Neuer Gedenkort

Potenziale lokaler Gedenkarbeit mit europäischen Perspektiven in Neubrandenburg

Kai Brauer, Júlia Weber, Gerd Teschke

Als U-Haftanstalt (UHA) der Stasi des Bezirks Neubrandenburg wird meist die Töpferstraße in Neustrelitz genannt. Das relativ kleine und alte Gebäude hat eine lange Geschichte. Weniger bekannt ist ihre wesentlich größere moderne Nachfolgerin. 1987 wurde die UHA Neustrelitz aufgegeben und in einen gesonderten Neubau in die Bezirkshauptstadt Neubrandenburg verlegt. Das dortige Gebäude war ein Prototyp: die erste und einzige Stasi-U-Haft in Plattenbauweise. Als modernste Stasi-U-Haft der DDR sollte sie als Musterbau die Unterdrückungspraxis im kommenden Jahrtausend absichern. Gottseidank hat 1989 die Bürgerbewegung dem - auch in Neubrandenburg - ein Ende gesetzt.

Das Gebäude wurde bald nach dem Ende des DDR-Regimes in eine JVA umgewandelt. Seitdem auch die JVA 2018 aufgegeben wurde, steht das Gebäude leer. Die Möglichkeit der Einrichtung einer Gedenkstätte oder andere Formen des Gedenkens hatte die hastige Eingliederung in das bundesdeutsche Strafvollzugssystem faktisch verhindert. Das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern fördert das Gendenken der UHAs in Rostock, Schwerin und Neustrelitz. Die größte und neueste UHA der DDR blieb dem hingegen bislang kaum beachtet. Die Stadtverwaltung hatte bereits mit dem Land Verhandlungen begonnen um die Flächen einer anderen Verwendung zuzuweisen, es wurde von „Sozialwohnungen“ gesprochen. Der Abriss des Gebäudes schien eine ausgemachte Sache zu sein. Indes nimmt die Entwicklung nun seit 2022 eine ganz andere Wendung. Doch der Reihe nach, zu den Fakten, den Legenden, der jüngsten Dynamik und möglichen Perspektiven.

 

  1. Einige Fakten zur UHA Neubrandenburg

Es gibt bislang nur wenige Seiten in einer Publikation von Christan Halbrock zu dem Bauwerk. Bei seiner Studie zur Haftanstalt in Neustrelitz hatte er auch Recherchen zu Neubrandenburg angestellt (Halbrock 2021, S. 61-69) wovon folgendes hier zu bemerken ist: a) Die neue UHA lag innerhalb des Sperrgebietes der Bezirksverwaltung (BV) auf dem Neubrandenburger Lindenberg. Flächenmäßig soll sie die zweitgrößten Stasi-Liegenschaft nach Höhenschönhausen sein und beschäftigte 1.431 hauptamtliche und 5.321 inoffizielle Mitarbeiter. Für einen Bezirk mit einer Bevölkerung von unter 700.000 Personen war schon dies vollkommen überdimensioniert. b) Die UHA versteckte sich in einem gesondert abschirmten Bereich, hinter der Phalanx von Plattenbauten, der BV. Geplant war die Anstalt schon seit 1956, wurde aber erst 1983-86 errichtet (Halbrock 2021:61ff). c) Ausgelegt war sie für ca. 100 Inhaftierte, ließ sich im immer erwarteten Krisenfall aber auf die Dreifache Kapazität erhöhen (Halbrock 2012: 65). Zu den ca. 60 Zellen kommt der direkt angeschlossene Vernehmertrakt, eine Kantine für die Stasimitarbeiter mit eigner Küche, sechs Krankenzimmer, die heute abgerissene Schleuse sowie die ebenfalls abgerissene „Freigangstorte“. Es handelte sich um 12 konisch angeordnete Beton-Zellen, die mit einer Maschendrahtabdeckung nach oben abgeschlossen waren und somit im eigentlichen Sinne „Käfige“ darstellen. Ein zentraler Posten in der der Mitte drüber konnte die zwölf Abteile einsehen. Benthams Idee des Panoptikums ist unschwer zu übersehen. Natürlich wurde das perfide Relikt beim Umbau zur JVA umgehend entfernt, ebenso die typische „Schleuse“ und die Glasbausteinfenster. Auch Inneneinrichtung (Sanitäreinrichtungen eingebaut) wurden verändert. Da aber die Gitter auf den Fluren blieben, wie auch die Zellentüren, ebenso die sehr eigenartigen Stehzellen und sich die DDR-Materialien nicht überall kaschieren ließen, bleibt der Bau vom Eindruck her eine UHA. d) Als neueste und in Plattenbauweise gefertigte UHA wartet sie mit zudem mit „doppelten Wänden“ und hinter den Wänden versteckten Heizungen auf. Allein die Größe und die Art der Architektur mit Halbetagen auf vier Stockwerken wirken erschlagend und verwirrend. Bei Besichtigungen des Gebäudekomplexes wird von den zuständigen Stellen immer darauf hingewiesen, dass der Bau sehr groß und unübersichtlich sei, man sich verlaufen würde. Aber evtl. hängt diese Angst schon mit der Mystik des Ortes zusammen, den Geschichten die sich um ihn ranken.

