Erinnern und Lernen vor Ort. „Authentizität“ als (pädagogisches) Gütesiegel

Von Verena Haug

Gedenkstätten für die Opfer der NS-Verbrechen gehören heute ebenso zu den etablierten Kulturinstitutionen der Bundesrepublik wie Gedenkstätten für die politisch Verfolgten der DDR. Beide sind fester Bestandteil des politischen und nationalen Selbstverständnisses und Ausdruck einer »demokratischen Erinnerungskultur«. Während aber die Orte der NS-Verbrechen in der alten Bundesrepublik über viele Jahre vernachlässigt und vielfältig nachgenutzt oder überbaut wurden und auch Ende der 1980er Jahre an eine weitreichende staatliche Unterstützung der NS-Gedenkstätten noch nicht zu denken war, spielten die Orte der politischen Repression, des Verhörs, der Folter und des Unrechts für die DDR-Erinnerung bereits unmittelbar nach dem Ende der DDR eine zentrale Rolle. Die gesellschaftspolitischen Erinnerungsdebatten der 1990er Jahre drehten sich nicht zuletzt um den Umgang mit dem und die Verantwortung für das materielle Erbe der DDR-Diktatur. Noch die gesamtstaatliche Verantwortung für Erinnerung an den Nationalsozialismus wurde der Bundesrepublik durch ein DDR-Erbe abgerungen: Drei Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR, Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück, wurden als bestehende Größen in die Bundesrepublik »mitgebracht« und konnten schon aufgrund ihres Maßes an Institutionalisierung und Fläche nach 1990 nicht allein den Sitzländern überantwortet werden. Damit entstand erstmals in der Bundesrepublik die Notwendigkeit, Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus aus Bundesmitteln und über einen längeren Zeitraum zu fördern. Die daraus erwachsene, 1999 in Kraft getretene und 2008 überarbeitete Gedenkstättenkonzeption des Bundes beinhaltet aber weitaus mehr als die Regelung der finanziellen Unterstützung. Sie orientiert sich im Wesentlichen an den Ergebnissen der von 1992-1994 und von 1995-1998 eingesetzten Enquete-Kommissionen zur »Aufarbeitung« und »Überwindung« von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur. Neben einem Kriterienkatalog der Förderfähigkeit formuliert sie ein neues geschichtspolitisches Narrativ.1 Für diese neue Meistererzählung, wie sie die Zeithistorikerin Cornelia Siebeck nennt, spielen die Gedenkstätten an den historischen Orten eine zentrale Rolle, denn an und mit ihnen lässt sich besonders gut und eindrücklich zeigen, welchen Stellenwert das „negative Gedächtnis“ im nationalen Selbstverständnis hat oder haben soll:2 Deutschland bekennt sich offensiv und repräsentativ zu den NS-Verbrechen und verschafft sich gerade dadurch ein positives Selbstbild, das noch dazu davon gekrönt wird, dass gleich zwei Diktaturen auf deutschem Boden überwunden werden konnten. Flankiert wurden die geschichtspolitischen Debatten von einem »Zauberwort der Gegenwart« (Sabrow/Saupe), das seit den 1980er Jahren eine beachtliche Karriere verzeichnete: dem Begriff der Authentizität.

Im Schlussbericht der Enquete-Kommission von 1998 heißt es: „Die besondere Bedeutung der Gedenkstätten liegt in der Authentizität des historischen Ortes. In der unmittelbaren Begegnung mit den sichtbaren Spuren der Geschichte lassen die Menschen diese Geschichte näher an sich herankommen und werden aufnahmebereiter für das, was an diesen Orten und darüber hinaus geschehen ist. Trauern, Gedenken und Lernen sind an diesen Orten unauflöslich miteinander verbunden.“3 In der Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 2008 wird eine noch wachsende Bedeutung der sogenannten authentischen Orte als „Zeitzeugnisse“ prognostiziert, „deren Erhalt und Sicherung“ werden als „zentrale Voraussetzungen für die historisch-politische Bildungsarbeit“ bezeichnet.4 Darin steckt die Hoffnung (oder Suggestion), Gedenkstätten könnten an Stelle der Erfahrungsgeneration durch eine räumliche Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart die Erinnerung an die NS-Geschichte wach halten.

Damit rückten nicht nur die historischen Tatorte als solche in den Blick, sondern auch ihre gegenwärtige Attraktivität für die Öffentlichkeit. Der Begriff „Authentizität“ nährt die Erwartung einer unmittelbaren Begegnung mit der Geschichte und nimmt zugleich eine Bedeutungszuschreibung aus sich selbst heraus vor. Die (geschichtspolitischen) Entscheidungsprozesse, die hinter der Gestaltung der Orte stehen,5 werden dadurch ebenso unsichtbar gemacht wie der pädagogische Aufwand, der betrieben wird, um den Orten repetitiv Bedeutung abzuringen. Die sogenannten authentischen Orte korrespondieren mit einer vorhandenen oder evozierten »Sehnsucht nach dem unmittelbaren Erleben von Geschichte«6 und suggerieren historische Erkenntnisse durch physische Begegnung und Emotion.

