich nur auf einen kleinen Kreis Vertrauter verlassen kann und will, und zuweilen nicht einmal das.

Widerstand gegen die Ausschaltung des Kritikvermögens

Die Gegenspieler der Eigensinnigen und Widerständigen, die Diktatoren, fürchten nichts so sehr wie eigenständige Urteilsbildung. Deshalb schalten sie das Kritikvermögen aus. Sie hämmern ihren Zeitgenossen ihre Parolen ein: „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ − „Der Jude ist unser Unglück“ − „Der Slawe ist ein Untermensch“. Sie beschwören die Homogenität, nicht die Pluralität: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“. Und sie bemühen die Geschichte, konstruieren ihren Sinn, machen die Vergangenheit zur Ideologie, zum Politikum, setzen Politik an die Stelle der Moral, des Glaubens, der Gewissensbindung.

So verschieben sie die Maßstäbe, verbiegen die Koordinaten der politischen Moral, und die Neigung zum Selbstbetrug tut ein Übriges. Lebenslügen mutieren zu unauflöslichen Gespinsten, private Orte werden zum Ziel des Rückzugs in Nischen, weniger zu Zufluchtsorten als zu Ausflüchten, wie die betrügerische Formel von der „sauberen Wehrmacht“ als ein Ort der inneren Emigration; wie der angebliche „Befehlsnotstand“, die angeblich allgegenwärtige Gestapo und ihr Terror, die Erklärung persönlicher Gefühllosigkeit als Rücksicht auf die eigene Familie.

Angesichts der Neigung der „moralisch Anspruchslosen“, wie Theodor Heuss sie Anfang der 50er Jahre bezeichnete, also jener Genügsamen, die es immer gab und die in der Regel diktatorische Systeme überleben, haben es die Widerständigen schwer. In der Regel scheitern sie historisch. Sie können das Blatt nicht wenden. Kein Diktator unseres Jahrhunderts wird durch ein Attentat ausgeschaltet. Das maskierte Böse triumphiert − durch Gewalt.

Auch Stauffenberg und Tresckow kommen im nationalsozialistischen Deutschland nicht an ihr Ziel. Aus dem Anschlag gehen Hitler und Himmler gestärkt hervor. Viele Deutschen sehen die Vorsehung wirken, weil Hitler unversehrt einen Anschlag überlebt, der andere Menschen tötet, wie fünf Jahre zuvor beim Anschlag von Johann Georg Elser, eines Schreiners aus dem Württembergischen. Er hatte im Münchener Bürgerbräukeller, wo Hitler zu seinen alten Kämpfern spricht, jene Tat gewagt, die fast zum Ziel führte. Vielleicht stärken Anschläge immer wieder Diktatoren. Jedenfalls ist der stärkste Mann am 21. Juli 1944 Heinrich Himmler, denn er wird zum Befehlshaber des Ersatzheeres ernannt. Er führt den Hitlergruß in der Wehrmacht ein, als erste Reaktion auf den Anschlag vom 20. Juli 1944 mehr als ein Symbol. Die Unterwerfung des Militärs unter die Partei des Rassen- und Weltanschauungskrieges ist nun endgültig vollzogen − nun stehen selbst die meisten derjenigen, die es besser wussten und weiterhin wissen, zur Fahne, die das Hakenkreuz trägt, nicht selten bis über den 9. Mai 1945 hinaus.

Dies haben sich die Regimegegner nicht vorstellen können, so sehr ihnen bewusst war, was sie riskierten, so deutlich sie sahen, dass ein Scheitern möglich war. Sie wussten: Nicht die Uniform legitimierte sie, sondern ihr Gewissen − Instanz der letzten, der unbedingten Freiheit. Es blieb das Gefühl, das Richtige getan zu haben, weil man es tun musste, und die Genugtuung, den Peinigern die Wahrheit in das Gesicht zu sagen, vor den Schranken des Gerichtes: „Ich dachte an die vielen Morde...“