  1. Allerlei Spekulationen und Mythen

Um die Anstalt ranken sich einige Legenden. Das erste Missverständnis rührt daher, dass die modernste Anstalt – zudem in der Größe –offenbar nicht alleine für Staatsfeinde aus dem eigenen Bezirk geplant war. Da politische Häftlinge des Bezirkes Neubrandenburg auch in den regulären Gefängnissen des Ministeriums des Innern (MdI) auf Kreisebene: in Demmin, Prenzlau und Alt-Strelitz inhaftiert wurden (Halbrock 2012: 75), schien die Größe überregional ausgerichtet zu sein. Die Größe und die moderne Ausstattung musste Seitens der Neubrandenburger Stasi mit überbezirklichen Aufgaben legitimiert werden. Dazu gibt es auch Dokumente. Aber ab hier beginnt das Reich der Mutmaßungen. Es sollen ca. 30-40 Zellen nicht für U-Häftlinge, sondern für „besondere“ Verurteilte der Strafgefangenarbeitskommandos vorgesehen gewesen sein. Halbrock findet in den Unterlagen der BV eine Quelle, in der davon gesprochen wird, dass diese für „ehemalige Angehörige des MfS“, deren Familienangehörige und andere abgeurteilte SED-Funktionäre vorgesehen waren. Sie sollten auf diese Weise eine gewisse Hafterleichterung genießen, da sie damit von anderen Häftlingen separiert wurden (Halbrock 2021: 68, Fn 147). Da die erwähnte Quelle aber undatiert ist, ist nicht ganz sicher, ob die Stasi eine erfolgte Umsetzung beschreibt, oder nur einen gewünschten Plan dazu. Es wurde zur Zahl und „Besonderheit“ der Besetzung der Strafgefangenarbeitskommandos noch nicht publiziert. Angeblich sollten diese Sonderhäftlinge in den angrenzenden Werkstätten Baraks B1000 zu jenen „auffällig unauffälligen“ Gefangenentransportern umbauen, die den meisten von der Stasi drangsalierten in sehr unangenehmer Erinnerung geblieben sein dürften. Wieviel sich davon belegen lässt, ist derweil offen. Aber es wurde mit der Rede von der „Spezialhaftanstalt“, zum bestimmenden Charakter des Bauwerks. Die bisherigen Fakten lassen jedoch darauf schließen, dass vorrangig Aufgaben einer üblichen Stasi-UHA eines jeden Bezirkes den Haftalltag bestimmten. Jeder Bezirk hatte eine Stasi UHA vorzuweisen, die meist den BVen unmittelbar angeschlossen waren. So auch hier. Natürlich ist der neueste und letzte DDR-Knast ein besonders „spezielles“ Bauwerk. Ob es auch Inhaftierte gab, die sonst in Bautzen II mit seinen gesonderten Abteilungen untergekommen wären, müsste noch genauer beschrieben werden.