Auch wenn sich der hier äußernde Wirkungsglaube an die Macht des Authentischen auf die unterschiedlichen Tatorte von NS-Regime und DDR-Diktatur gleichermaßen bezieht, ist die Anmutung der tatsächlichen Orte Ende des 20. Jahrhunderts durchaus sehr unterschiedlich. Durch die eingangs erwähnte Ignoranz und politische Bedeutungslosigkeit der NS-Tatorte finden sich hier eher Spuren und Relikte, die archäologisch erst wieder sichtbar gemacht werden mussten und bei Besucher*innen von KZ-Gedenkstätten nicht selten Irritation oder sogar Enttäuschung auslösen. KZ-Gedenkstätten bieten keine filmreife Kulisse der Geschichte, sondern ringen den Besucher*innen intellektuelle Anstrengungen ab. DDR-Gedenkstätten haben hingegen häufig »eine eigene Sprache der Dinge, deren historische Echtheit […] als Alleinstellungsmerkmal besonders betont wird«7 Als »Dachau des Kommunismus« bezeichnete der ehemalige Direktor das einstige Gefängnis der Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen, um letzteres symbolisch mit dem System der Konzentrationslager gleichzustellen, seinen Anschauungswert jedoch sogar noch zu überhöhen: »Dachau ist jedoch abgerissen und in den 60ern wieder aufgebaut worden. Hohenschönhausen ist so überliefert, wie es geräumt wurde. Solche authentischen Orte müssen wir erhalten, damit sich zukünftige Generationen ein Bild von der Geschichte machen können.«, so Knabe in der Berliner Zeitung im Jahr 2000.8

Ob diese oder jene Form von Authentizität Erkenntnis oder Lernprozesse befördert, ist durchaus fraglich. In der Gedenkstätte Hohenschönhausen sollten sich die Besucher*innen zumindest viele Jahre lang nicht vor allem ein »Bild von der Geschichte« machen, sondern möglichst hautnah erleben, was Stasi-Knast bedeutete, wie er sich anfühlte, roch und klang. Dass die hohe Emotionalisierung historischer Orte starken Erlebnischarakter haben kann und für viele Besucher*innen gerade deswegen attraktiv ist, mag sein. Ob und welche Erkenntnis daraus erwächst, bleibt aber offen und ist durchaus kritisch zu befragen – auch und vor allem seitens der Institutionen und ihrer Bildungskonzepte. Dass für Lehrerinnen und Lehrer Gedenkstätte häufig Orte sind, an denen eine sinnliche Nähe anstatt der oft als Frust erlebten Distanz zur geschichtlichen Ereignissen hergestellt werden soll, die ihnen persönlich vielleicht am Herzen liegen, mag man verstehen. Didaktisch und pädagogisch ist es aber falsch, zumindest wenn man historisches Lernen ermöglichen will, das sich gerade nicht als Erfahrung von Identifikation, sondern als Erfahrung von Differenz äußert.9 In der Rede von der „Authentizität“ der Orte ist nicht nur die Vorstellung erhalten, man könne hier einem durch die Zeit unveränderten Ort begegnen und Geschichte erspüren, sondern auch die Idee, in dieser Begegnung wäre das Potenzial zur Bekehrung oder zumindest eines unmittelbaren Erkenntnisgewinns angelegt. Zu diskutieren bleibt, in welcher Weise, wann, warum und wofür Gedenkstätten geeignete Orte des Geschichtslernens sind. Um das herauszufinden, sind nicht nur kritische Betrachtungen von Selbst- und Fremderwartungen, pädagogischen Konzepten und Methoden wichtig, sondern vor allem der reflektierende Blick auf das pädagogische Handeln vor Ort. Während das Wirkungspotenzial der Realbegegnung grell überbelichtet ist, bleibt die konkrete pädagogische Arbeit vor Ort weiterhin oft im Dunkeln.

 

1 Vgl. Habbo Knoch, Geschichte in Gedenkstätten. Theorie – Praxis -Berufsfelder, Tübingen 2020, S. 77ff.

2 Cornelia Siebeck, „50 Jahre ‚arbeitende‘ Gedenkstätten in der Bundesrepublik. Vom gegenkulturellen Projekt zur staatlichen Gedenkstättenkonzeption – und wie weiter?“, in: Elke Gryglewski/Verena Haug/Gottfried Kößler/Thomas Lutz/Christa Schikorra (Hg.), Gedenkstättenpädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen. Berlin 2015, S. 19–43, insbes. S. 33–39.

3 Bundestag Drucksache 13/11000, 10.6.1998, S. 241.

4 Bundestag Drucksache 16/9875, 19.6.2008, S. 3.

5 Vgl. dazu Cornelia Siebeck, „Verräumlichtes Gedächtnis. Gedenkstätten an historischen Orten: ‚Topolatrie‘ oder ‚Orte von Belang‘“, in: Justus H. Ulbricht (Hg.), Schwierige Orte. Regionale Erinnerung, Gedenkstätten, Museen. Halle 2013, S. 25–42, hier insbesondere S. 29–31.

6 Vgl. Axel Drecoll/Thomas Schaarschmidt/Irmgard Zündorf (Hg.), Authentizität als Kapital historischer Orte? Die Sehnsucht nach dem unmittelbaren Erleben von Geschichte. Göttingen 2019.

7 Knoch 2020, S. 87.

8 www.berliner-zeitung.de/der-neue-leiter-ueber-die-gedenkstaette-hohenschoenhausen-das-dachau-des-kommunismus-li.7444

9 Juliane Brauer: Empathie und historische Alteritätserfahrung, in: dies., Martin Lücke (Hg.), Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, Göttingen: 2013, S. 75-92.