So stellen sie auf ihre Weise die Öffentlichkeit her, welche die totalen Herrscher fürchten. Sie vertrauen darauf, dass sich Menschen anders verhalten, wenn sie die Wahrheit kennen, und ihre Probleme − und Widrigkeiten in der Wirklichkeit − diskutieren. Um sie zu überzeugen, schreiben sie Flugblätter und Wandparolen, verbreiten handschriftlich vervielfältigte Karten oder versenden, wie die Mitglieder der „Weißen Rose“, tausendfach Flugblätter. Sie setzen auf Überzeugung, auf Vernunft, auf Empörungsfähigkeit der Zeitgenossen − und in dieser Hinsicht bewahrten sie sich ein Grundvertrauen in den Anderen, das dem Misstrauen gegenüber Herrschenden entsprach. Dass sie diese Grundüberzeugung täuschte, dass sie auch dann allein blieben, wenn sie den anderen die Wahrheit sagten, sich vielleicht sogar gerade dadurch isolierten, das war ihre eigentliche Tragödie.

Verachtet zum Zeitpunkt ihrer Verurteilung und Hinrichtung, ereignet sich erst nach dem Ende des bekämpften diktatorischen Systems ein Wandel, erinnern sich die Nachlebenden an die, die unter entwürdigenden Bedingungen den Anspruch auf die Zukunft artikulierten, die über das Ende diktatorischer Regime hinaus denken konnten, noch auf dem Schafott. „Freiheit“ − das war das letzte Wort von Hans Scholl.

Anerkennung des Widerstands nach dem Ende der Diktaturen

Die Einbeziehung der Erinnerung an den Widerstand gegen Diktaturen braucht in postdiktatorischen Gesellschaften allerdings Zeit. Denn bestimmend bleiben die Angepassten, die keinerlei Interesse haben können, vor aller Welt einzugestehen, dass es zur Anpassung eine Alternative gab. Dass es Zeitgenossen gab, die sich der Realität weder anpassten noch ihr unterwarfen, sondern genau hinschauten.

Die historisch gescheiterten Widersetzlichen können nachdiktatorische Verhältnisse erst posthum, in der Erinnerung der Nachlebenden, durch deren Gedenken, beeinflussen. Denn geehrt wurden Regimegegner erst später, durch Straßennamen, Denkmäler, Briefmarken, Gedenkstätten. Auch diese Entwicklung verläuft unter schwierigsten Bedingungen, denn die Mitläufer, die Angepassten erklären den Nachlebenden zunächst ihre Sicht der Diktaturgeschichte in der Weise, die ihr Fehlverhalten erklärt.

Allein der Zug durch die Generationen verschafft die Spielräume neuer Deutungen und Zugänge. In der Regel können die Gegner diktatorischer Systeme erst über den Tod hinaus einen Rest der Eigenständigkeit des Menschen wahren, der im 20. Jahrhundert wie niemals zuvor totalitären Tendenzen ausgesetzt war.

Damit wird aber auch deutlich, dass dieses Jahrhundert nicht nur durch große Zerstörer geprägt worden ist. Ebenso prägend waren jene, die denen standhielten, welche das Böse maskierten, wie Bonhoeffer sagte, als der Menschen, die das Böse durch ihre Widerständigkeit demaskierten. Sie orientierten sich dabei an Traditionen und Werten, Handlungsmustern und Vorstellungen, denen ihre Gegenspieler bei ihrem Versuch, eine neue Gesellschaft zu schaffen, den Kampf angesagt hatten.

Die entscheidende Frage bleibt allerdings angesichts der ungebrochenen Neigung zur Anpassung, zum Wegschauen, zum Schweigen: Wie erklärt sich die Empörungsfähigkeit des Widerständigen? Woher nimmt der Regimegegner die Kraft, seinen Weg zu gehen, sich nicht zu beklagen? Er lebt nicht ohne Bindung, im Gegenteil. Denn er verpflichtet sich auf Maßstäbe, auf Grundsätze der Wahrhaftigkeit, auf Eindeutigkeit als Voraussetzung des Mutes, der in der Auseinandersetzung mit der Gegenwart in eine Einsamkeit führt, die als der richtige, der angemessene, als der einzig mögliche Ort erscheint.