In der Welt des Klatsches mutierte die Bezirks UHA derweil zu einer mysteriösen „Sonderhaftanstalt“, in der ausschließlich enttarnte Doppelagenten:innen saßen. Damit übernahmen weite Teile der Öffentlichkeit die Eigenwerbung der Stasi-Offiziere über ihr wunderbares Bauvorhaben. Es ist eine besondere Art dialektischer Wendung ist, dass eben jene Rede von der „Spezialhaftanstalt“ heute als Argument gegen das Gedenken an die UHA Neubrandenburg gewendet wird: „Soll an einen Ort erinnert werden, an dem ja eh nur „eigene Genossen“ sonderbehandelt wurden?“. Tatsächlich werden mit solchen Spekulationen Opfer der Stasi mit den Tätern gleichgemacht. Weder die dort inhaftierten (und mittlerweile bekannten) Zeitzeugen, noch die die letzten dort zugeführten Fälle (drei Neustrelitzer Jugendliche, die wegen einem mit Latexfarbe gemalten Hinweis auf die Demonstrationen in Dresden am 8.10. 1989 in die Fänge der Stasi gerieten) können als „ehemalige Spione“ oder „verhaftete Würdenträger“ bezeichnet werden. Sie werden mit der Unterstellung, in den „Genuss der Spezialhaftanstalt“ gekommen zu sein, ein zweites Mal diskreditiert und geschädigt.

Immerhin sprechen seit einiger Zeit wieder die Meisten von der Stasi-Untersuchungshaft oder UHA (auch nicht JVA). Dazu hat sicher die sachliche Publikation von Christian Halbrock beigetragen, der die Besonderheiten des Baus darstellt, aber weiterhin von einer Bezirks-UHA spricht. Auch die Front derer, die mit einem schnellen Abriss jegliche Forschung und Erinnern verhindern wollen bröckelt. Die Stadtverwaltung und ihr Bürgermeister bekunden, seit der Schließung der JVA an einer Aufklärung und angemessenen Erinnerung interessiert zu sein. Das ist spät, aber wird aber durch die Zeit der Zwischennutzung verständlich.

Hieraus speist sich eine zweite Legende. Sie behauptet, dass ein Erinnern an die Stasizeit dort nicht mehr möglich sei, da der Umbau alles Erhaltenswerte vernichtet hätte. Da der Zugang zum Gebäude für die Öffentlichkeit versperrt war, war dies schlechterdings nicht überprüfbar. Nun kommt die Zivilgesellschaft ins Spiel.

  1. Lokale Einnerungspolitiken

Am 24. November 2021 nahmen etwa siebzig Bürger:innen und Expert:innen erstmalig die Gelegenheit wahr, bei einem ersten öffentlichen Gespräch über die Zukunft des Bauwerkes und Möglichkeiten der Erinnerung an DDR und Staatssicherheit in Neubrandenburg1 zu diskutieren. Dieses erste Forum wurde von der Stadt Neubrandenburg, der RAA-Geschichtswerkstatt zeitlupe (RAA MV e. V.) und der Hochschule Neubrandenburg initiiert, dazu Historiker und Vertreter des VOS (Vereinigung der Opfer des Stalinismus) geladen. Damit ist in Neubrandenburg eine Verbindung zwischen Stadtverwaltung, Zivilgesellschaft und Hochschule gelungen, die die kontroversen Positionen zur angemessenen Erinnerungskultur zum Lindenberg und dessen UHA moderiert und fördert. Neben dem VOS und anderen am Thema Interessierten haben sich insbesondere Lehrende der Hochschule für eine wissenschaftlich tragfähige Aufklärung interessiert. Dies schließt eine fortwährende Suche nach Zeitzeug:innen ein, die von 1978-1990 in der UHA auf dem Neubrandenburger Lindenberg festgehalten wurden. Gesucht werden auch deren Angehörige und Freunde, sowie weitere Personen aus der Region, die von der Stasi drangsaliert wurden. In der angeregten Diskussion wurden unterschiedliche Sichtweisen und Positionen deutlicher. Die Vertreter des VOS mahnten eine frühere und bessere Einbeziehung ehemaliger Inhaftierter in die Erinnerungsarbeit der Stadt an. Lauter wurden damit auch Stimmen, die eine Möglichkeit der Begehung des Gebäudes einforderen.

Daraufhin wurde für den 28.06.2022 ein Aktionstag auf dem Gelände anberaumt, damit alle Interessierten das Bauwerk selber in Augenschein nehmen können. Es war die erstmalige Öffnung des Gebäudekomplexes für die allgemeine Öffentlichkeit nach 32 Jahren. Organsiert hatte dies die Abteilung Kultur der Stadt Neubrandenburg, wiederum unterstützt von der Hochschule und der RAA. Die lokale Außenstelle der StUB war mit einem begleitenden Angebot dabei. Die Teilnahme musste beschränkt werden, weil es nach wenigen Tagen schon mehr Interessierte gab, als an dem (angeblich so gefährlichen) Ort betreut werden konnten. Mehr als 1300 Personen hatten sich in dem recht kurzen Zeitfenster vor Ort eingefunden, um die ehemalige JVA zu besuchen und wurden auch von JVA-Mitarbeiter:innen dort geführt. Darunter waren zahlreiche Schüler:innengruppen aus der Region Mecklenburgische Seenplatte und interessierte Bundeswehrangehörige. Die Geschichte der UHA stand nicht im Mittelpunkt, war aber allerorten Diskussionsanlass. Insofern war der erste städtische Aktionstag ein Erfolg.

Der erste Aktionstag fand auch bei der Presse und der lokalen Prominenz ein positives Echo. Der Erfolg lag aber in einem besonderen Ereignis. Es meldete sich nämlich ein Zeitzeuge. Höhepunkt des Tages war seine spontane und sehr berührende und nachdenklich stimmende Suche nach seiner ehemaligen Zelle. Er konnte bei diesem Rundgang den Anwesenden Vieles mehr aus der Zeit vor 1990 erklären, als bislang bekannt war. Zum einen unterschieden sich seine Berichte über die spezifische Verhörpraxis nicht von denen der anderen Zeitzeuginnen aus dieser Epoche in anderen Bezirks-UHAs. So fanden Verhöre auch hier von Morgen bis Abend (außer an Samstagnachmittag und Sonntag) ununterbrochen statt, immer beim gleichen Vernehmer. Ebenso sind die den Nachtschlaf verunmöglichen „Kontrollen“ in 10-15 Minutenabständen hier üblich gewesen und der Versuch der Dislokation, etc. Zum Anderen stellen mehrere Angaben bisheriges Wissen in Frage: a) Besonders untergebrachte „Spezialhäftlinge“ konnte er (und andere U-Häftlinge nicht erkennen). b) Die Stehzellen auf den Fluren wurden nicht dazu verwendet, um die Prozedur „Wegdrehen! Gesicht zur Wand! Weitergehen!“ aufzugeben. Die Funktion bzw. Idee der Stehzellen könnte also auch eine andere gewesen sein.2 c) Die Halbetagen verwirren bei der Zählung der Stockwerke, Inhaftierte werden schwer sagen können, auf welcher Etage sie waren. Aber dies verwirrt im geöffneten Bau nicht so, dass man sich in dem Gebäude verlaufen müsste. Nach kurzer Zeit hatten die Beteiligten eine recht sichere Orientierung, diesbezügliche Ängste konnten ausgeräumt werden. d) Das die Stasi-U-Haft durch den Umbau zu einer JVA 1991 jeglichen Bezug zur ehemaligen Verwendung verloren hätte, kann der Zeitzeuge ebenfalls nicht bestätigen.3 Er sah den Eindruck der damaligen UHA in weiten Zügen erhalten. Die Wirkung sei trotz Umbau so niederschlagend wie früher auch. Auch ohne die Glasbausteine (jetzt durch Fenster ersetzt), die alte Schleuse und die Signalschüre an den Wänden der Gänge, bleibt der Bau bis heute dem Geist Stasi-UHA Neubrandenburg verhaftet.

Die Berichte die er aus seiner Erfahrung bei der darauf hin anberaumten zweiten Forumsdiskussion am 2.11.2022 darstellte4, waren für die Zuhörende erschütternd wie ergreifend. Christian Halbrock hielt einen Vortrag zu dem Bauwerk, das er als einzigartiges Zeugnis der Pläne der Stasi bezeichnete und jeder Hinsicht schützenswert ist. Er regte abschließend an, ein zehnjähriges Moratorium anzuberaumen. Nur dies böte genügend Zeit, um die Verwendung dieses einmaligen, und gut erhaltenen Prototypen der Stasiunterdrückung konzipieren zu können. Dr. Christian Booß wies in der abschließenden Diskussion auf die Größe und Bedeutung des Gebäudes hin, das einerseits nicht einfach zu bespielen wäre, andererseits durchaus eine Sonderstellung als modernste UHA des Ostblocks - vielleicht in ganz Europa hat. Möglichkeiten für Nutzung für Demokratiepädagogik, politische Bildung, auch in Doppel- und Mehrfachnutzung, wurden bereits von der Hochschule Neubrandenburg und Vertreter:innen der organisierten Zivilgesellschaft ins Gespräch gebracht. Auch die benachbarte StUB (Bundesarchiv) wäre an einer musealen Nutzung des Haftgebäudes interessiert. Schließlich gründete sich ein Verein, der sich die Aufgabe gesetzt hat, das Gedenken an die Stasi- und deren U-Haft auf dem Lindenberg zu wahren. Neben dem VOS, der RAA und dem Kulturamt Neubrandenburg ist somit mit dem „Gedenkort Neubrandenburger Lindenberg - Stasi-Untersuchungshaftanstalt e.V.“ getauften Verein ein weiterer Akteur gegen das Vergessen vor Ort tätig.

In Folge der hier beschriebenen Dynamik brachte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ein Antrag für ein fünfjähriges Moratorium im Stadtparlament ein. Dort gab es kurz vor Weihnachten 2022 dazu eine emotional geführte Debatte zum Gendenken und den Erhalt des Ortes. Dagegen standen die Interessen der Bauwirtschaft, vertreten vorrangig durch die neurechten „Bürger für Neubrandenburg“, die gerne einen zügigen Abriss mit dem Land „scharf weiterverhandeln“ wollten. Die PDS („Linke“) zeigte eben sowenig Interesse an dem Moratorium und verlangte eine namentliche Abstimmung. Mitglieder anderer Parteien folgten dem. Dies führte allerdings zu einem – zwar denkbar knappen – aber überraschenden Ergebnis für den Erhalt des Gebäudes im Sinne des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen.

Diese neue Lage ermöglicht der Stadtöffentlichkeit den notwendigen zeitlichen Spielraum, um ein Gedenken zu ermöglichen, dass dem Ort angemessen ist und einer irreversible Vernichtung des Ortes entgegentritt. Die Verhandlungen mit dem Land müssen nun diesem Wählerwillen Rechnung tragen. Werden nun auch Vertreter:innen der Zivilgesellschaft in die - bislang vertraulichen Verhandlungen – einbezogen? Das Moratorium muss in jedem Fall dazu genutzt werden, tragfähige Konzepte für den Gedenkort zu entwerfen, die seiner besonderen Architektur und Geschichte gerecht werden. Auch für die Gedenkarbeit auf nationaler Ebene ist somit ein wichtiges Objekt geschützt und es bieten sich neue Perspektiven für die Forschung.

Aktuell beginnt die Hochschule Neubrandenburg gemeinsam mit dem Digitalen Innovationszentrum der Stadt das Areal nebst Gebäudekomplex digital zu erfassen. Die foto- und videodokumentarische Erfassung soll in einem ersten Schritt einer digitalen Sicherung wesentlicher Gebäudebestandteile dienen. Darüber hinaus ist angedacht, daraus einen virtuellen Gedenk- und Lehrpfad zu erstellen, der der Stadt zur Verfügung gestellt wird. Daneben besteht die Möglichkeit, Schüler- und Studierendenprojekte zu diesem Themen- und Medienkomplex zu entwickeln.

Laut Christoph Wunnicke (2010) wurde die BV Neubrandenburg ab Dezember 1989 vergleichsweise leise und unspektakulär aufgelöst. Leider gibt es relativ wenig museale verwertbare Zeugnisse zu diesen epochalen Ereignissen. Die Hochschule und der Gedenkortverein wird auch diese Forschungen unterstützen. Insbesondere Zeitzeugeninterviews könnten die noch verfügbaren Erinnerungen zum Ende des Schreckens an diesem Ort bewahren helfen.

Ungeklärt sind auch die Umstände und Einbettung der BV Neubrandenburg in den „Vorsorgekomplex“. In der UHA hätten sich bis zu 300 Personen festsetzen lassen können. Die vom nationalen Verteidigungsrat der DDR geforderte Kapazität im Bezirk lag aber weit darüber. Die Größe und Gestalt des ebenso überdimensionierten „Maschinenparks“ neben der UHA, hätte die Internierung von größeren Menschenmassen zugelassen. Es ist dem lokalen Vertreter des VOS André Rohloff zu verdanken, dass die typischen Wachtürme des Areals erhalten werden konnten und seit einigen Jahren unter Denkmalsschutz stehen. Auch hierzu wird weiter recherchiert werden. Die weitere Forschung zur UHA Neubrandenburg mit Zeitzeuginnen und Aktionstagen bietet hierfür eine gute Basis und Vernetzungsmöglichkeit.

Der neugegründete Verein würde gerne anregen, anlässlich des 70. Jahrestages des 17.6. die zweiten Aktionstage vor Ort anzuberaumen. Dafür sucht er Mitstreiter:innen und Kooperationspartner:innen. Dies unterstützen auch mehrere Lehrende der Hochschule und sehen darin Potenziale für die Entwicklung der Zivilgesellschaft der Vier-Tore-Stadt Neubrandenburg. Insbesondere seit dem Angriff auf die Ukraine und der dort umgreifenden Rückkehr zu stalinistischer Gewalt (Massenvertreibungen, Scheinwahlen, gulagartige Gefängnisse etc.) bekommt die Modernität der UHA Neubrandenburg eine bedrückende Aktualität. Daher sollen vom Gedenkortverein Lindenberg auch Konzepte präferiert werden, die die Ausrichtung des Stasi-Neubaus in den Kontext der aktuellen Menschenrechtsverletzungen in Europa stellt.

Für die Vier-Tore-Stadt Neubrandenburg, die zu ihrem 775 Jahre Fest auch das Stigma einer „SED-Hochburg“ loswerden will, ist die Entscheidung für das Moratorium ein wichtiger Schritt, der eine zivilgesellschaftliche Aufarbeitung ermöglicht. Die nächsten Jahre werden zeigen, wie Gedenken an diesen neuen Ort der Erinnerung an Stasiwillkür in Neubrandenburg praktiziert werden kann.


Autoren: Fachhochschnule Neubrandeburg

 

Literatur

 

Halbrock, Christian (2021): Die Untersuchungshaftanstalt der DDR-Staatssicherheit in Neustrelitz 1953-1987. LZfpB MV, Schwerin.

Schulz, Harry (2021): Stasi-Gelände erfüllt Kriterien eines Denkmals. In: Nordkurier vom 29. März 2021, Rubrik „Lokales“, S. 8.

Wunnicke, Christoph (2010): Der Bezirk Neubrandenburg im Jahr 1989. Schwerin: Die Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. 5. Aufl.

Bentham, Jeremy (2013): Das Panoptikum (Panopticon or The Inspection-House; aus dem Jahre 1787). Aus dem Englischen und mit einem Essay von Andreas L. Hofbauer. Berlin: Matthes & Seitz.

1 Ein Veranstaltungsbericht ist unter https://zeitlupe-nb.de/sites/default/files/dateien/Bericht_ Podiumsdiskussion_DDR-Stasi-Neubrandenburg_2021_3.pdf einzusehen (letzter Zugriff: 10.11.22).

2 Eventuell so wie man in Tallin im KGB-Gefängnis, in dem man „Schrankzellen“ besichtigen kann, die ein Niedersetzen verunmöglichten und zur Arrestfolter genutzt wurden?

3 Dies bestätigt die Sichtweise von S. Schulz 2021 im Nordkurier vom 29. März 2021, Rubrik „Lokales“, S. 8, dass der Bau auch heute Kriterien eines Denkmals erfüllt.

4 Von den Trägern der Gedenkarbeit und Forschungsnetzwerken nahmen der Leiter des Forschungsverbunds „Landschaften der Verfolgung“ Dr. Christian Booß sowie Christian Halbrock vom Verein Neustrelitz Töpferstraße, zu dem seit 2021 eine vertrauensvolle Zusammenarbeit besteht, teil. Die Veranstaltung wurde vom Rektor Prof. Dr. Gerd Teschke moderiert.