Deshalb noch einmal: In der Regel unterliegen diese Widerständigen ihren Gegnern nur äußerlich − in der Realität eines Zwangs − und Unterdrückungsstaat. Innerlich bleiben sie ungebrochen, beugen sich so wenig wie sie sich beklagen, sondern sie richten alle Energien darauf, einen Weg bis an das Ende zu gehen, den sie sich in freier Entscheidung gewählt haben. Immer wieder finden sich ähnliche Formulierungen der Erklärung und Rechtfertigung, der konsequenten Verweigerung bis zur letzten Stunde. Dies macht die Mächtigen machtlos, denn die Voraussetzung ihrer Herrschaft sind Furcht und Angst. Sie können sich nur behaupten, wenn sie ein von jeder Gesetzlichkeit befreites, ein entregeltes, sich keinem Gesetz und keinem Recht unterwerfenden System errichten.

Entregelung des Staates ist ein Kennzeichen der Diktaturen unseres Jahrhunderts. Er reißt den Schutzzaun ein, den Gesetze im Rechtsstaat bieten und bricht der Willkür Bahn, durch die ständige Politisierung des Alltags, durch Ausgrenzung, Diffamierung und Entehrung der Anständigen. In ihrem Widerspruch, der in ihrer Gegenwart verhallt und erst nach der Befreiung von totalitären Systemen Widerhall findet, können sie nachdiktatorische Verhältnisse nicht selten beeinflussen und so einen Rest der Eigenständigkeit des Menschen wahren, der totalitären Tendenzen ausgesetzt ist, die alles, und keineswegs nur Staat und Gesellschaft, sondern auch die Weltsicht und die Weltanschauung, das Denken und Hoffen, beeinflussen wollen.

Ausblick

Nirgendwo sonst lässt sich dies so eindrucksvoll spüren und herausarbeiten wie in Kreisau, dem Ort, an dem in einer die Nachkriegsordnung Europas und deren Grundlagen antizipierenden Weise über das „Danach“ nicht nur nachgedacht und diskutiert, sondern unter Lebensgefahr im Sinne der Prinzipien einer menschenwürdigen Ordnung gehandelt wurde. Das Berghaus in Kreisau wurde so 1942/43 zum geistigen Zentrum europäischen Staatsdenkens in einer Zeit, in der nationalsozialistische Vernichtungsstrategien geradezu als „Ersatzkriegsziel“ der NS-Führung realisiert wurden und Europa zerfiel.

Auch im Zeitalter des Kalten Krieges bewahrte der Ort seine Bedeutung. So wird Kreisau seit den achtziger Jahren zu einem wichtigen Ort der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und damit auch der Zukunftsgestaltung eines Europas, das die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu einem Fundament der Neuordnung macht. Er kann Polen und Deutschland verbinden und zugleich einen wichtigen Beitrag zur Herausbildung einer europäischen Identität leisten.

Das sich aus der historischen Erfahrung ableitende Bewusstsein lebt aus dem Spannungsverhältnis von Erwartungen und Erfahrungen. Diese Einsicht hat der vielleicht wichtigste Historiker des vorigen Jahrhunderts, Reinhard Koselleck, betont. Umsetzen lässt sich das Spannungsverhältnis in die Gestaltung der Gegenwart nur, wenn es uns gelingt, eine Verbindung zwischen den wichtigen Zeitebenen herzustellen, die ebenso unsere Erfahrungen wie auch unsere Hoffnungen umfassen. Dass dieses Spannungsverhältnis nicht aktivistisch instrumentalisiert, sondern selbstkritisch aufgelöst wird, dafür stehen auch Gedenkstätten – und in besonderer Weise an einem authentischen Ort das Schloss der Moltkes, ihr Gut und das von Freya von Moltke zum Austauschort zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft aufgewertete Berghaus in Kreisau.

 


[1] Prof. Dr. Peter Steinbach, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin